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Schattenwelt
Es ist zum Verrücktwerden.
Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber ich verliere
täglich an Substanz. Nicht im physischen Sinne! Nein wenn ich auf
die Wage steige, zeigt die genau dieselben zweihundertzehn Pfund an wie
noch vor einem halben Jahr, als noch alles normal war. Und wenn ich mit
dem Kopf an einen zu niedrigen Türstock knalle, tut das noch genau
so weh wie früher.
Mein Problem ist, dass mich meine Umwelt nicht mehr wahr nimmt. Pol, der
den Schreibtisch mir gegenüber hat, schaut jetzt gerade in meine
Richtung und bohrt andächtig in der Nase. Doch ich bin überzeugt
davon, dass er sich meiner Anwesenheit nicht bewusst ist. Es ist, als
würde er durch mich hindurch den Gummibaum in meinem Rücken
fixieren. Und ich bin mir sicher, wenn nachher Hank, der Chef, seine Runde
dreht, wird er stirnrunzelnd meinen eingeschalteten Computerbildschirm
betrachten und dann Pol fragen: " Hallo, wie geht's? Haben sie heute Charlie
schon gesehen?". Und Pol wird wie immer in den letzten Wochen Stein und
Bein schwören, nein, er habe mich nicht gesehen, ich müsse aber
im Haus sein. Mein PC sei ja in Betrieb und die Akte Steinmann hätte
ich ja auch schon bearbeitet.
Vermutlich wird Hank dann sagen, wenn ich auftauche, dann solle ich zu
ihm ins Büro kommen. Und ich sitze daneben und versuche durch wildes
Armerudern und Dazwischenreden auf mich aufmerksam zu machen. Und sie
werden mich beide nicht wahrnehmen.
Dabei bin ich nicht im eigentlichen Sinne unsichtbar, ich habe das überprüft.
Ich sehe nach wie vor mein eigenes Bild im Spiegel. Und, wäre ich
unsichtbar und würde ich mich zur Rush-Hour mitten auf den Gehsteig
der Mainstreet stellen, die Leute müssten mich eigentlich in Scharen
anrempeln oder umrennen. Aber nein, man nimmt mich als Hindernis durchaus
wahr, so wie man einen Hydranten oder einen Laternenpfahl wahrnimmt. Man
bemerkt ihn aus den Augenwinkeln, weicht ihm aus um nicht gegen ihn zu
prallen und hat ihn im selben Moment wieder vergessen.
Es ist nicht so. dass ich für meine Mitmenschen nicht existent wäre.
Für unsere Buchhaltung existiere ich als Abrechnungsnummer und mein
Gehaltsscheck kommt regelmäßig. Ich existiere auch für
die Stempeluhr am Werkstor, für Hank, meinen Chef , für Pol,
meinen Kollegen oder für Alyssa, meine Lebensabschnittspartnerin.
Ich kann mit Pol kommunizieren, wenn ich zum Telefon greife und über
zwei Schreibtische hinweg mit ihm telefoniere oder ihm auf die selbe Distanz
eine E-Mail schicke. Er antwortet dann regelmäßig und folgerichtig,
aber seine erste Frage ist immer "Hallo Charlie, wo treibst Du dich grade
rum?"
Wenn der Zustand schlagartig eingesetzt hätte, ich wäre wohl
durchgedreht und hätte mich von der Dachterasse unseres Bürohochhauses
in die Tiefe gestürzt. Aber es begann langsam und schleichend wie
eine jener progressiven genetischen Krankheiten, gegen die die Medizin
bis heute kein Mittel gefunden hat. Zuerst bemerkte ich, dass die Leute,
mit denen ich zu tun hatte, sichtlich Schwierigkeiten hatten, sich im
Gespräch auf mich und meine Beiträge zu konzentrieren. Im Laufe
von Wochen entglitt ich jedoch ihrer Wahrnehmungsfähigkeit zusehends,
ähnlich wie wenn im Kino stufenlos von der einen Szene zur anderen
übergeblendet wird, nur langsamer: Obwohl für einen kurzen Zeitraum
die alte Szene noch präsent ist, sie wird von der neuen überlagert
und deshalb nicht mehr wahrgenommen.
Als ich registrierte, dass ich ein ernsthaftes Problem habe, versuchte
ich, einen Psychiater zu konsultieren, aber es war wohl zu spät.
Während der ersten drei Sitzungen nahm er noch mühsam Kenntnis
von mir, zu Beginn der vierten musste ich miterleben, wie er über
die Sprechanlage zu seiner Sprechstundenhilfe sagte : "Mister Dierksen
wird wohl nicht mehr kommen, wann ist der nächste Patient vorgesehen?"
