08.08.2003

Schreiben im Abteil

Da ich als nichtbezahlter Autor verhungern und als bezahlter meine Ambitionen verlieren würde, habe ich noch einen anderen Job. Dazu ist es notwendig mit der Bahn zu fahren, um zu meiner Arbeitsstätte zu gelangen.
Am Tag fahre ich so eine Stunde und zwanzig Minuten, das sind in der Woche sechs Stunden und vierzig Minuten.
Für einen Autor bedeutet das mindestens fünfzig Seiten, wenn nicht mehr.

Aber ich zog es vor, in der Bahn zu lesen und zu Hause zu schreiben bis mein Sohn das Fernsehen neu entdeckte.
Das war zu der Zeit, als er Playstation zum Babykram erklärte und nicht ständig mit dem Fahrrad unterwegs sein wollte.
Hier begann das Problem: Ich habe nur einen Fernseher mit Kabelanschluss.
Fatalerweise steht der in dem Raum mit meinem Rechner, fatalerweise hat meine Wohnung dann nur noch ein Zimmer, was meinem Sohn vorbehalten war und eine Küche, die meistens als Atelier gebraucht wurde. Fatalerweise konnte ich mich nicht mehr konzentrieren, wenn hinter mir "Ärger in Entenhausen", "Die kleinen Detektive" und Telekolleg Mathematik lief.
Am schlimmsten wurde es, wenn der Discovery-Kanal von meinem Sohn gewählt wurde - Vulkane, Tiefseeozean, Schwarze Löcher, ISS ...

Bei so etwas konnte ich meinen Protagonisten nicht sterben lassen. Und er mußte sterben, das war für die Novelle zwingend erforderlich. So schrieb ich auf altmodische Art und Weise ohne Rechner am nächsten Tag bei meiner Bahnfahrt im Abteil.
Ich war gerade an der Stelle, als mein Protagonist nach Hause kam und ich die Atmosphäre noch düsterer gestalten wollte ...

"Ist da noch frei?" , fragte mich eine nette alte und vollbepackte Dame.
Ich half ihr den Koffer zu verstauen und sie bedankte sich tausendmal mit einem strahlenden Lächeln.
Unter düster stelle ich mir etwas anderes vor.
Mir gelang es dann trotzdem, nachdem sie sich ihrer Brotzeit zuwand.

Jetzt nahm der Todeskandidat zum letztenmal das Bild seiner Geliebten zur Hand, als...
"Haben sie das schon gelesen?", unwillkürlich blickte ich auf.
Aber die mir gegenübersitzenden Reisenden meinten nicht meine Novelle.
"Da hat doch einer tatsächlich geglaubt, er könnte dieser Frau vertrauen und dann bringt sie ihn einfach um."
Das durfte nicht wahr sein.
Bitte sag es jetzt nicht!
Mein Stift rutsche über den Rand hinweg.
"Ja sie war seine Geliebte!"
Nein!
Ich strich das Wort Geliebte weg.
Ich strich den ganzen letzten Absatz und versetzte meinen Protagonisten von seiner Wohnung in...

"Hey cool!"
Ich blickte auf, die Reisenden mit der Zeitung hatten den Platz mit zwei Jungs getauscht, die nicht wohin wußten mit ihren langen Beinen.
Ich erinnerte mich an meinen Sohn, den ich dringend neue Hosen kaufen mußte. Die beiden sahen immer noch zu mir.
"Was wird das?", fragte der eine.
Ich antwortete knapp: "Eine Novelle."
"Also 'ne Geschichte!"
Bei mir kamen langsam Zweifel an jener auf.

Zwei Stationen weiter hatte ich es endlich geschafft, meinen Protagonisten sterben zu lassen.
Er fiel auf eine alte nette Dame herein, die ihn von ihren beiden Enkeln ermorden ließ...
"Geht es Ihnen gut?", fragte mich ein netter Herr, der den Platz der alten Dame eingenommen hatte, die eine Station vorher ausgestiegen war.
Als er mein Gesicht sah, reichte er mir ein Tempotaschentuch.
Das war eindeutig zuviel!
Ich stieg aus, verabschiedete mich von meiner Novelle und sah mit meinem Sohn "Donald Duck und die guten Geister" an und nahm mir vor, nie wieder in einem Bahnabteil jemanden sterben zu lassen.


[geschrieben von Gabi]

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