© der Geschichte: Matthias Weidemann. Nicht unerlaubt
vervielfältigen oder anderswo veröffentlichen. Alle Rechte
dieses Werkes liegen bei dem Autor. Diesen Disclaimer bitte
nicht entfernen


Nebel

Kohl, der Geruch von Kohl durchdrang die Wohnung. Aufdringlich, stechend war er allgegenwärtig. Durch das Fenster schlich ein fahler Schimmer, ein diffuses Geflecht aus grob gewebtem Stoff. Gerbers altersbefleckte Hand tastete nach der Fernbedienung. Ein schmaler, pergamentener Finger drückte auf einen Knopf. Nichts geschah. Gerbers Mund entrang sich ein leises Stöhnen.

Nach wie vor lag er flach auf dem Rücken. Der Mechanismus des Bettes, der seinen Oberkörper in eine aufrechte Position hätte rücken sollen, reagierte nicht. Gerber hob eine Hand vor sein Gesicht. Die Armbanduhr war um drei Uhr stehengeblieben. Ob morgens oder abends, vermochte er nicht zu sagen. Jegliches Zeitgefühl war ihm abhanden gekommen. Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte. Seltsame Traumgebilde hallten in seinem Unterbewußtsein nach, wie der ersterbende Klang ferner Glocken. Ihn fror. Gerber holte tief Luft, sammelte seine Kräfte und stützte sich mit den Ellenbogen ab. Es gelang ihm, sich halbwegs aufzurichten. Sein Blick fiel auf das Fenster gegenüber dem Bett. Die Vorhänge waren noch zurückgezogen, so wie der Pfleger sie auf seinen Wunsch hin gelassen hatte, als er sich abends von Gerber verabschiedet hatte. Gerber starrte angestrengt auf das Fenster. Es war ihm unmöglich zu unterscheiden, ob es Tag oder Nacht war. Zu diffus war der Schimmer, der noch immer in der Wohnung hockte, gleich einem Tintenfisch, der unschlüssig war, welche Farbe er denn nun annehmen sollte. Gerber sah sich im Zimmer um. Der kleine Tisch neben dem Bett, die Blumen darauf, der Stuhl mit den Zeitungen und Magazinen. Alles hatte das gleiche, undefinierbare Grau angenommen. Scharf sog Gerber die Luft ein und verzog angewidert das Gesicht. Der Kohlgestank schien an Intensität noch zugenommen zu haben. Langsam merkte er, wie das Blut in seinen Adern zu zirkulieren begann. In seinen Armen breitete sich ein unangenehmes Kribbeln aus. Mit feinen Nadelstichen signalisiertem ihm seine Nerven, daß sie im Begriff waren, ihre angestammten Aufgaben zu übernehmen. Am Fußende des Bettes sah Gerber den Rollstuhl stehen. Noch immer erschrak er bei dessen Anblick. Würde er sich jemals daran gewöhnen können? Ein halbes Jahr war seit seinem Unfall vergangen, dessen Folgen ihn an diesen Ersatz für seine nun nutzlosen Beine gefesselt hatten. Gerber griff nach dem Stock, den er neben dem Bett liegen hatte, hakelte nach dem Rollstuhl und zog ihn zu sich heran. Er schob die Bettdecke zur Seite, langte nach dem Griff, der über seinem Bett von einer Art Galgen herabhing, und schwang seine Beine über die Bettkante. Mit etwas Schwung hievte er sich in den Rollstuhl, der unter seinem Gewicht leicht ächzte, so als hätte er sich, wie sein Besitzer, noch nicht so recht an diese Prozedur gewöhnt. Gerber legte seine Beine zurecht und stieß sich ab. Lautlos rollte er auf dem Teppich auf das Fenster zu. Seine Hände fuhren über die kalten Rippen des Heizkörpers unter dem Fenster. Ungläubig sah er durch die Glasscheibe. Da, wo die gegenüberliegende Häuserfront hätte sein sollen, türmte sich eine fahlgraue Wand vor ihm auf. Er wischte mit der Handfläche über das kalte Glas. Seine Hand schimmerte in dem selben unbestimmbaren Grau, wie die undurchdringliche Wand vor ihm. Nebel, dachte er, das ist Nebel. Er rollte zurück durch das Zimmer zur Tür hin und drückte auf den Lichtschalter. Nichts. Erst jetzt gewahrte er die Stille. Selbst mitten in der Nacht, hätte er den nie ruhenden Verkehr der Innenstadt zehn Stockwerke tiefer auf der Straße hören müssen. Er lauschte angestrengt in das diffuse Grau um ihn herum. Alles was er wahrnahm, war das hektische Pochen seines Herzens und das leise Pfeifen, wenn er die Luft in seine kranken Lungen sog. Gerber rollte durch die Tür in den Flur. Noch bevor er den Telefonhörer von der Gabel nahm, war er sich der Nutzlosigkeit seines Tuns mit einer eigenartigen Gewißheit bewußt. Er hielt die Muschel an sein Ohr. Wie von weit her hörte er statt des Freizeichens ein Rauschen. Wenn er den Atem anhielt, war ihm fast so, als vernehme er das Schlagen von Wellen an das Ufer eines endlosen Ozeans. Langsam lies er den Hörer auf die Gabel zurücksinken. Der Kohlgeruch umgab ihn mittlerweile wie ein dicker Wintermantel, der sich eng um seinen Körper geschlungen hatte. Gerber rollte ins Wohnzimmer. Auch die Uhr auf dem Sideboard war um drei Uhr stehengeblieben. Die Stand-By-Anzeige der Stereoanlage war erloschen. Gerber rollte in den Flur zurück. Lange starrte er auf die Wohnungstür, die auf den Flur des Hochhauses führte. Er dachte daran, daß er nächste Woche in die Behindertenwohnung, die ihm vom Wohnungsamt zugewiesen worden war, hätte umziehen sollen. Und er dachte auch an das Treppenhaus, an den Aufzug, der wahrscheinlich außer Betrieb war, wobei ihm die zehn Stockwerke einfielen, die ihn von der ebenen Erde trennten. Er drehte den Schlüssel im Schloß und zog die Tür auf. Leise quietschend rollten die Räder über den mit Linoleum belegten Fußboden des Flures. Rechts und links von ihm erstreckten sich scheinbar endlose Reihen von identischen mit Spionen versehene Wohnungstüren. Sie unterschieden sich nur durch die an ihnen angebrachten Türschilder. Ein rührender Versuch der Bewohner, sich wenigstens einen bescheidenen Rest von Individualität zu bewahren. An einem Messingschild mit der Aufschrift "Peter Geist und Maria Polter" drückte er auf den Klingelknopf. Die Klingel blieb stumm. Er klopfte. Der Widerhall drang durch den Flur wie eine langsam rollende Kugel in einem Rohr. Gerber rollte jetzt weiter, an jeder Tür klopfend, immer schneller werdend. Quietschend kam er vor dem Aufzug zu Stehen. Die Türen waren nicht vollständig geschlossen und durch den Spalt konnte Gerber in den Aufzugschacht starren. Lose hingen die von Getriebefett schimmernden Kabel vor seinen Augen. Durch den Schacht pfiff leise der Wind. Das einzige Geräusch weit und breit. Die Stockwerkanzeige über der Aufzugtür blickte blind auf ihn herab. Gerber sah den Flur entlang zu dem nach unten führenden Treppengeländer. Er rollte darauf zu und brachte den Rollstuhl vor der ersten Stufe zum Stehen. Auch durch die schmalen Fenster des Treppenhauses kroch jenes nervend unbestimmbare Grau. Gerber zog sich aus dem Rollstuhl und ließ sich auf den kalten Boden gleiten. Er stieß den Rollstuhl an, der scheppernd die Stufen hinabpolterte und auf dem ersten Treppenabsatz auf der Seite zu liegen kam. Das nach oben zeigende Rad drehte sich lautlos. Gerber hielt sich am Treppengeländer fest und rutschte auf dem Gesäß Stufe für Stufe hinab. Nach drei Stockwerken mußte er eine Pause machen. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand, einen Arm auf den Rollstuhl gestützt. Sein Atem ging schwer, in kurzen Stößen. Ein hauchdünner Film kalten Schweißes verdunstete allmählich auf seiner Stirn. Als er etwas zur Ruhe gekommen war, hielt er den Atem an und lauschte in das Treppenhaus hinab. Ihm war, als hörte er das gleiche Rauschen wie vorhin am Telefon. Das gleiche merkwürdige Schlagen von Wellen an das Ufer eines großen Meeres. Zum ersten Mal spürte Gerber so etwas wie Angst in sich herauf kriechen. Wie ein Reptil, das sich langsam den Schacht eines ausgetrockneten Brunnens hinaufarbeitete. Er sah seinen Rollstuhl an. Bisher hatte sein Gefährt die Prozedur unbeschadet überstanden. Gerber gab ihm einen weiteren Stoß.

