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Das Mädchen ohne Hände

nach einem Märchen, gesammelt und niedergeschrieben von den Gebrüdern Grimm

Es war einmal ein alter Bauer, der hatte eine Frau und eine Tochter, doch litten sie unter der Armut des Landes, denn sie hatten nichts mehr zu verzehren, nur noch einen alten Apfelbaum hinter dem Haus. Doch es war Winter und sie mußten hungern, da der Baum schon lange keine Äpfel mehr trug.
Einmal ging der Bauer mit einer Axt hinter das Haus in den nahegelegenen Wald, um dort Holz zu holen, um den Ofen zu wärmen, denn wenigstens erfrieren sollte keiner. Da war er also beim Holzmachen, als sich auf einmal ein Wesen aus dem Holz löste, um mit ihm zu sprechen. Es war ein Dämon, ein Wesen der Finsternis, ein Abgesandter des Bösen, des Teufels Geselle.
Der Bauer war voller Angst und fürchtete nun um sein Leben, doch der Dämon sprach nur: "Lieber Bauer, ich werde dir nichts tun, nein, ich will dir sogar etwas geben, nämlich immensen Reichtum, mit dem du deine Familie lebend durch den Winter bringen kannst, und nicht nur das, denn du wirst für immer reich sein." Der Bauer schluckte und fragte den Dämon dann, was er denn als Gegenleistung erwarte.
Der Dämon antwortete: "Ich will lediglich das, was hinter deinem Haus ist!" So dachte der Bauer, der Dämon meine den alten Apfelbaum und versprach ihm diesen. "Ich werde es in drei Jahren abholen!" sagte der Dämon noch, bevor er wieder in dem Baum verschwand. Doch als er später in das Haus zurückkehrte, und seine Frau fragte, woher denn all der Reichtum komme, der plötzlich in allen Ecken des Hauses wäre, da erzählte der Bauer von dem Dämon und daß er all den Reichtum gegen den alten Apfelbaum eingetauscht habe, weil der Böse meinte, er hätte als Gegenleistung gerne das, was sich hinter dem Haus befände. Da war die Frau von Sinnen und schrie den Bauern an, daß sich ihre Tochter gerade hinter dem Haus befände. Der Bauer sackte zusammen und weinte sich bitterlich die Augen aus.

Es vergingen drei Jahre wie im Fluge, denn der Reichtum sorgte für sie alle und ließ sie glücklich und in Frieden leben. Doch der Bauer wußte, daß nun bald der Dämon kommen müsse, um ihre Tochter in die Hölle zu holen. Die Eltern hatten ihre Tochter, die zu einem wunderschönen Mädchen herangewachsen war, in den letzten Jahren äußerst fromm und gottesfürchtig erzogen. Sie betete jeden Tag mehrmals und lebte sehr fromm. Und als der Tag kam, an dem der Böse sie holen wollte, da wusch sie sich rein und nahm ein Kreuz, das sie fest bei sich trug. Dann war der Dämon gekommen, um sie zu holen.
Doch er wich zurück, denn sie war rein von Sünde und sprach zu dem alten Bauern: "Sie ist so rein, daß ich sie nicht holen kann, nimm ihr alles Wasser weg, ich komme morgen wieder." Der Bauer tat wie ihm aufgetragen und ließ nicht einen Tropfen Wasser bei dem Mädchen. Doch am nächsten Tage, als der Dämon erneut kam, um sie zu holen, hatte sie sich die Hände reingeweint. Der Böse war wütend und befahl dem Bauern, seiner Tochter die Hände abzuschlagen, doch der Bauer weigerte sich: "Nein, ich kann meiner eigenen Tochter nicht die Hände abschlagen!"
Der Böse aber sprach nur: "Tust du es nicht, dann hol ich dich selber, alter Bauer. Ich werde morgen wiederkommen!" Dem Bauer ward angst und bang, so daß er sich einen Knüppel nahm und zu seiner Tochter ging, um ihr beide Hände zu nehmen. Ihre Schreie waren fürchterlich und das Blut floß in Strömen, doch sie ließ es über sich ergehen, denn sie wollte nicht, daß der Dämon ihren Vater zu sich holte. Am dritten Tage kam der Böse noch einmal, um das Mädchen zu sich zu holen, doch sie hatte die ganze Nacht so bitterlich in ihre Stümpfe geweint, daß diese nun rein waren. Und nun mußte der Dämon weichen, denn er hatte alles Recht auf das Mädchen verloren. Doch in seinem Zorn machte er den alten Bauer zu einem Mörder, der seiner Frau den Kopf abschlug, um sich daraufhin gegen sein Kind zu wenden. Doch die Kleine hatte die Absicht des Vaters erkannt und war in die Welt geflohen. In seinem Wahn spaltete sich der Alte dann auch sein eigenes Haupt und ließ die Tochter ziehen.

