© der Geschichte: Richard Bergman. Nicht unerlaubt
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Eine Geschichte vom Haken

Mein Atem zerriß zu keuchenden Stößen, silbern, wie zerfetzte Rauchschwaden hingen sie vor meinem glühenden Gesicht; stumme Sprechblasen der Angst in der Kälte einer Nacht, die ich wahrscheinlich mein ganzes Leben lang nicht vergessen würde. In dieser Nacht stand ich zum ersten Mal in meinem Leben Mad Marshall gegenüber - und meines Wissens nach gab es nicht viele, die das von sich behaupten konnten; eigentlich gab es überhaupt niemanden, nur die Toten ... und die konnten es erst recht nicht.
Das ächzende, schon beinahe gequält klingende Knirschen des Schnees unter meinen harten Stiefeln hatte mich verraten. Verzweifelt bemühte ich mich, meinen pumpenden Atem im Zaum zu halten - falls meine schweren, stapfenden Schritte meine Anwesenheit noch nicht preisgegeben hatten, dann würde das sicherlich das reißende Keuchen meiner Lungen erledigen, schlimmer noch, es könnte Mad Marshall nicht nur verraten, daß ihn jemand beobachtete, sondern auch noch, von wo aus ihn dieser Jemand beobachtete.
Hannibal, meine zwergwüchsige, französische Bulldogge, die obendrein noch das ängstlichste und verschreckteste Exemplar seiner Art war, stand - genau wie ich - reglos neben mir, als ob er ledigleich von kleinen Kindern aus dem griffigen Schnee geformt worden war, die sonderbare dunkelbraune Flecken auf seinem Rücken und seinem Kopf (und natürlich seinem verkürztem Schwanz) hinterlassen hatten. Im Augenblick konnte ich nicht sagen, wer mehr Angst hatte, Hannibal oder ich, aber mit der Zeit neigte ich dazu, zu denken, daß wir uns in dieser Hinsicht wohl die Waagschale gehalten haben. Hannibal knurrte nicht einmal wie es seine Artgenossen normalerweise in einer heiklen Lage zu tun pflegen; stattdessen schob sich sein zitterndes Hinterteil immer mehr in die Nähe meines rechten Beines. Seine kleinen Füße erzeugten ein scharrendes Geräusch, in dem beinahe zehn Inch tiefem Schnee, und ich hatte Angst, auch dies würde unseren Standort preisgeben.
Wie in jeder anderen Kleinstadt gab es auch in Hailey Geschichten, die oft von alten Frauen mit zuviel Freizeit oder vorlauten Teenagern mit nichts Besserem zu tun, als die Klappe kilometerweit aufzureißen, verbreitet wurden; unter diesen Geschichten, die hauptsächlich von den Techtelmechtel verheirateter Männer und Frauen, gescheiterter Existenzen oder unehelichen Kindern (das direkte Resultat so manchen Techtelmechtels) handelten, fanden sich auch Dinge, die vielleicht nicht im Frisiersalon oder in Patty Drake's Coffey Shoppe erzählt wurden, während Virginia Slims zwischen knochigen Fingern klemmten und alte Modezeitschriften vergessen über den überkreuzten Beinen lagen ... oder Doughnuts geistesabwesend in kalten Kaffee eingetaucht wurden: häßliche, unangenehme Dinge, die niemand eigentlich richtig hören wollte und dennoch mit ernsten Mienen und humorlosen Gesichtern erzählt wurden. Jede Kleinstadt hatte ihren sorgfältig bemessenen Anteil an Verbrechen, die meisten davon spielten sich meistens hinter verschlossenen Türen ab und wurden entweder von betrunkenen Ehemännern oder korrupten MöchtegernPolitikern begangen. In Kleinstädten rückte die Polizei weit öfters aus, um eine verrückte Katze vom Apfelbaum einer noch verrückteren alten Dame zu holen, als um ein paar ordentlich verstümmelte Leichen in schwarze Plastiksäcke zu packen, die große Ähnlichkeit mit Müllsäcken hatten.
Verbrechen dieser Art waren etwas für die Großstädte, in der Gewalt und Brutalität wie Hitze an einem heißen Sommertag in der Luft schwirrten.
Aber nicht in Hailey. Wer diese These auf Hailey anwandte, der würde kläglich scheitern ... und wenn ich es mir recht überlege, war Hailey eigentlich gar nicht wie andere Kleinstädte. Immerhin hatten wir Mad Marshall. Das häßlichste und unangenehmste Ding überhaupt. Und jetzt stand es nicht einmal dreißig Fuß von mir entfernt ... und sah in meine Richtung.
