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Der Unwissende
Er wollte es einfach nicht wahrhaben, als er die Nachricht von
ihrem Tode erhielt. Plötzlich sah er auch in seinem eigenen Leben
keinen Sinn mehr. Bis er eines Tages auf das alte Zauberbuch stieß,
und das, was er dort las, erweckte neue Hoffnungen in ihm.
In normalen Zeiten wäre ihm der Inhalt des Buches geradezu lächerlich
vorgekommen. Doch die Verzweiflung, die schmerzvolle Trauer hatten seinen
Geist so weit verwirrt, dass er nun an die unmöglichsten Dinge zu
glauben begann. So beschloss er, das Experiment zu wagen.
Er richtete sich peinlich genau nach den Anweisungen des Buches, obwohl
es ihm manchmal undurchführbar schien. Am schwierigsten war es, die
Utensilien zu beschaffen. Schließlich jedoch hatte er alles beisammen
und konnte anfangen: Mit Beginn des Neumondes enthielt er sich, wie vorgeschrieben,
jeglicher Gesellschaft und aß täglich nur eine spärliche
Mahlzeit. Als aber das erste Mondviertel vorbei war, musste er nachts
- an einem einsamen, verschwiegenen Ort - das Blutopfer darbringen. Er
tat es, wie es das Ritual verlangte. Der getöteten Ziege zog er das
Fell ab und verbrannte den Leichnam. Gegen Sonnenaufgang verstreute er
die Asche in alle vier Himmelsrichtungen.
Danach machte er sich an die Auswahl des Zauberstabes, wobei er besonders
sorgfältig vorging: Zur vorbestimmten Stunde begab er sich in den
Wald, um von einem wilden Haselnussstrauch eine Gerte zu schneiden. Er
schnitt sie mit demselben Messer, mit dem er zuvor sein Opfer geschlachtet
hatte und an dem noch das getrocknete Blut klebte. Die Rute musste genau
neunzehneinhalb Zoll lang sein.
Am nächsten Tag ging er zu einem Schmied und ließ
die beiden Enden der Haselnussgerte mit der Eisenklinge seines Messers
beschlagen. Er verschaffte sich einen Magnetstein, erhitzte ihn und magnetisierte
damit die metallene Spitze des Stabes. Natürlich vergaß er
dabei nie die passenden Zaubersprüche aufzusagen. Und als es dann
Abend geworden war, trug er seinen Zauberstab, das Ziegenfell, einen Blutstein,
zwei Kränze aus Eisenkraut und zwei Leuchter mit Kerzen aus Jungfernwachs
zusammen. Dazu nahm er ein Feuerzeug, ein Kohlegefäß, eine
halbe Flasche Branntwein mit Kampfer versetzt und vier Nägel von
Sarge eines Kindes. Mit diesen Gegenständen schlich er in das Zimmer,
wo er sein Werk vollbringen wollte.
Als er dort angekommen war, begann er sofort den kabbalistischen Zauberkreis
zu bilden. Das Ziegenfell legte er dafür zu einem Kreis und nagelte
es mit den vier Sargnägeln auf dem Boden fest. Mit dem Blutstein
zeichnete er in den Kreis ein gleichseitiges Dreieck und schrieb das große
A, das kleine e, ein kleines a und den Namen Jehova in das Dreieck. Dann
trat er in den Kreis, stellte rechts die beiden Leuchter, links die Kränze
aus Eisenkraut auf und zündete die Kerzen an. Vor seinen Füßen
placierte er das Kohlegefäß, füllte es mit Branntwein
und entzündete es auch.
Nun ergriff er seinen Zauberstab und sprach die vorgeschriebenen Beschwörungen.
Aber als er geendet hatte, war noch immer nichts geschehen. Er wiederholte
die Beschwörungszeremonie - jedoch vergeblich! Hatte er etwas falsch
gemacht? Entmutigt legte er den Zauberstab beiseite, schleppte sich ans
offene Fenster und schaute hinunter auf die im Mondlicht liegende Parklandschaft.
Es war eine ruhige, sternenklare Nacht.
Aber, was war das? Er hielt den Atem an und lauschte.
Seltsame, verzweifelte Schreie drangen an sein Ohr, und es klang, als
kämen sie immer näher. Schon schienen sie für kurze Zeit
über den Rhododendronbüschen zu schweben. Dann wurde es wieder
still.
Bestimmt eine Eule, dachte er.
Aber als er das Fenster schließen wollte, gewahrte er eine Gestalt,
die vor dem Haus, auf dem kurz geschorenen Rasen kauerte. Es war eine
furchtbar dürre Gestalt, mit einem zerlumpten, grauen Gewand bekleidet.
Sie blickte zu ihm empor und hob drohend ihren Arm. Er sah, dass die Nägel
an ihren Fingern entsetzlich lang waren und das Licht des Mondes durch
sie hindurch schien.
Plötzlich tauchte ein ähnliches, in Lumpen gekleidetes Wesen
auf und dann noch ein weiteres. Immer mehr versammelten sich dort unten
auf dem Rasen, und alle bewegten sich mit gespenstischer Ruhe und warfen
drohende Blicke zu ihm hinauf.
Da begriff er, was er angerichtet hatte: Er hatte die Toten aus ihren
Gräbern heraufbeschworen, sie in ihrer ewigen Ruhe gestört.
Und während die grauen Gestalten in geschlossener Front auf das Haus
zu wankten, begann er zu schreien.
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