Das Mädchen hungerte einige Tage lang und lebte nur vom Nötigsten. Als die Not am schlimmsten, der Hunger am größten waren, kam sie zum königlichen Garten, wo gab es die schönsten Früchte weit und breit gab. Doch war der Garten umgeben von einem Fluß, so daß sie nicht herüber konnte. Ihr Hunger quälte sie aber so sehr, daß sie niederkniete, um zu beten. Schon bald ward sie erhört, und in der Nacht erschien ihr ein Engel, um das Wasser zu teilen, so daß das Mädchen einfach durchlaufen konnte, um das andere Ufer zu erreichen.
Nun, als sie das andere Ufer erreicht hatte, aß sie ein paar Früchte, nur das Nötigste, um sich am Leben zu erhalten, und ging erneut durch das trockengelegte Flußbett, bevor der Engel es wieder auffüllen ließ. Des Königs Gärtner hatte das Treiben gesehen, doch weil ein Engel dabeistand, hatte er sich nicht getraut, einzuschreiten.
So kam der König am nächsten Morgen in seinen Garten und zählte seine Früchte, und als er entdeckte, daß einige fehlten, sprach er seinen Gärtner darauf an. Der erzählte ihm die Geschichte von dem Mädchen, das letzte Nacht von den Früchten gegessen, und von dem Engel, der dabeigestanden hatte.
Der König sprach: "Ich will die Nacht bei dir bleiben und sehen ob es so geschieht, wie du es mir berichtetest." So verhielt es sich dann auch. Der König wartete gemeinsam mit dem Gärtner und einem Priester auf die Ankunft des Mädchens und des Engels. Alsbald geschah es wie in der Nacht davor. Der Engel öffnete den Fluß und spaltete ihn in zwei Lager, während das Mädchen, es hatte keine Hände, hindurchlief, um sich wenig später an den köstlichen Früchten zu sättigen. Nun war der König aufgesprungen und ging auf die beiden Wesen zu und befragte das Mädchen: "Bist du ein göttliches oder ein weltliches Wesen? Bist du ein Geist oder ein Mensch?"
"Ich bin ein Mensch", sprach das Mädchen, "ohne Hände und von allen verlassen, nur vom Glauben nicht." Der König erbarmte sich und spürte auf einmal unsäglichen Kummer: "So bist du von allen verlassen, dann will ich dich nicht verlassen!" So fanden die beiden zueinander, verliebten sich und heirateten. Der König ließ ihr zwei goldene Hände machen, die ihre eigenen fortan ersetzen sollten.

Doch während das glückliche Paar eine schöne Zeit erlebte, erstarkten die Mächte der Finsternis zu ungeahnter Macht. Alsbald wandelten die Toten auf Erden, um dem Höllenfürsten zu dienen und die Sterblichen zu vernichten. Zu dieser Zeit war es auch, daß der König ein Bündnis mit vielen weiteren Königen einging, um dem Bösen in ebenbürtiger Stärke zu trotzen und diese Bedrohung beseitigen zu können. So mußte der König seine Armee anführen, um dem finstren Treiben Einhalt zu gebieten. An dem Tage, an dem er zu Felde zog, sprach er zu seiner Gemahlin: "Bald wird das Böse besiegt sein und ich werde wiederkommen, um dich für ewig zu lieben und nie wieder von deiner Seite zu weichen - halte nur an deinem Glauben fest, dann werden wir das Böse bald besiegt haben." Und zu seiner Mutter sprach er:
"Mutter, gib du gut acht auf die Königin, lasse nicht zu, daß das Böse in die heiligen Gemäuer des Schlosses eindringen kann!"