"Mad" Cookie Marshall, ein greisenhafter Witwer, der allein in einem heruntergekommenen Haus am westlichen Stadtrand von Hailey gewohnt hatte (einen Steinwurf von den Gleisen der Northern Maine Railroad entfernt), hatte vor noch nicht allzu langer Zeit Schlagzeilen gemacht. Sein hageres, asketisch ausgezehrt anmutendes Gesicht war wie ein Schatten durch die Zeitungen gehuscht, monatelang - der sichelfömig grinsende Mund starrte bösartig aus den rauhen Schatten der zahllosen Schwarzweißfotos heraus wie ein drittes Auge ... und erzählte seine Geschichte. Und hätte Mad Marshall sich nicht eigenhändig die Zunge abgeschnitten und somit seine Lippen für immer versiegelt, dann hätte er eine ganze Menge zu erzählen gehabt. Mad Marshall war allem Anschein nach dem Wahnsinn verfallen und hatte grauenvolle Dinge getan. Dinge, die in keiner anderen Kleinstadt je geschehen waren, davon war ich überzeugt. Ich wußte nicht viel über Mad Marshalls Verbrechen, denn, wie schon gesagt, es gab niemanden, der aus erster Hand davon erzählen konnte und noch dazu am Leben war. Außenstehende hatten zwar von den Leichen erfahren, aber sie hatten nie erfahren, was wirklich mit ihnen geschehen war. Das konnte niemand sagen, wahrscheinlich nicht einmal Marshall selbst, und schon gar nicht die Polizei. Sie hatten die Leichen nie gefunden, nur einige, nun, wie soll ich sagen, Spuren, aber das war auch schon alles; und über Mad Cookie Marshalls Lippen war nie ein Geständnis gekommen - dafür hatte er selbst gesorgt. Die örtliche Autorität, die damals, in den frühen Siebzigern, aus einem verwirrten Tattergreis und einem nervösen Deputy Anfang zwanzig bestand, führte die Ermittlungen mit jener Art engstirniger Zielstrebigkeit, die in möglichst kurzer Zeit die bereits vorgefaßten Vermutungen bestätigen und die Angelegenheit rasch bereinigen sollte. Ich war damals noch ein kleiner Junge, sieben oder acht Jahre alt, und kann mich nicht mehr an alles erinnern, und um es kurz zu machen: die Untersuchungen führten zu nichts. Es gab zu wenig Stichhaltiges, dafür aber massenhaft Vermutungen und Gerüchte, die jedoch zu noch weniger führten.
Ich weiß noch genau, mit welch ambitionierten Elan der Sheriff (ich kann mich beim besten Willen nicht mehr an seinen Namen erinnern) an die Ermittlungen herantrat, und noch viel besser, mit welch bitterer Resignation er sie beendete - nicht einmal zwei Wochen nach Eröffnung der Untersuchungen. Die Staatspolizei war bereits am Tag, als der erste Verdacht auf Mad Marshall fiel, hinzugezogen worden und übernahm den Fall, wobei der Sheriff jedoch die Leitung der Untersuchungen behielt und zumindest offiziell die oberste Befehlsgewalt besaß. Das FBI schaltete sich erst ein, als unser Sheriff bereits daran dachte die Untersuchungen zu beenden (am Ende der ersten Ermittlungswoche). Eine Woche später gab das FBI ihre Ermittlungen auf, was dazu führte, daß auch die Staatspolizei und unsere örtliche Poliziestelle sie einstellte.
Wenn auch in keinem anderen Sinne, dann erfüllte sich wenigstens eine Absicht des Sheriffs: die Ermittlungen waren nicht von langer Dauer; doch ich glaube, die Scham und vor allem die Frustration, in den Nachforschungen gescheitert zu sein, überschattete diese eingetroffene Erwartung, sodaß dem Sheriff wohl nicht danach zumute war, sich dieses Verdienstes zu rühmen.
Verblüffenderweise wurde dennoch, obwohl es keine stichhaltigen Beweise für Mad Marshalls Gräueltaten gab, Anklage gegen ihn erhoben, und die Tatsache, daß Marshall sich selbst die Zunge abgetrennt hatte, stets starr in die Leere starrte und sich weigerte, auch nur irgendeinen anderen Menschen als sich selbst wahrzunehmen, führten dazu, daß ein psychiatrisches Gutachten erhoben wurde, daß zusammen mit den nicht stichhaltigen Beweisen und zusammen mit den abscheulichen, regelrecht blutrünstigen Gerüchten, die in der Stadt kursierten, zu einem sehr überraschenden Urteil führten. Mad Marshall wurde für unzurechnungsfähig und als eine Gefahr für die Gesellschaft befunden und in eine psychatrische Anstalt überstellt. Hochsicherheitstrakt. Einzellzelle. Elektroschocktherapie, Zwangsjackenpflicht, Hand und Fußfesseln am Bett. Das Urteil war erstaunlicherweise sehr hart - in Anbetracht der lückenhaften Beweise und nicht etwa des Verbrechens, über das zu dieser Zeit immer grauenhauftere Mutmaßungen laut wurden.
Ich bin nicht für die Todesstrafe, ich habe in den vergangenen Jahren auch nicht für George Bush gewählt, aber ich finde, daß Mad Marshall seine Strafe verdient hat. In meinen Augen hätte er sogar eine noch viel Schlimmere verdient. Bis heute habe ich es nicht geschafft, mir ein eigenes Bild von den Anschuldigungen zu machen, mit denen er konfrontiert wurde, aber ich habe dennoch keinen Zweifel daran, daß sie wahr sind. Mad Marshall wurde vorgeworfen, für das Verschwinden von fünfzehn Personen aus meiner Heimatstadt und - Jahre später, als die Untersuchungen wieder aufgenommen wurden - siebenundzwanzig aus acht umliegenden Städten verantwortlich zu sein. Kein Mensch wußte, was er mit ihnen gemacht hatte. Man hatte ein wenig Blut in seinem Keller gefunden, glaube ich, aber wenn man bedachte, daß Mad Marshall wahrscheinlich zweiundvierzig Menschen ... in irgendeiner erdenklichen Weise um die Ecke gebracht, sie ermordet hatte, dann mußte man sich eingestehen, daß Mad Cookie Marshall bei der Beseitigung seiner Opfer gründliche Arbeit getan hatte.
