© der Geschichte: Markus Böhme. Nicht unerlaubt
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UN/tot

Sicher ich bin tot lache ich meinem Gegenüber ins Gesicht. Als ob das nicht jeder wüsste. Nicht jeder auch wäre. Und als ob ich nicht wüsste, wie sich jeder an seine vermeintliche Existenz klammert. Oh ja, ich bin tot, und sie ist es auch, trotz ihrer gespielten Überraschung und des durchschimmernden Spotts, der leicht um ihre Mundwinkel zuckt, der sich behaupten kann gegen ihren Willen. Ein wenig enttäuscht bin ich schon. Ich hätte sie für klüger, für offener gehalten. Ich hätte gedacht, sie sei mehr so wie ich. Wie ist es denn so als Engel? Jetzt ist sie es, die lacht und der verhaltene Spott ist umgeschlagen zu offener Überheblichkeit. Was habe ich mit einem Engel gemein? Die Frage scheint mir ins Gesicht geschrieben zu stehen, denn ihr Lachen versickert in einer Entschuldigung.
Plötzlich weiß ich nicht mehr, worüber ich mich mit ihr unterhalten soll, was ich ihr sagen kann und was sie auch versteht. Mein Tod ist Verachtung werfe ich vor mich hin, in der Hoffnung, auch ihr würde die Lust an weiteren Peinlichkeiten vergehen. Mein Kopf will, dass sie geht, denn es tut weh, der Unschuld ausgesetzt zu sein. Doch ich kann sie nicht gehen lassen, ich brauche sie. Trotzdem.
So schweigen wir, vermeiden es, uns anzusehen und jeder hofft, der andere findet einen guten Grund, von vorne anzufangen. So zu tun, als wäre nichts gesagt worden. Der Illusion wegen. Es gelingt nicht. Natürlich nicht. Wie bist Du denn gestorben? Ihre Augen verraten nichts, auch nicht ihre Mundwinkel. Aber ihre Hände. Ich habe mich vielleicht getäuscht. Vielleicht versteht sie mich doch. Irgendwie. Ich kann nicht sterben und ich bin es auch noch nie Das hörte sich niedergeschlagener an, als es sollte. Auch ich beherrsche meinen Körper nicht vollständig. Doch ich kann mich fangen. Fast. Trotzdem, die Verzweiflung, die immer irgendwo ganz dicht unter der Oberfläche meines Gemüts schwimmt, taucht auf. Es ist kein dramatischer Auftritt, keiner, der mich überwältigt. Aber ich bin gefangen. Ich will allein sein. Ihr Blick, nicht aufdringlich, aber doch bestimmt, ruht noch immer auf mir. Auch in ihm spiegelt sich etwas Verzweiflung. Ich kann sie aber nicht beachten. Jetzt nicht mehr. Ich ziehe mich zurück in meinen Geist, koste die Bitterkeit meiner Gedanken, leide und erfreue mich an diesen Leiden.
Sie geht. Ich ein wenig später auch.

Es ist ein absurdes Gefühl, diesen Wind in den Haaren zu spüren, die schwache Sonne auf dem Gesicht. Zu beobachten, wie sich um einen alles bewegt und schließlich auch einen selbst erfasst. Und mit dieser Bewegung kommt so etwas wie Leben in meinen Kopf, eine zarte Leichtigkeit, die mich den gestrigen Abend vergessen lässt. Für kurze Zeit. Gerade so lange, wie ich mich selbst vergessen kann, wie ich mich selbst nicht sehe. Wieder einmal zerrt die Versuchung an mir, ins Leben zu treten, das Fühlen aufzugeben, um Glück zu erlangen.
Die Pfützen, die sich infolge des kurzen Schauers gebildet haben, werfen das Licht weich zurück, auch auf mich und in mich hinein. Machen mich selbst ein wenig durchsichtig. Die zentnerschweren Gewitterwolken, die tief über mir hängen, lassen die Luft vibrieren und verleihen ihr Macht. Bereitwillig lasse ich mich von ihr gefangen nehmen, ein wenig tragen. Als ob ich eins mit ihr wäre. Als ob ich nicht sein muss.
Die Straßen sind fast leergefegt, es ist, als gehöre mir die Welt. Ich weiß, dass ich mit ihr nichts anfangen kann, doch das schiebe ich zur Seite. Darauf kommt es jetzt nicht an. Auf nichts kommt es gerade an. Nur auf den Augenblick. Ein kurzer Blick in mein Portemonnaie offenbart mir 50 Mark. Die letzten 50 Mark für diesen Monat. Ein perfekter Moment, sie loszuwerden. Ich kaufe ein Buch. Angenehm schlägt es jeden zweiten Schritt an die Seite meines Beins, angenehm zieht das Gewicht an meinem Handgelenk.