In dieser dunklen Ära gebar die Königin einen Sohn, der an Schönheit in nichts seiner Mutter nachstand. Der König war bereits zu Felde und schlug sich tapfer von Schlacht zu Schlacht. Doch die Heerscharen des Bösen waren um ein Vielfaches stärker und schafften es durch List und Tücke sogar, die Allianzen der Könige zu zerbrechen, so daß die Sterblichen begannen, sich untereinander anzugreifen. Noch trugen die Sterblichen Siege davon, doch die Untoten wurden von Tag zu Tag viel stärker. Als die Königin ihren Sohn gebar, hatte die Mutter des Königs, die auch weiterhin gut nach der Gemahlin ihres Sohnes sah, ihm einen Brief geschickt, in dem stand, daß es der Königin und dem Kind gutginge. Sie übergab die Nachricht dem besten und schnellsten Boten des Landes, doch auch dieser braucht mal eine Pause. Und wie er diese machte, schlief er unachtsamerweise ein und der Dämon, dem die Königin den Verlust ihrer Hände zu verdanken hatte, griff nach dem Brief, um ihn mit einem anderen auszutauschen, in dem stand, daß die Königin einen Wechselbalg zur Welt gebracht hätte.
Der König war betrübt, als er diese Nachricht zu Felde gebracht bekam, doch schrieb er ihr zurück, daß sie das Kind gut pflegen solle, bis er zurückkäme. Der König gab dem Boten den Brief, der sich so schnell es ging auf dem Weg zum Schloß machte. Doch, wie er an der selben Stelle ein Schläfchen hielt, wie beim letzten mal, tauschte der Dämon den Brief abermals gegen einen anderen aus, in dem stand, daß sie die Königin mit ihrem unseligen Kinde töten und zum Wahrzeichen Auge und Zunge aufbewahren solle.
Als die Mutter diesen Brief empfing, starb sie bald vor Kummer, so schwer war ihr ums Herz geworden. Sie mußte etwas tun, doch konnte sie ihre geliebte Schwiegertochter doch nicht töten. Also beschloß sie, eine Hirschkuh zu schlachten und ihr Auge und Zunge zu nehmen, um den König bei seiner Rückkehr so zu täuschen.
Die Königin und ihren Sohn indes schickte die Mutter hinfort in die weite finstre Welt, damit sie der König nicht fände. Kurz nachdem die Königin gegangen war, kamen die Untoten über das Schloß und machten die sterblichen Bewohner zu den ihren oder aßen sie auf.
Die Königin indes wandelte in großem Kummer einige Zeit umher, bis sie ein Engel aufsuchte, der sie in einen nahegelegenen Wald wies, in dem eine weiße Jungfrau auf sie wartete: "Komm, mein Kind, folge mir!" Sie folgte ihr bis zu einem Haus, vor dem auf einem Schilde die Worte "Hier wohnt jeder frei" standen.
Sie gingen hinein, die weiße Jungfrau voran, und die Königin bekam ein Zimmerchen und bekam beste Speis und Trank aufgetischt. Und auf einmal fielen ihr die goldenen Hände ab und ihr wuchsen neue, wirkliche Hände.
Dort sollte sie fortan sieben Jahre lang in Zufriedenheit mit ihrem Kinde leben. Der Krieg lief schlecht und der König kam alsbald als geschlagener Mann mit einer kleinen Gruppe zerlumpter, aber weiterhin treuer Soldaten zum Schloß zurück. Als er sah, daß die Untoten dort schon gehaust hatten und er seine Mutter in einzelnen Stücken verstreut im Thronsaal auffand, hatte er schon die Hoffnung aufgegeben, daß die Königin noch lebte. Als er dann die Briefe fand, die der Dämon ausgetauscht hatte, ward er gebrochen vor Kummer, denn daneben fand er Auge und Zunge. Doch die Mutter hatte eine Schrift daneben gelegt, in der stand, daß sie es nicht über das Herz gebracht habe, die beiden zu morden, und sie fortgeschickt habe.
Der König machte sich nun auf die Suche nach seiner Gemahlin und schwor, daß er nicht eher ruhen wolle, bis er sie finde oder die Untoten ihn richten würden. Seine Suche sollte sieben Jahre dauern.