Mad Marshall hatte seinen Spitznamen nicht, weil er wahnsinnig geworden war, als seine Frau starb, sondern wegen dem Wahnsinn selbst, der seine Taten auszeichnete. Ich kann mich nicht mehr an alle Einzelheiten der Gerüchte erinnern, aber ich weiß sehr wohl, welche Quintessenz sie alle enthielten. Ich habe vielleicht vergessen zu erwähnen, daß sich all diese Gerüchte und Vermutungen alle um ein und dieselbe Achse drehten. Die Leute von Hailey glaubten - behaupteten, daß Mad Marshall diese Leute gegessen hatte. Er hatte sie angeblich wie ein wildes Tier überfallen, zerfleischt, geschändet und die unvorstellbarsten Dinge mit ihnen gemacht, die sich ein Mensch nur vorstellen kann ... und noch viele mehr, die sich auch nicht einmal ein einziger von ihnen auszudenken getraute. Mad Marshall war ein Monster, und wir alle waren froh, als sich unsere Gesellschaft dieses Monsters entledigte und es in eine finstere Gummizelle in Brewer verfrachtete. Wir waren froh, als wir hörten, daß da oben, in Isaac Ridge, der staatlichen Klapsmühle, in der sich Marshall befand, Elektroschocks und allgemein brutale Behandlung an der Tagesordnung standen.
Wie alt mochte Marshall damals gewesen sein? Wenn ich schätzen müßte, hätte ich gesagt, daß er zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung in Isaac Ridge anfang siebzig war.
Wie alt wäre er dann heute? Nun, auf jeden Fall fast dreißig Jahre älter, aber, um die Wahrheit zu sagen, er sah keinen Tag älter aus. Er sah noch genau wie damals aus; es war jenes grinsende Gesicht, daß mir vor langer Zeit aus hunderten Zeitungsfotos entgegengeblickt hatte. Es waren jene stoischen, verwinkelten Züge, die wie Rillen in ein Stück Holz, in sein bleiches Fleisch schnitten, die sich mir so unauslöschlich eingeprägt hatten, diese wie von kratzenden Fingernägeln entstellte Fratze eines Mörders, kalt, teilnahmslos, mit arroganter Erhabenheit in den blitzenden Augen. Er lächelte. Nein, er grinste.
Mad Marshalls Gesicht wurde vom fahlgelben, wächsernen Totenlicht einer Telefonzelle beleuchtet, die schief aus den Schneewehen neben einer Reihe von dunkelgrünen Plastikmülltonnen hervorragte. Sterne glitzerten bösartig, wie verwunschene Kristalle auf dem nachtschwarzen Himmel - zwischen spitzen Baumwipfeln, verstümmelten Kreuzen gleich - und tauchten den Waldrand in ein eisiges Hexenlicht, das Marshalls Konturen steinern wirken ließ.
Obwohl ich mich von den dunklen Augen, die unter einer ölfarbenen Zugführermütze hervorlugten, beobachtet fühlte, glaubte ich nicht, daß er mich sehen konnte - meinen paranoiden Panikgefühlen zum Trotz. Immerhin war der Wald hier sehr dicht, die Äste hangen tief und es gab viel schützendes Gesträuch, das meine Präsenz verbergen mußte. Außerdem war es Nacht und das gelbliche Leuchten der Telefonzelle konnte unmöglich bis zu meiner Position zwischen zwei dicken Bäumen und hinter einem vom Winter kahlgefressenen Busch vordringen.
Mein Herz pochte. Mad Marshall. Er war es. Daran bestand kein Zweifel. Er war ganz in schwarz gekleidet, mit schwarzen Hosen und einer dünnen, schwarzen Jacke, die seine hagere Gestalt betonte. Er saß auf einem alten Fahrrad, das mir aus zwei Gründen seltsam vorkam. Erstens war es Winter und wir hatten dieses Jahr viel Schnee gehabt. Obwohl die Straßen gestreut worden waren - selbst hier, auf diesem schlaglöchrigem Stück Asphalt, das vielleicht fünfzig Fuß hinter den Mülleimern endete und über eine für Autos viel zu schmale Holzbrücke über einen schmalen Bach hinweg mitten in den Wald hineinführte, in einen verlassenen Friedhof, erfüllt von schwarzer Angst. Meiner Angst.
Es gab hier einige vereinzelte Häuser, zwei davon konnte ich sogar von meinem Standort aus sehen, doch in keinem der beiden brannte Licht. Entweder war niemand zu Hause, oder die Besitzer waren bereits alle zu Bett gegangen. Bei dieser Feststellung kam mir ein beunruhigender Reim aus meiner Kindheit, der mir eine dritte Möglichkeit eröffnete.
"Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? Niemand! Niemand! Was machen wir? Nichts! Nichts! Wenn er aber kommt? Dann laufen wir davon!"
Vielleicht haben sie gewußt, daß er wieder hier ist und haben sich alle versteckt ... im Keller? Nein, wahrscheinlich nicht im Keller ... immerhin haben sie dort die Blutflecken gefunden.