Und das, obwohl ich es mir bereits auf seiner Couch bequem gemacht hatte.
Dass ich ganz ausgeblendet war, bemerkte ich an zwei Ereignissen: Das
eine spielte sich zu Hause ab, die andere in der Firma.
Es war früh morgens gegen halb sieben, Alyssa und ich waren im Bad.
Sie räkelte sich unter der Dusche während ich mich rasierte.
Albern, wie ich nun manchmal bin, griff ich am Duschvorhang vorbei und
kniff Alyssa in ihren knackigen Hintern. Sie quiekte zornig und schob
ärgerlich den Handtuchhalter beiseite, an dem sie meinte, sich gestoßen
zu haben. Einige Minuten später betrachtete sie ihren gutgebauten
Körper selbstgefällig vor dem Spiegel, nachdem sie sich abgetrocknet
hatte. Ich stand hinter ihr, griff über ihre rechte Schulter, nahm
ihren Lippenstift und schrieb "I love you" auf den Spiegel. Sie schien
es nicht zu bemerken, drehte sich unter meinem ausgestreckten Arm weg,
zog ihren Bademantel an und verschwand im Schlafzimmer. Ich war verblüfft,
beendete aber zunächst mal meine Morgentoilette wie gewohnt. Alyssa
kam nach einigen Minuten fertig angezogen wieder ins Bad, ohne mich jedoch
eines Blickes zu würdigen. Jetzt allerdings entdeckte sie die Lippenstift-Schrift
auf dem Spiegel, lachte laut und setzte ihrerseits ein "Love you too"
darunter und verschwand.
Mir wurde schlagartig klar, dass sie meine Anwesenheit nicht zur Kenntnis
genommen hatte.
Am selben Tag im Büro. Pol war auf Außendienst, sonst hätte
ich wahrscheinlich sofort bemerkt, dass nichts mehr war wie vorher. Gegen
elf Uhr rief mich Hank an und forderte mich auf, eine bestimmte Akte sofort
zu ihm zu bringen. Ich machte mich gleich auf den Weg. Clara, Hanks wasserstoffsuperoxydblonde
Vorzimmerzicke war nicht anwesend und die Tür von Hanks Büro
stand offen. So ging ich direkt durch zu ihm und legte ihm den Ordner
auf den Tisch.
Hank nahm keine Notiz von mir, bemerkte aber nach einigen Sekunden den
Aktenordner, zog ihn zu sich heran und sah die Akte durch. Zuerst hielt
ich sein Verhalten für eine neue Art von Mobbing, musste mich aber
in meiner Einschätzung korrigieren, als nach einigen Minuten Clara
auftauchte. Hank rief sie herein. Clara schwebte herein, schloss die Tür
zum Vorzimmer hinter sich umrundete mich und Hanks Schreibtisch, baute
sich neben dem Chef auf und beugte sich so weit zu ihm herunter, dass
seine Nase fast zwangsläufig in ihrem gefährlich geschnittenen
Dekolleté verschwinden musste. Hank hatte plötzlich Schweißperlen
auf der Stirn, quetschte aber noch diesen Satz heraus: " Das hier ist
endlich mal eine Dokumentation, wie ich sie mir vorstelle. Sag Charlie,
dass ich sehr zufrieden mit ihm bin, wenn Du ihm die Akte zurückbringst."
"Aber sicher doch, Hankylein", flötete Clara und machte sich ungeniert
an Hanks Hose zu schaffen, "aber nicht jetzt gleich, es ist jetzt gleich
Mittag und die Firma ist so gut wie leer. Da werde ich mir doch die Gelegenheit
nicht entgehen lassen"
Ich stand die ganze Zeit mit dabei und begriff nur langsam, dass ich für
die beiden augenscheinlich nicht existent war. Ein Weilchen wagte ich
mich nicht zu rühren, kam dann aber zu dem Schluss, dass wenn sie
meine Anwesenheit nicht bemerkten, dass ihnen dann auch mein Abgang verborgen
bleiben würde. Sie waren selbst ohne meine Besonderheit zu beschäftigt,
um etwas aus ihrer Umgebung zu registrieren. Na, immerhin, eine Erkenntnis
hatte ich aus der Sache gewonnen. Es stimmte was jeder in der Firma munkelte
und keiner genau wusste. Hank bummste Clara! Oder eigentlich umgekehrt!
Naja, vielleicht konnte man die Erkenntnis noch mal zu was gebrauchen.
Ich kann Clara nun mal nicht leiden.