Zu Hause lege ich es auf den Stapel anderer Bücher, die ich ebenfalls gern lesen würde, wohl aber nie richtig lesen werde. Gelegentlich staple ich sie um, befühle jedes, blättere in ihnen, um die Seiten zu spüren. Dieses ist ein gutes Buch. Mit seinen fast 500 Seiten besitzt es genau soviel Präsenz, wie ein Buch haben sollte, ohne zur Last zu werden, ohne einen zu verschrecken mit der Seitenweise aufgehäuften Weisheit von jemandem, der beim Schreiben arbeitet. Ich prüfe den Einband, gut, er ist nicht anfällig für hässliche Knickfalten. Bücher dürfen nicht schief werden beim Lesen, man darf ihnen nicht ansehen, das man sich gelegentlich an ihnen festhält. Nicht jetzt, aber gelegentlich. Da ich nicht so recht weiß, wohin ich mit mir soll, setze ich mich auf den Sessel. Es ist vorbei. Ich kann wieder ICH sagen, der Ausflug in das, was man Leben nennt, ist beendet. Wie immer schwingt ein bisschen Wehmut mit in diesem Abschied. Süß.

Ein wenig zäh verrinnt die Zeit, wie sie es gern zu tun pflegt, wenn man sie beachtet. Irgendwo in mir drin muss so etwas wie Hoffnung geschlummert haben. Ich habe sie erst bemerkt, als ich mich zwang, mir bewusst zu machen, dass es nicht klar war, dass sie wieder anrufen würde. Ich hatte eigentlich gar nicht mehr an sie gedacht, seit diesem Abend, zumindest habe ich mir eingeredet, nicht an sie zu denken. Doch sie war da, in mir drin. Wieso können sich Menschen so einfach in jemanden einschleichen? Ich kann es mir selbst eingestehen, ich habe Angst vor diesem Treffen, mehr, als ich bei dem Letzten hatte. Ich habe von meiner Souveränität verloren. Vielleicht sollte ich ihr erzählen, wie wenig ich verstehe. Was die Menschen so machen und wie zufrieden sie sein können. Wie ich zwischen Neid und Verachtung hin und her gerissen bin. Je nachdem, wie sicher ich mir meiner selbst bin.

Ein Engel, vielleicht bin ich das. Keiner mit blonden Locken und einem Nachthemd, das nicht. Aber wer weiß schon, wie Engel aussehen? Das ist doch nicht das Wesentliche an ihnen. Wenn ich ein Engel bin, was mache ich dann hier? Engel sind nicht an die Erde gebunden, wie ich es bin. Kein Wunder, das ich mich so fremd auf ihr fühle. Und so unsicher.
Wenn der Mensch verstehen könnte, was ein Engel meint, dann wäre er selbst einer. Und wenn ein Engel unter die Menschen träte, sie würden ihn verstoßen. Weil er ihnen nur ihre Illusionen rauben könnte, die Illusion ihrer Wichtigkeit. Kann ich das? Ich bin mir nicht sicher. Mir habe ich sie geraubt. Wenn ich ein Engel sein sollte, dann hat sich die Kirche gründlich geirrt. Klar und rein kann ich mich nur fühlen, wenn ich kein Engel bin, so wie vorhin. Sind sie von einem hellen Gleißen umgeben? Ich mag kein Licht. Kein zu grelles. Keines von der Sonne, welches direkt auf meine Augen trifft. Es dringt mir immer direkt in den Schädel, als wolle es ihm von innen auseinanderreißen. Vielleicht bin ich ein gefallener Engel. Auf die Erde gefallen. Ziemlich tief.