Die Erinnerung an die Blutflecken auf den schmutzigen Bodenbrettern von Mad Marshalls Keller brachte eine zweite Erinnerung mit sich. In den Zeitungen hatte damals gestanden, daß man allerhand unübliche Werkzeuge in seinem Keller gefunden hatte. Oder brauchte ein pensionierter Briefträger etwa eine Knochensäge, Schlachtbeile, Stechmesser, allesamt Gerätschaften, die vielleicht in einer Metzgerei oder vielleicht noch im Besitz eines Jägers, der seinen Schuß selbst ausweidete und das Fleisch bereits zum Verkauf zuschnitt, gefunden werden konnten. Mad Marshall war genausowenig ein Jäger wie er ein Fleischer war ... Moment, vielleicht muß ich meine letzte Aussage ein wenig korrigieren. In gewisser Weise war er vielleicht doch ein Fleischer, ein Metzger gewesen. Und wenn ich es mir recht überlege, dann war er nicht nur ein Fleischer, sondern vielmehr ein Schlächter gewesen.
Wie konnte man da nur nichts gefunden haben? Nicht einmal die Kleider der Opfer. Wie war so etwas nur möglich?
Um wieder auf das Fahrrad zu sprechen zu kommen: der zweite Grund, aus dem es mir sonderbar fehl am Platze vorkam, war der Zustand des Fahrrades selbst. Es war zweifellos rostig, soviel konnte ich von hier aus sehen, und was viel wichtiger war, es war verbogen. Nicht nur der Rahmen, sondern beide Räder. Ein ausrangierter Drahtesel, den Mad Marshall von einem alten Schrottplatz gestohlen haben mußte. Obendrein - das war das wirklich beklemmende an dieser verkrüppelten Zusammensetzung krummer Metallteile - wirkte das Fahrrad auf mich, als ob es unmöglich wäre, auch nur einen Inch auf ihm zurückzulegen. Der Lenker war so verbogen, daß er in mir die Erinnerung an einen Schwanenhals wachrief - selbst ein Wahnsinniger konnte nicht im Stande sein, auf diesem Schrotthaufen auch nur eine Sekunde lang die Balance zu halten.
Und doch konnte er es. Schließlich habe ich ihn selbst damit fahren sehen ... bevor er das Fahrrad leicht zur Seite geneigt und sich mit einem Beim am Boden abgesützt hatte (ich nehme dies lediglich an, da ich mich nicht daran erinnern kann, tatsächlich sein Bein am Boden gesehen zu haben [aber das wäre schließlich lächerlich, er mußte sich am Boden abstützen, andererseits wäre er unweigerlich auf seine grinsende Schnauze gefallen] und ich das in meinem Gedächtnis fehlende Bein schlicht und einfach in meiner Vorstellung ergänzt habe). Aber eigentlich war dies im Augenblick meine geringste Sorge. Von mir aus konnte Mad Marshall mit diesem rostigen Mülleimer zum Indy 2000 antreten, wenn ihm danach war, solange er sich nur von Hailey fernhielt. Im Licht der Telefonzelle wirkten Marshalls Augen nicht dunkel (wie ich sie von den Zeitungsfotos in Erinnerung hatte), sondern gelb, funkelnd ... und sie schienen sich direkt in meine eigenen zu bohren.
Sie haben sich alle versteckt, weil sie Angst vor ihm haben. Sie haben gewußt, daß er wieder da ist.
Mein Magen krampfte sich zu einer stacheligen kleinen Kugel zusammen, die mir ein Gefühl der Benommenheit in den Verstand schlug. Und noch ein anderes Gefühl war da. Ich glaube, es war Panik. Blutrote, schreiende Panik, die wie Fingernägel über eine Schieferntafel, gellend an meinem Verstand kratzte, sich regelrecht in das weiche Fleisch meines Gehirns hineingruben. Mir war so heiß, daß ich mir am liebsten alle Kleider vom Leib gerissen und mich kreischend im Schnee gewälzt hätte. Dabei fiel mir ein, daß es sich so anfühlen mußte, wenn man allmählich in das bleiche Land des Wahnsinns hinüberschlitterte, unaufhaltsam, unaufhörlich, unweigerlich; als ob Normalität eine einzige Eisfläche wäre, auf der ich plötzlich einen kräftigen Stoß in den Rücken bekommen hätte. Dann gab es sicherlich kein Halten mehr. Selbst wenn ich mich fallen ließe, würde ich weiterrutschen, immerfort, auf den Abgrund zu. Mad Marshall mochte wohl am besten wissen, wie sich das anfühlte.
Marshall war von seinem Fahrrad abgestiegen und stand nun dahinter, beide Hände lagen auf den Griffen. In meinem Verstand verwandelten sie sich in winzige Haken. Man hatte auch sie in seinem Keller gefunden.
Ich blickte mit zusammengepreßten Zähnen und zitterndem Brustkorb auf die kleine Insel von Licht, die sich genau vor der letzten Baumreihe durch die staubigen Scheiben der Telefonzelle ergoß. Es schien eine Insel in einem Meer der Finsternis zu sein, denn rings um den kleinen Lichtkreis, in dem Mad Marshall seine Klauen um den Lenker seines alten Fahrrades gelegt hatte, waren nichts als Schatten, die sich wie eine Menge Schaulustiger um den bescheidenen Lichtfleck in ihrer finsteren Einöde geschart hatten. Die letzte Straßenlaterne hing zehn Yards hinter der Telefonzelle, und dieser Teil des Furnace Pave, wie dieses verrottete Stück Straße hieß (wenn man es überhaupt eine Straße nenne durfte), lag starr und regungslos unter lautlosen Massen von Schnee. Selbst der Wind schien in dieser Lautlosigkeit erstickt zu sein.
