© der Geschichte: Nina Horvath. Nicht unerlaubt
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Vogelfrei

Melissa lag hinter einem Busch und lauschte auf die unzähligen Geräusche der Nacht. Seit sie sich auf der Flucht befand, war sie dazu gezwungen, fast wie ein Tier zu leben. Oft lief sie meilenweit und mied dabei alle menschlichen Ansiedlungen, es sei denn, der Hunger trieb sie dazu, etwas zu stehlen. Ihre Kleider hingen in Fetzen und starrten vor Dreck, ihr ganzer Körper war von Dornen zerschrammt. Trotzdem, und obwohl es nur eine Frage von wenigen Stunden, vielleicht Tagen sein konnte, bis man sie doch letztendlich faßte, trieb sie ein unbeirrbarer Wille immer weiter. Er ließ sie wieder aufstehen, wenn sie stolperte und weitertaumeln, wenn sie müde war. Melissa hörte einen Laut und duckte sich tiefer in die Büsche. Alles in ihr schrie danach, aufzuspringen und davonzulaufen, aber die Vernunft hielt sie zurück.

Melissa wußte, warum sie gesucht wurde, aber sie verstand den Grund nicht wirklich. Es hing irgendwie damit zusammen, daß sie anders war, zwar war ihr das bis zu jenem schicksalhaften Tag nicht aufgefallen, aber es reichte aus, daß man sie von der Gesellschaft fernhalten wollte.
All das schien aber weit in der Vergangenheit zurückzuliegen, es lag nur mehr als verschwommene Erinnerung irgendwo am Rande ihres Gedächtnisses. Der Rest nahm nur ein einziger Gedanke ein: Der verbissene Wunsch, zu überleben, aber auf keinen Fall so, wie man es ihr zugestand.
Das Geräusch war in ein lautes Rascheln übergegangen. Sie atmete erleichtert auf. So benahm sich keiner ihrer Verfolger, nur ein Tier, das auf Nahrungssuche war, stöberte so geräuschvoll in einem Blätterhaufen. Es mußte groß sein, da es so sorglos auf sich aufmerksam machte, aber Melissa wußte, daß es, sobald es ihre Witterung aufnahm, einen großen Bogen um sie machen würde. Viel mehr Sorgen machte sie sich wegen ihrer eigentlichen Verfolger.

Hastig durchstöberte sie ihren dünn gewordenen Rucksack. Zu essen fand sie nichts mehr, nur eine Flasche mit einem letzten Rest trüben Wassers, das sie unterwegs an einem Bach mitgenommen hatte. Es sah widerlich aus und war bestimmt voller Bakterien und vielleicht auch mit Umweltgiften verseucht. Aber sie brauchte die Flüssigkeit, um hier und jetzt weitergehen zu können, was später passierte, war egal. Sie kippte das Wasser schnell hinunter und kramte weiter. Alles, was sie sonst noch fand, war einige kleine Heftchen, die sie entgegen aller Vernunft mitgenommen hatte. Darin befanden sich Fotos aus noch glücklichen Tagen, ihre letzte Verbindung zu ihrem früheren Leben. Es waren keine besonderen oder außergewöhnlichen Bilder, sie zeigten sie selbst und einige Freunde auf Festen, Urlaubsreisen und bei anderen Anlässen, trotzdem sah Melissa alles an, als hätte sie noch nie etwas derartiges gesehen. Sie blickte um sich, direkt in die Wipfel der Bäume, auf das Moos am Boden, auf Büsche und Dornengestrüpp, auf eine verirrte Ameise, jeden Grashalm betrachtete sie einzeln. All das hatte sie früher gar nicht bemerkt, es schien, als hätten selbst die ganz einfachen und alltäglichen Dinge plötzlich an Gewicht gewonnen, so, als würde in jedem Fleckchen Erde eine eigene Welt sichtbar. Alles war plötzlich nur mehr ein kleiner Teil einer vollkommenen Schöpfung, in deren Zentrum Melissa sich jetzt mit stockendem Atem befand. Sie hatte viel verloren, im Grunde genommen alles. Aber solange sie frei war und ihr niemand ihren Sternenhimmel wegnahm und sie all diese wundervollen Dinge unter ihm erleben durfte, war sie frei. Während sie die Nacht mantelgleich in einen Schlaf auf hartem Grund einhüllte und sie träumend umfing und während die Sterne in all ihrer Unendlichkeit herabblickten, wurde ihr bewußt, was sie durch ihre Flucht gewonnen hatte.

Nur wenige Stunden später stand sie mit schmerzendem Rücken auf, aber gerade das verriet ihr, daß sie noch lebte. Sie erhob sich und als die Sonne sich in rotem und goldenem Licht hinter den Wipfeln erhob, staunte sie angesichts dieser Erhabenheit des Augenblicks.
Es war, als hätte Melissa erst jetzt, wo sie wußte, daß sie all das hinter sich lassen mußte, gelernt, klar zu sehen. Sie richtete ihren Blick staunend auf die Gegenwart, alles andere hatte an Bedeutung verloren. Es gab kein Morgen mehr.
Sie drehte sich herum und sah ihre Verfolger auf sich zukommen. Noch einmal mobilisierte sie ihre letzten Kräfte und rannte, so schnell sie konnte. Der Wald flog an ihr vorbei, aber sie kam auf rutschigen Grund, stolperte und fiel der Länge nach in den Schlamm.
Erst nach endlosen Augenblicken rappelte sie sich mühsam auf, spürte den kalten Stahl eines Maschinengewehrs im Rücken, dennoch hatte sie keine Angst mehr. Es war von Anfang an klar gewesen, daß sie es nicht schaffen konnte, aber sie hatte erreicht, was sie wollte. Ein bißchen Zeit, einige Stunden mehr, um ein letztes Mal so frei zu sein, wie es die Vögel in Gedanken der träumenden Menschen sind.

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