Der zweite Pott Kaffee. Ich nehme nur einen kleinen Schluck, da er noch heiß ist. Bitter liegt er mir auf der Zunge. Ich kann das Gift in ihm rausschmecken, trotz der fast tauben Zunge. Ich habe sie mir am ersten verbrüht. Doch der Kaffee ist in meinem Körper. Im Bauch spüre ich ihn ganz deutlich, er krempelt ihn gerade um. Das ist gut so, denn so vertreibt er das flaue Gefühl, das sich seit Mittag unweigerlich in ihm hält. Essen habe ich noch nicht gekonnt, schon der Gedanke daran provoziert ein Ekelgefühl im Kopf. Schnell den nächsten Schluck in den Mund und von dort in den Magen. Von den Seiten schieben sich graue Schatten in mein Sichtfeld und obwohl ich starr nach vorne sehe, verschwimmt die Welt vor mir. Als drehe sie sich ohne mich. Ich sollte sie schließen, um nur noch das schnelle, aber regelmäßige Pochen meines Herzens zu spüren. Doch auch es rast einmal vor Erwartung und setzt kurz aus vor Zweifel.
Ich sollte nicht so viel Kaffee trinken, ich weiß.

Ich habe überlegt, ob ich anrufen sollte. Irgendetwas vorschieben, um mich heute Abend in mir selbst vergraben zu können. Wenn ich sagen würde, dass mir schlecht ist, würde ich nicht einmal lügen. Ich weiß, das ich es nicht tun werde, doch der Gedanke, das ich könnte, mich aber dagegen entscheide, gibt mir ein wenig meine Sicherheit zurück. Jetzt will ich sie heute Abend sehen, und muss es nicht nur. Heute Abend.

Die Wolken sind aufgezogen, und der Tag zeigt sich in seiner gesamten, schmerzenden Helligkeit. Und mit ihr schwärmen auch die Menschenmassen wieder durch die leicht dampfende Straße. Jedem ist so etwas wie ein Lächeln oder Grinsen ins Gesicht geschrieben und nur die starren Augen verraten, das es aus Routine ist. Nicht einmal, wenn sie angerempelt werden, hören sie auf zu lächeln, es wird sogar noch breiter, als wollten sie damit sagen, dass sie sich heute nicht ärgern lassen. Warum, weiß keiner. Ein Haufen Verwirrter und ich mittendrin. Überraschender Weise leiht mir der Geldautomat etwas von dem buntbedruckten Papier, das ich heute Abend benötigen werde. 50 Mark. Mehr abzuheben versuche ich gar nicht erst. Damit sieht es so aus, als hätte ich nie Geld ausgegeben. Das Buch ist jetzt so was wie ein Gewinn. Ein sehr gutes Buch. Jetzt ist es auch von dem Schatten des Erkauften befreit. Ich werde gleich, wenn ich wieder in meinem Heim bin, einen Blick hineinwerfen.

Ihr warmer Atem in meinem Mund schmeckt noch ein wenig nach dem Bier, das vor ihr steht. Doch vielmehr schmeckt er nach etwas leicht süßem, mit ein wenig Salz. Und er flimmert leicht, wie auch ihr Hals, den ich in meinen Händen halte. Ein Pulsieren, das ich auf meiner Haut niemals spüren kann. Ich versuche, den Augenblick zu genießen, zu ignorieren, dass ich nicht wirklich gefunden habe, wonach ich suchte. Etwas ähnliches, vielleicht, aber nicht das, was ich suchte. Ich sauge ihn in mich auf, versuche, ihn zu meinem zu machen. Mich von ihrer Aufgeregtheit anstecken zu lassen. Ihr etwas von ihrem Leben zu stibitzen.

Vielleicht bin ich ein Engel, einer mit ein wenig spitzen Zähnen.

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