Mein Herz schlug mit jeder Sekunde die verstrich heftiger. Meine Brust vibrierte, als ob sie in einen barhändigen Faustkampf verwickelt war. In meinem Kopf regten sich Stimmen, flüsternd, verhängnisvoll, wie die Flügelschläge eines gefährlichen Vogels.
"Ich hab gehört, sie haben die Zähne gefunden ... er hat sich Halsketten daraus gemacht und sein Haus damit geschmückt!"
"Hey, Jimmy, ich wette, er war einer von diesen Negro - ah, Scheiße, wie nennt man das noch gleich, du weißt schon, einer dieser Leichenficker. Ich wette mit dir um hundert Mäuse, daß er sie zuerst abgeschlachtet hat und sich dann nachher an ihnen begeilt hat."
"Wahrscheinlich hat er sie bei lebendigem Leib an den Haken aufgehängt und sich ... ihr wißt schon ... langsam an ihnen zu schaffen gemacht. Verdammt, wenn er es richtig anstellte, konnte er vielleicht ein paar Tage an ihnen herumschneiden, bevor sie endlich draufgingen", hatte Burt, unser Metzger damals gesagt, die Tageszeitung, in der von den Haken die Rede war, zwischen seinen dicken Fingern zusammengerollt.
"Dieses Schwein, ich hoffe, sie packen seinen mordenden Arsch auf den elektrischen Stuhl!" knurrte Sally Rogers, die einzige Lehrerin von Hailey unter wildem Aufwallen von Tränen, als sie zum ersten Mal von den Dingen hörte, die Mad Marshall zur Last gelegt wurden.
"Da oben in Isaac Ridge ... da hat er nichts mehr zu lachen. Dort ist er gut verwahrt ... da kommt er nicht mehr raus", erklärte Mike Stanford, der örtliche Bibliothekar, dem Automechaniker, Chris Danson, Barbara Riley, meiner Mutter und mir.
Die Stimmen hatten sich aus dem Nichts erhoben und verschwanden auch genauso schnell wieder, doch die Bemerkung von Burt - die Bemerkung über die Haken - blieb zurück.
Du großer Gott, das muß man sich einmal vorstellen! Stellen Sie sich doch bitte vor, daß Sie bei lebendigem Leib an mehreren Stellen auf spitzen Metallhaken aufgespießt und nachher auf dementsprechenden Vorrichtungen an der Wand aufgehängt werden ... und auf diese Weise tagelang an der Wand hängen, während Sie obendrein noch gefoltert werden. Wahrscheinlich fängt er mit den Füßen an ... wenn er die Wunden abbindet überleben Sie es ohne weiteres mehrere Tage ... eben solange, bis er richtig in Fahrt kommt und mehr auf oder abschneidet als er wieder abbindet. Das muß man sich einmal vorstellen, verdammt!
Die Panik, die von meinem Verstand Besitz ergriffen hatte, gewann nun die Oberhand. Ich mußte hier weg. Ich mußte fliehen. Und zwar schleunigst. Bevor mich Marshalls Haken erwischen konnten.
Ich warf einen raschen Seitenblick auf Hannibal, der seinen Hintern nach wie vor gegen mein Bein drückte. Er gab keinen einzigen Mucks von sich, sondern erwiderte stumm den Blick. Sein gequälter, ängstlicher Blick schien mich zu fragen: Hey, worauf wartest du noch, machen wir, daß wir von hier wegkommen. Ob diese Aufforderung zur Flucht tatsächlich in Hannibals Blick lag, spielte keine Rolle. Hannibal hatte recht - auch, wenn ich seinem furchtsamen Blick vielleicht nur meinen eigenen Wunsch zu fliehen ablas ... dann hatte ich eben recht; oder wir beide hatten recht. Wie gesagt, es spielte keine Rolle, wir mußten nur von hier weg. Wir mußten heil von hier weg. Dieser Aspekt schien mir meiner Meinung nach die größte Rolle zu spielen.
Ich konnte nicht sagen, ob Mad Marshall uns schon ausgemacht hatte oder nicht, aber irgendetwas hatte seine Aufmerksamkeit auf jeden Fall erregt. Sonst hätte er gar nicht erst angehalten. Der Gedanke, daß Marshall entweder auf die Hundert zugehen oder sie schon längst hinter sich gelassen haben mußte, sollte er wahrhaftig vor mir stehen, warf in meiner anschwellenden Panik keine Zweifel in mir auf. Die Überlegung, daß ein dürrer Hundertjähriger mitten im Winter auf schneebedeckten Straßen auf einem verkrüppelten Fahrrad durch die Gegend fuhr, tat es erst recht nicht. Alles war zählte war die Flucht, mein Leben. Und natürlich das von Hannibal. Er war mein engster Vertrauter, mein einziger Freund, alles was ich im Leben hatte. Ihm durfte nichts geschehen. Ich glaube, daß ich mich sogar für ihn Mad Marshall geopfert hätte, hätte Hannibal sich dadurch retten können. Aber er wäre wahrscheinlich ohnehin nicht von meiner Seite gewichen, treu wie er war.
Ich überlegte kurz, wie eine unbemerkte Flucht wohl am besten anzupacken wäre, dann stieß ich einen heiseren Pfiff aus, warf mich brutal herum (dabei zerkratzte mir ein tiefhänger Ast das Gesicht), rief zitternd "Hannibal, komm!" und rannte los. Das unbeholfene Rascheln hinter mir (und ein rasch zurück geworfener Blick) verriet mir, daß Hannibal ebenfalls rannte. Mehr sah ich nicht. Ein anderer Ast bohrte sich in meinen Hals, und ich drehte meinen Kopf fluchend zurück und erlegte mir das unmögliche Unterfangen auf, in dem dunklen Wald auf den Weg zu achten.
