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Über den Tod hinaus...
Der Gong klang leise durch die Tür. Günter wußte nicht, ob jemand
zuhause war, aber von der Straße aus schien es, als würde Licht in den Park
hinter dem großen Haus fallen. Außerdem hatte er keine Wahl - es war das einzige
Anwesen weit und breit. Während er mit den Füßen stampfte, um die Kälte aus
den Schuhen zu vertreiben, sah er sich um. Unten auf der Landstraße, etwa
hundert Meter entfernt, sah er den Schatten seines Wagens im Mondlicht. Im
Inneren glimmte es immer wieder auf, wenn Ursula an ihrer Zigarette sog. Günter
verfluchte seine Leichtsinnigkeit - er hatte sich nie um Dinge wie ein Reserverad
gekümmert. Jetzt rächte sich das.
Er wollte schon ein zweites Mal läuten, als er Schritte hörte. Jemand schaltete
das Licht ein, und Günter stand plötzlich im strahlenden Schein einer altmodischen
Laterne, die über der Tür hing. Ein Schlüssel drehte sich, dann klappte die
Tür auf. "Entschuldigen Sie bitte die späte Störung! Mein Name ist Weiding,
mein Auto hat eine Panne. Dürfte ich Ihr Telefon benutzen?"
Noch während er sprach, musterte Günter sein Gegenüber. Der grauhaarige Mann,
der in dem hellen Viereck der Tür stand, sah ihn aus kleinen, glänzenden Augen
lächelnd an. Auf seinen faltigen Wangen lag ein rosiger Schimmer.
"Kommen Sie doch herein, bitte!" Die tiefe Stimme des alten Mannes klang heiser.
"Danke!" Mit einem letzten Blick zurück trat er ein. Sofort umfing ihn wohlige
Wärme. "Es tut mir leid, daß ich Sie so spät..."
"Keine Ursache!" unterbrach ihn der Alte und winkte ab. "Es ist ja wohl selbstverständlich,
daß ich helfe. Bitte," - er zeigte auf einen kleinen Tisch neben der Eingangstür,
- "dort steht das Telefon!"
Günter nickte dankend, trat zu dem Gerät und wählte die Nummer seines Autofahrerclubs.
Während er wartete, betrachtete er seine Umgebung näher. Der Vorraum war riesig,
wie es in einem so großen Haus nicht anders zu erwarten gewesen wäre. Links
und rechts gingen mehrere Türen ab, geradezu führte eine pompöse Treppe, die
sich auf halber Höhe teilte, in das obere Geschoß.
Die Einrichtung, die jeden Antiquitätenhändler in Verzückung versetzt hätte,
wirkte auf Günter deprimierend. Die dunklen, schweren Möbel der Garderobe
hatte der Alte wohl von seinen Großeltern geerbt. Von der Decke hing ein plumper
Kronleuchter. Ein präparierter Deutscher Schäferhund und mehrere ausgestopfte
Vögel, die auf Ästen an den Wänden über den Türen saßen, gaben dem Raum eine
unheimliche Ausstrahlung. Günter mochte keine ausgestopften Tiere. Er hatte
das schreckliche Gefühl, daß die Glasaugen sehen
konnten.
Als am anderen Ende der Leitung endlich eine gereizte Männerstimme ertönte,
setzte Günter rasch seine Meldung ab. Er wollte schnell wieder hier raus.
Obwohl der alte Mann freundlich wirkte und das Haus nach Lebkuchen und Kerzen
duftete, fühlte er sich hier unwohl. Die toten Tiere ringsum ließen ihn schaudern.
Er wollte sich nur bei dem alten Mann bedanken und gehen, aber dieser hielt
die dargereichte Hand fest. "Bleiben Sie einen Moment! Hier ist es wenigstens
warm. Möchten Sie einen Glühwein?"
"Nein, danke, ich möchte nicht weiter stören..."
"Aber, aber, junger Mann, Sie stören doch nicht! Ganz im Gegenteil. Meine
Martha und mich besucht niemand - wir haben einfach niemanden mehr. Außer
unseren Freunden hier." Er zeigte auf die Tiere. "Ich war früher Präparator.
So konnte ich mit meinem Hasso auch über seinen Tod hinaus zusammen bleiben."
Seine Rechte klopfte dem Hund auf den Kopf. "Und nicht nur mit ihm!"
Günter verspürte immer stärker den Wunsch, zu gehen. Er empfand fast Mitleid
mit dem alten Ehepaar, das hier ohne jeden Freund, außer ein paar toten Tieren,
lebte. Es mußte schrecklich sein, niemanden zu haben, der wenigstens zum Weihnachtsfest
kommen konnte. Er dachte plötzlich ganz anders über die lästigen Familienzusammenkünfte,
die jedes Jahr das Fest zu einer Rundreise von einem Verwandten zum anderen
werden ließen. Die Alternative wäre wahrscheinlich ein Leben wie das dieser
Leute.
"Machen Sie mir eine Freude und sagen Sie meiner Frau guten Abend." Der alte
Mann drehte sich um und ging zu einer der Türen.
Günter wollte zurück zu Ursula, aber er wollte auch eine Gegenleistung für
die Hilfe erbringen. Ich sage ihr schnell Hallo,
dachte er sich, und dann verschwinde ich. Er folgte dem alten Mann.
Das riesige Zimmer war grauenhaft. Zwischen finsteren, uralten Möbeln und
ausgestopften Kadavern stand eine mit goldenen und roten Kugeln geschmückte
Weihnachtstanne. Der weihnachtliche Duft überlagerte nur wenig den muffigen
Geruch der schweren Vorhänge, Teppiche und Sesselschoner.
Vor dem hell erleuchteten Baum saß die Dame des Hauses in einem schweren Ohrensessel.
Das düstere Möbelstück stand mit der Lehne zur Tür, so daß Günter nur eine
schmale Hand sehen konnte.
Der alte Mann trat seitlich an den Sessel heran und beugte sich vor. Seine
Hand legte sich auf ihre. "Martha, Liebes, wir haben einen Gast. Er möchte
dir nur kurz einen guten Abend wünschen."
Günter war in der Tür stehengeblieben. Sein Herz klopfte laut. Wie lebten
diese Menschen nur? Umgeben von Vergangenheit und Tod... Trotz der vielen
Kerzen wirkte das Zimmer finster, unheimlich und abstoßend. Es kostete ihn
Überwindung, einzutreten. Der alte Mann erhob sich wieder und winkte ihn zu
sich. Vorsichtig trat Günter näher. Mit jedem Schritt verstärkte sich sein
innerer Widerstand gegen diesen Raum.
Günter trat um den Sessel herum. Die zarte Gestalt der weißhaarigen, blassen
Frau versank in dem klobigen Möbelstück. Sie hatte den Kopf wie im Halbschlaf
gesenkt, aber ihre Augen starrten auf einen Punkt irgendwo vor ihren Füßen.
Günter beugte sich leicht vor. "Guten Abend, gnädige...", begann er.
Doch plötzlich prallte er zurück. Der Blick seiner schreckgeweiteten Augen
irrte durch den Raum, sprang zwischen den gläsernen Augen ausgestopfter Tiere
umher und zurück zu der Frau. "Oh, mein Gott!" flüsterte er tonlos.
Dann stürzte er aus dem Zimmer, verfolgt von dem verwunderten Blick des alten
Mannes, rannte durch den Vorraum, riß die Haustür auf und flüchtete in die
Nacht. Vor seinen Augen sah er den Blick der alten Frau.
Den Blick zweier starrender Glaskugeln in einem toten Gesicht...
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