In den letzten Monaten habe ich ausgetestet, was denn mein Zustand für
Vor -und Nachteile mit sich bringt.
Ein Nachteil ist sicher das mit Alyssa. Sie weiß zwar das es mich
gibt, aber sie weiß nicht, wann ich anwesend bin. Sie ist der Auffassung,
ich sei auf längerer Geschäftsreise oder was auch immer. Ich
kommuniziere mit Ihr per Post und per E-Mail. Anfangs habe ich gedacht,
sie müsste doch auf die richtige Idee kommen, wenn sie morgens mein
Frühstücksgeschirr mit abräumt oder mein zerwühltes
Bett macht. Aber dem ist nicht so. Es ist grade so, als würde sie
das zweite Gedeck nicht bemerken.
Mit der körperlichen Liebe ist das auch so eine Angelegenheit. Wie
schläft man mit einem, der nicht anwesend zu sein scheint? Anfangs
habe ich es einige mal versucht, das heißt, ich musste sie mehr
oder weniger vergewaltigen. Als ich dann l ein Gespräch zwischen
Alyssa und ihrer Freundin Karen mitgehört habe, in dem meine Partnerin
erzählte, sie habe davon "geträumt" mit mir geschlafen zu haben,
war dann die Lust zu weiteren Versuchen schlagartig weg.
Ein weiterer Nachteil meines Zustandes ist, dass ich im Grunde nicht krank
werden darf. Wie soll ich einen Arzt konsultieren, der mich nicht bemerkt?
Und auf Ferndiagnosen via Telefon oder Internet mag ich mich nicht verlassen.
Ein Vorteil meiner Besonderheit ist sicher, dass ich eigentlich nicht
mehr arbeiten bräuchte. Ich kann für meinen Lebensunterhalt
ohne weiteres im Supermarkt Waren aus dem Regal nehmen und unbemerkt an
der Kasse vorbei gehen. Selbst wenn die eine Alarmanlage haben, dann legt
die zwar los, aber die Kassierein hält das für eine Fehlfunktion.
Schlimmstenfalls verdächtigt sie den Kunden vor oder nach mir an
der Kasse.
Ich könnte im Grunde genommen auch in einer Kneipe ganz ungeniert
in die Kasse greifen, aber wozu? Keiner käme auf die Idee, von jemanden
Bares zu wollen, von dessen Anwesenheit er keine Ahnung hat. So gesehen
macht auch ein Banküberfall keinen Sinn. Angenommen, ich schiebe
dem Kassierer einen Zettel durch seinen Ausgabeschlitz "Dies ist ein Überfall,
Geld raus", so würde der im günstigsten Falle die Tüte
mit dem Moneten dem verwegen aussehenden Typen aushändigen, der schräg
hinter mir steht und keine Ahnung hat, wie ihm geschieht. Dass in so einer
Bank Videoaufzeichnungen gemacht werden, dass die Technik nicht die Schwäche
des Nichterkennens hat und dass ich damit als Täter identifiziert
werden könnte, würde der Polizei gar nichts nützen. Ich
könnte mich in aller Ruhe in das Büro des ermittelnden Kommissars
setzen, er würde mich überall suchen, nur nicht in seiner nächsten
Umgebung.
Ein weiterer Vorteil, den ich allerdings weidlich ausnutze, ist die Möglichkeit,
sich mit kleinen, aber wirksamen Gemeinheiten für Dinge zu rächen,
die mich schon immer geärgert habe, und bei denen ich früher
nicht gewagt habe aufzumucken. So habe ich der zickigen Clara nach einer
ihrer Sonderschichten bei Hank einen Riesenknutschfleck am Hals verpasst,
und zwar so, dass in jeder sehen musste. Die Angelegenheit war so offensichtlich,
dass Claras Stellung in der Firma für einige Zeit ziemlich angeschlagen
war. Hank, der ja eigentlich als einzige Verursacher in Frage kam, trug
es mit Fassung.
Letzte Woche habe ich dem Typen, der neuerdings Alyssa belästigt,
das Nasenbein gebrochen. Als ihn der behandelnde Arzt gefragt hat, wie
das denn passiert sei, hat er Stein und Bein geschworen, er wäre
aus Unachtsamkeit gegen eine Schrankecke geknallt. Überhaupt passieren
dem Kerl jede Menge so kleine Unannehmlichkeiten, seit er Alyssa nachsteigt.