Ich hatte entschieden, daß ein verdeckter Rückzug aufgrund des dichten Geästs unmöglich war, und, daß unsere einzige Chance in einer raschen Flucht lag. Mad Marshall war ein alter Mann - wir mußten ihm einfach entkommen, wenn wir die Arme unter die Beine nahmen. Diese Gewißheit war zwar in der Theorie ganz nett und zuversichtlich, in der Praxis aber wertlos.
Es war dunkel, um nicht zu sagen scheißfinster, und ich weiß nicht mehr, wie oft ich mit ausgestrekkten Armen durch dünnes Geäst gerannt bin, keuchend, schwitzend, mit hämmernder Brust und Gedanken, die mich beinahe um den Verstand brachten.
Ich sah Mad Marshall überall. Vor mir. Hinter mir. Auf den Seiten. Im Gebüsch rechts, in der Dunkelheit links von mir. Es schien kein Entkommen zu geben. Ich mußte immerzu an die Haken denken.
Mad Marshall war so nahe hinter mir, daß ich seinen heißen Atem im Genick spüren konnte. Ich hörte seinen keuchenden Atem, sein schnaufendes Lachen, das sich in meinem Geist mit einem dunklen Grinsen vereinigte. Seine Füße stapften rasch durch den Schnee. Er machte so einen gewaltigen Lärm, daß ich - daran erinnere ich mich, als ob es erst gestern gewesen wäre, wie man so schön sagt - dachte, er würde sich regelrecht vorwärts katapultieren.
Er mußte die Haken bei sich haben, denn ich konnte ihr metallenes Klirren hören, wenn sie aneinanderstießen, diese kalten, bluttriefenden Laute, die meine Kehle zuschnürten und mir den Atem raubten. Wahrscheinlich hielt er sie bereits in den Händen und schnappte mit ihnen nach mir, um mich so niederzuwerfen. Ich konnte den eiskalten Schmerz richtig spüren, wenn sich die spitzen Zähne der Haken in meine Schultern graben würden. Dann ein plötzlicher, brutaler Ruck, wenn er sich einfach fallen ließ und mich so mit zu Boden riß. Er würde einen Haken aus meiner Schulter ziehen - ich würde entsetzliche Schmerzen verspüren -, den Arm nach vor werfen und den Haken in meiner Brust versenken und mich so zu ihm herüberziehen. Vielleicht würde er es gleich hier tun ... was auch immer er mit seinen Opfern getan haben mochte.
Ich bekam einen dumpfen Schlag gegen mein linkes Bein - und wurde leicht nach rechts gedrückt. In meinem Gehirn explodierte etwas. Blitzlichter des Entsetzens. Mein Atem versiegte in einem keuchenden Wimmern und mein Herzschlag setzte augenblicklich aus. Obwohl ich weiter lief und meine Füße sich wild durch den Schnee und das darunter begrabene Unterholz wühlten, wurde es auf einmal still. Es kam mir vor wie einer dieser berühmtberüchtigten Momente, wenn das gesamte Leben an einem vorüberzog, mit dem einzigen Unterschied, daß ich mein Leben nicht an mir vorüberziehen sah, sondern einfach nur in eine taube Gehörlosigkeit eintauchte, die mich fast meiner Sinne entmächtigte.
Der Haken. Es ist Marshalls Haken, dachte ich.
Ein gräßlicher, quetschender Schmerz klammerte sich an meine linke Brusthälfte (einen Augenblick lang fürchtete ich, daß es einer der beiden Haken sei), während sich mein Herz in eiskaltem Grauen wand, und ich sah nach links.
Ich sah gerade noch, wie sich Hannibals Hinterteil von meinem Fuß entfernte und sein rasender Körper, der mir vorkam wie ein außer Kontrolle geratener Flugzeugpropeller, vor mir in die Dunkelheit hinausjagte. Zuerst verband ich den Schlag gegen mein Bein nicht mit dem was ich sah, nach nicht einmal fünf Sekunden jedoch, schloß sich der Stromkreis in meinem Gehirn und das Lämpchen ging an.
Ich wagte es, noch einmal nach hinten zu sehen. Nichts. Dunkelheit, Schatten, aufgewühlter Schnee hinter mir, sonst nichts. Ich atmete erleichtert aus, dann hörte ich ein Knacken hinter einem Baum rechts von mir und mein Herz machte einen so gewaltigen Sprung, daß ich Jahre später einmal dachte, daß es mir eigentlich ans Kinn hätte schlagen müssen.
Ich rannte weiter. Jetzt fiel das Gelände, das bis jetzt eben gewesen war, drastisch ab, sodaß ich mich einbremsen mußte ... jedoch zu spät. Ich rutschte auf einer Eisplatte aus, stürzte bäuchlings zu Boden und schlitterte Kopf voran, mit schützend vor mein Gesicht geschlagenen Händen, den Hügel hinab.
Die Bäume standen hier weiter auseinander und erst das blattlose Skelett eines kleinen Strauchs bremste meine Talfahrt so weit ab, daß ich sie unter Kontrolle zu bringen vermochte. Ich sprang augenblicklich auf die Füsse und rannte weiter.