Stockwerk für Stockwerk, endlos wie es ihm schien, arbeitete er sich nach unten. Der Geruch von Kohl war nun so intensiv, daß es ihm dem Atem verschlug. Überwältigend drang er auf ihn ein, erdrückte ihn förmlich. Seine Lungen stachen, sein Herz führte einen Veitstanz auf. Immer noch war sein Rollstuhl intakt. Noch eine Treppenflucht bis zum Erdgeschoß. Gerber rutschte auf dem Treppenabsatz bis zur Wand und lehnte sich mit dem Rücken an. Seine Hand umklammerte das Gummirad des Rollstuhles. Inzwischen war das Rauschen zu einem dumpfen Dröhnen angeschwollen. Er hörte das Schlagen der Wellen deutlich. Den Kohlgeruch nahm er nur jetzt nur noch unterschwellig war, wie einen chronischen Schmerz, an den man sich im Laufe eines Lebens gewöhnt hatte. Er nahm noch einmal alle seine Kraft zusammen und stieß den Rollstuhl die letzten Stufe hinab. Das Scheppern ging in dem Rauschen fast unter. Stufe für Stufe rutschte er hinab. Unten, auf dem mit kalten Steinplatten ausgelegten Boden starrte er auf die gläserne Doppeltür, die hinaus zur Straße führte. Die Scheiben waren vom selben milchigen Etwas wie alles um ihn herum. Gerber stellte den Rollstuhl auf die Räder, holte tief Luft und hangelte sich vom Handlauf der Treppe aus auf den Sitz. Lange saß er so da und blickte mit im Schoß gefalteten Händen auf die Eingangstür. Erst nach einer Weile wurde ihm bewußt, daß er betete. Leise murmelte er Worte vor sich hin. Unverständlich, aber es war so etwas wie ein Gebet. Seine Hände rutschten vom Schoß auf die Gummiräder. Stück für Stück bewegte er sich nach vorne auf die Tür zu. Als er sie aufstieß, umfing ihn das Rauschen und Schlagen der Wellen, als stünde er am Rande eines vom Wasser umtosten Riffes. Allumfassend umgab ihn der Gestank von Kohl. Schwer, dick und zäh. Er griff die Räder mit beiden Händen und gab ihnen einen leichten Stoß nach vorne. Lautlos rolllte er auf die Straße und verlor sich nach wenigen Augenblicken im Nebel , aufgesogen vom endlosen Rauschen der Wellen und vom alles beherrschenden Geruch nach Kohl.

zurück