Eigenartigerweise werde ich von niemand vermisst. Hank beispielsweise
wundert sich nicht im Geringsten darüber, dass er mich eigentlich
schon monatelang nicht mehr bei der Arbeit als körperlich anwesend
registriert hat. Ihm genügt völlig, dass ihm regelmäßig
ein Ergebnis meiner Arbeit vorgelegt wird. Nicht einmal Pol, dessen dümmlicher
Blick mich Tag für Tag zu durchdringen scheint, vermisst mich. Offensichtlich
reicht eine gelegentlich hinterlassene Nachricht für ihn völlig
aus, um ihn nicht auf abwegige Gedanken zu bringen.
Jetzt ist Mittagspause. Schräg gegenüber unserer Firma ist ein
kleiner Park, und dort sitze ich jetzt auf einer Bank und verzehre zwei
Hotdogs, die ich vor einigen Minuten drüben an Robbies Imbissbude
geklaut habe. Ich mag Hotdogs nicht besonders, aber der Eintopf in der
Firmenkantine sah heute wieder einmal aus wie schon einmal gegessen und
vorverdaut.. Ich denke, wenn Cookie sich den Eintopf aus dem Gesicht gewischt
hat, wird er sich wundern, wie er zu der kleidsamen Cromargan- Kopfbedeckung
gekommen ist.
Auf der anderen Seite des Parkweges etwa zwanzig Meter weiter links ist
noch eine Bank. Dort sitzt eine knackige Brünette mit Modellmaßen.
Vermutlich einsachtzig groß, jede Menge Rundungen da, wo sie hingehören.
Eine knappe weiße Bluse, unter der Brust zum Knoten gebunden, lässt
einen Blick auf einen reizenden Nabel frei. Schwarzer Minirock und Riemchensandaletten
ganz unten an den endlos langen Beinen komplettieren die Garderobe. Eigentlich
eine Frau, nach der sich die Männer scharenweise umdrehen und hinter
ihr herpfeifen müssten. Aber, sie scheint ein gemeinsames Problem
mit mir zu haben: Es scheint sie niemand wahrzunehmen.
Ich beobachte sie schon seit einigen Tagen. Sie kommt immer kurz nach
mir, setzt sich dort drüben hin, kramt ein Buch aus ihrer Umhängetasche
und liest einige Seiten. Dabei raucht sie in einigem Abstand zwei Zigaretten.
Ab und zu blickt sie auf, lässt den Blick durch die Gegend schweifen,
sieht zu mir her, scheint mich zu fixieren und versenkt ihn dann wieder
in ihrem Buch. Am Anfang habe ich es eher für zufällig gehalten,
dass sie zu mir hrübersah, ich weiß ja, dass ich für die
Anderen so gut wie nicht existent bin. Aber irgendwie scheint das mit
ihr anders zusein.
Gestern hab ich nachgezählt. Einundfünfzig Leute sind an ihr
vorbeigegangen ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Der Inline-Skater
der sonst um diese Zeit hier sein Unwesen treibt, hat ihr fast die bezaubernden
Beine abgefahren. Er ist heute nicht da, was mich nicht wundert. Als er
mir zu nahe kam, hab ich ihn ein wenig angerempelt, und jetzt kuriert
er wohl sein gebrochenes Schlüsselbein aus. Die Brünette auf
der anderen Seite hat den Vorfall registriert und mit breitem Grinsen
quittiert.
Jetzt angelt sie aus ihrer Tasche eine Zigarette, die erste heute. Sie
kramt in ihrer Tasche, sucht wohl nach dem Feuerzeug. Nach kurzer Zeit
gibt sie auf und betrachtet die Zigarette zwischen ihren Fingern mit entsagungsvollem
Blick. Ein Bobtail-Besitzer kommt mit seinem Hund den Weg herunter, eine
brennende Kippe zwischen den Lippen. Als er auf ihrer Höhe ist, macht
sie Anstalten, ihn anzusprechen, aber er geht vorbei ohne sie zu beachten.
"Na", denk ich, "einen Versuch ist es wert". Ich krame mein Feuerzeug
aus der Hosentasche und gehe zu ihr hinüber. Ich setze mich neben
sie und halte ihr das Flämmchen vor die Nase "Bitte".
Sie zündet ihren Glimmstängel an und inhaliert tief. "Danke".
Dann sieht sie mir voll ins Gesicht, und seit mehr als einem halben Jahr
habe ich das erste mal das Gefühl, dass ich auch bewusst gesehen
werde. " Ich habe schon geglaubt, sie finden den Weg zu uns überhaupt
nicht mehr", sagt sie mit breitem Grinsen. "Willkommen in der Schattenwelt.
Gehen wir? Man wartet schon auf uns!"
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