Der Hügel führte noch ungefähr zwanzig Fuß weiter hinab, bis ich auf einen ebenen Weg kam, der entlang eines schmalen Bächleins meilenweit durch den Wald verlief. Links von mir, nur wenige Schritte von mir entfernt, befand sich eine Brücke, die über den Bach führte. Ich lief zu ihr hin und schrie mit vor Anstrengung brennenden Lungen nach meinem Hund. Ich hörte etwas rascheln, sah jedoch nichts und fühlte einen erneuten Stich in meinem Herzen.
Mad Marshall mußte dicht hinter mir sein.
Der Schnee auf dem Weg war beinahe knietief und ich kämpfte mich mit größter Mühe bis zu der Brücke vor. Dort war es nicht viel besser, und nachdem ich sie überquert hatte, bemerkte ich, daß es auch auf der anderen Seite nicht anders aussah. Zu meinem rasenden Entsetzen, daß wie ein Fallbeil immer und immer wieder auf meinen Verstand einschlug, erhob sich das Gelände hinter der Brücke erneut, ebenso steil, wie es auf der anderen Seite bergab gegangen war.
Ich stieß vorwärts, kam aber nicht weit. Ich hatte den Fuß dieses Hügel so heftig gestürmt, daß ich nach nicht einmal vier Fuß stürzte und diesmal auf dem Rücken hinabrutschte. Von der anderen Seite der Brücke kamen Geräusch - wie rasche Schritte und vor meinem Verstand senkte sich ein dichter Nebel, zusammen mit einer Betäubung der Sinne, die mich zu der Überlegung veranlaßte, einfach liegen zu bleiben und mich meinem Schicksal zu ergeben.
Marshalls Haken, flüsterte eine züngelnde, schlangenhafte Stimme in meinem Verstand.
Die Haken brachten mich wieder auf die Beine. Ich wühlte mich auf allen Vieren den Hügel hinauf, kämpfte mich durch dichtes Dornengestrüpp hindurch auf eine Lichtung hinaus und rannte ungefähr eine halbe Meile bis zu einer Wiese, die tagsüber von vielen Hundebesitzern besucht wurde, in der Nacht jedoch so leer wie der Sarg eines Vampirs war. Dort brach ich zusammen - vollkommen erschöpft und beinahe von Sinnen. In meinen kreischenden Gedanken wurde ich ununterbrochen Zeuge eines entsetzlichen Blutbades ... meiner eigenen Hinrichtung. Hauptbestandteil dieser Vorstellung waren zwei Haken, die matt in diffusem Kellerlicht glänzten. Ich konnte mich keinen einzigen Schritt mehr bewegen. Meine Brust stach, mein Atem fühlte sich wie Rasierklingen an, die mit schwunghaften Bewegungen in meine Lunge schnitten. Ich war schweißnaß. Ich hatte sowohl mein Tshirt, mein Hemd, meinen Pullover, als auch meinen dicken Parka durchgeschwitzt und lag keuchend im Schnee. Wenn mich Mad Marshalls Haken nicht umbrachten, dann sicherlich eine Lungenentzündung. Ich hatte kein Gefühl mehr in meinen Füßen und mein Magen wurde von peinigenden Konvulsionen gewürgt. Ich erbrach mich fünf Mal, soweit ich mich erinnern kann.
Hinter mir kam etwas. Es war das wetzende Geräusch von Beinen, die sich durch den Schnee kämpften. Ich machte mich auf die Haken gefaßt.
Hannibals Nase stieß schnüffelnd gegen meine Wange, dann klatschte seine trockene Zunge auf mein Gesicht. Anstatt der Haken bohrte sich Hannibals Zunge in meine Augen, meine Nasenlöcher, meine Ohren (seine Lieblingsstellen). Ich war Mad Marshall entkommen, denn seit jener Nacht habe ich nichts mehr von ihm gesehen. Er kam diese Nacht nicht, und mit der Zeit fragte ich mich, ob er mich überhaupt verfolgt hatte, oder ob ich mir den heißen Atem in meinem Genick bloß eingebildet hatte. Und je mehr Zeit verging, desto mehr war ich geneigt, zu glauben, daß er es erst gar nicht gewesen war. Immerhin war er in seinen Sechzigern inhaftiert worden. Hochsicherheitstrakt in Isaac Ridge. Ich habe noch nie von einem Bewohner des PlemPlemLandes gehört, der diese Klinik ohne Entlassungsschein verlassen hatte. Wenn sie nicht wollten, daß man ging, dann konnte man auch gar nicht gehen. So einfach war das.
Am nächsten Morgen, nach meinem zweiten heißen Bad, begab ich mich im Internet auf die Suche nach einer Meldung über Mad Marshalls Ausbruch aus Isaac Ridge, fand jedoch nichts als eine Todesanzeige aus dem Jahre 1987. Marshall war schon über ein Jahrzehnt tot. Aber der Kerl hatte ihm so ähnlich gesehen ... ich hätte schwören können, daß er es gewesen ist.
Ich habe übrigens eine Lungenentzündung bekommen, überstand diese aber ohne merkliche Komplikationen, wenn man nicht in Betracht zog, daß ich bei neununddreißigkommazwei Grad Fieber einen schlimmen Alptraum hatte, in dem ich bei lebendigem Leibe an Haken an der Wand befestigt war und Mad Marshall sich an mir zu schaffen machte ... mit Messer, Beilen ... und weiteren Haken.