Im ersten Jahre aber ward der König bereits von einer schweren Krankheit erfaßt, die seine Suche unterbrach. Als es ihm besser war, brachen sie erneut auf.
Im zweiten Jahre kamen die Untoten über sie und der König verlor, bis auf seinen treuesten Gefährten, all seine Leute in der Schlacht. Im dritten Jahre starb denn auch nun des Königs treuester Gefährte im Kampfe.
Im vierten Jahre kamen die Könige aus dem Norden mit mächtigen Heeren herab, um die Plage der Untoten auszurotten.
Im fünften Jahre geriet er in die Gefangenschaft eines der Könige aus dem Norden. Man folterte ihn und blendete ihn so sehr, daß sein Augenlicht nachgab.
Im sechsten Jahre gab er, nach seiner Flucht, die Suche trotz seiner Erblindung nicht auf.

Und als im siebten Jahre ein Engel an ihn herantrat, der ihm den Weg wies, so wußte er, daß seine Gemahlin noch am leben war, und seine Liebe war größer als je zuvor. Der Engel führte den blinden König zu dem Haus mit dem Schild davor, auf dem stand "Hier wohnt ein jeder frei".
Auf einmal erschien ihm eine weiße Jungfrau, sie schenkte ihm das Augenlicht wieder und bat ihn, einzutreten. Voller Erschöpfung fiel er in ein Bett, das ihm die Jungfrau anbot, und schlief ein. Darauf erschien der Engel in der Kammer bei der Königin und ihrem Sohn, den sie Schmerzenreich nannte, und sprach zu ihr: "Geh hinaus, dein Gemahl ist gekommen!" Der Königin ward es schwer ums Herz, so sehr sie ihn liebte, so konnte sie ihm doch nicht verzeihen.
Schließlich aber war die Liebe stärker und sie folgte ihrem Herzen in die Kammer mit dem Bettchen, in dem der König schlief. "Sieh doch Schmerzenreich, das ist dein Vater, der König!" Doch der Junge schüttelte nur den Kopf und jammerte: "Aber ich sah ihn noch nie, wie kann das denn mein Vater sein?"
Die Königin senkte den Kopf und wollte gerade gehen, da erschien ein Engel und versperrte ihr den Weg. Darauf erwachte der König aus seinem Schlummer und fragte, wer sie wäre. "Ich bin deine Frau, und das ist dein Sohn Schmerzenreich." Auf einmal ward ihm ganz warm ums Herz und vor Freude tänzelte es in seiner Brust. Dann aber beäugte er mißtrauisch ihre Hände aus Fleisch und Blut: "Meine Frau hatte keine Hände." Sie antwortete: "Dieser selige Ort hier brachte mir meine Hände wieder, es ist ein Wunder, ein Wunder des Herrn." Der König fiel den beiden in die Arme und sprach: "Meine ganze Liebe gehört nun euch, meine ganze Kraft werde ich für euch opfern, für ewig werde ich an eurer Seite verweilen, nichts wird mich mehr davon abhalten können." Und sie liebten einander wie sie es nie taten, denn die Liebe währet ewig, doch nichts ist von Dauer. So lebten sie in Glück und Zufriedenheit bis an ihr Lebensende; und Schmerzenreich ward erwachsen und reifte zu einem prächtigen jungen Mann heran, so daß er alsbald in des Königs Erbe trat.

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