Als ich aufwachte, war mein Fieber gesunken, und ich stellte beruhigt fest, daß ich sicher zu Hause in meinem Bett lag, Hannibal auf seiner braunen Hundedecke neben mir. Wenn es noch Leute gäbe, die sich daran erinnerten, dann könnte ich ihnen mit lächelndem Gesicht sagen, daß ich Mad Marshall gegenüber gestanden und ihm entkommen war. Schließlich brauchte niemand zu wissen, daß Conrad E. Marshall am 27. Dezember 1987 in seiner Zelle in Isaac Ridge gestorben war.


Auszug aus The Hailey Eye, 5. Februar, 2001 (Morgenzeitung, ExtraAusgabe):

GRAUENVOLLE BLUTTAT IN HAILEY, MAINE

Gestern Abend wurde die schwer verstümmelte Leiche von Jason Riley, einem hochangesehenen Mitglied der Gemeinde von Hailey, Maine, in seinem Haus in der Willborough Road aufgefunden. Die Überreste des 37jährigen Immobilienmaklers wiesen deutliche Anzeichen grauenvoller Folter auf. Die Ermittlungsbehörde von Hailey hält die genauen Einzelheiten zurück, wie jedoch aus gut unterrichteter Quelle berichtet wird, wurden nicht sämtliche Leichenteile am Tatort aufgefunden. Der genaue Tatort wurde von offizieller Seite aus noch nicht bestätigt, es wird jedoch angenommen, daß es sich dabei um den Keller des einstöckigen Hauses handelte. Ob eventuelle Tatwaffen, die zur Folter und zur Verstümmelung von Jason Riley verwendet wurden, am Tatort aufgefunden wurden, ist nicht bekannt. Die Ursache des Mordes ist ebenfalls unbekannt. Jason Riley, alleinstehend, lebte zurückgezogen am Stadtrand von Hailey, war weder politisch sonderlich aktiv, noch betrieb er eine aggressive Firmenpolitik. Motiv der Bluttat ist unbekannt. Die Polizei hat zur Stunde noch keine offizielle Verlautbarung abgegeben, es kann jedoch ausgeschlossen werden, daß es sich bei der Tat um Raubmord handelt. In Anbetracht der Zurückgezogenheit, in der Riley in Hailey lebte, kann Rache mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ebenfalls ausgeschlossen werden. [...]


Auszug aus The Daily Hailey, 5. Februar, 2001 (Abendausgabe):

DER HAKENMÖRDER IST ZURÜCK!

1973 trieb Conrad E. Marshall, auch bekannt als "Mad Marshall", sein Unwesen in unserer ruhigen Stadt. Mad Marshall, dem 1973 die bestialische Ermordung von 15 Menschen zur Last gelegt wurde, jedoch nicht überführt werden konnte, wurde aufgrund eines fatalen psychiatrischen Gutachtens in die Nervenheilanstalt Isaac Ridge, von Brewer, Maine verwiesen, in der er 1987 starb. Gerüchten zufolge, hatte Mad Marshall seine Opfer mit brutalen Werkzeugen tagelang gequält und schließlich verstümmelt. Die Leichen der Opfer wurden nie gefunden. Gestern Nacht wurde Jason Riley ermordet aufgefunden. Seine Leiche wies Verletzungsspuren auf, die den Vermutungen entsprechen, die vor mehr als 29 Jahren über die Hinrichtungspraktiken von Mad Marshall laut wurden. Allem Anschein nach war Riley an mehr als fünf verschiedenen Stellen mit Haken an der Wand in seinem Keller befestigt worden. Die Leiche, die schwer verstümmelt wurde, wurde heute Mittag zu einer eingehenderen pathologischen Untersuchung nach Augusta überstellt. Es wird vermutet, daß Riley, der seit dem 29. Jänner nicht mehr gesehen worden war, vor seinem Tod gefoltert worden war. Gerüchte wurden laut, daß Riley's Leiche sexuell mißbraut worden war, dies wird jedoch von den nachforschenden Behörden zur Zeit noch dementiert. Weiteren Gerüchten zufolge fehlen mehrere Teile von Jason Riley's Leiche, die bis dato noch nicht gefunden worden sind. Aus zuverlässiger Quelle wird berichtet, daß Riley sämtliche Zähne gezogen worden waren - diese bleiben genau wie seine Hände und Füße (nicht bestätigt!) verschwunden.
Um 16.00 Uhr Ortszeit gab die Staatspolizei eine Fahndung nach einem Mann hinaus, der am Abend des 28. und des 29. Jänners in der Nähe von Riley's Haus gesehen worden war. Dessen Beschreibung trifft beinahe haargenau auf Mad Marshall zu. Die Polizei vermutet einen Nachahmungstäter und rechnet mit weiteren Morden. Zur Zeit wird im Stadtrat über die Verhängung einer Ausgangssperre beraten, bis etwas Licht in den blutrünstigen Mord an Jason Riley gebracht werden kann oder der Täter gefaßt worden ist.
Am Tatort wurden keine Tatwaffen aufgefunden! Von dem Verdächtigen fehlt bis jetzt jede Spur, die Fahndung wurde jedoch bereits über ganz New England ausgebreitet. Phantombilder wurden an kanadische Grenzübergänge weitergegeben. Es wird eine Rückkehr der Hakenmorde befürchtet.
Es wurden - wie von T.L. Eroll, leitender Ermittler der Staatspolizei, verlautet wurde - mehrere Fingerabdrücke am Tatort sichergestellt, die jedoch noch nicht identifiziert werden konnten. Unbestätigten Meldungen zufolge, wurde das Federal Bureau of Investigation zu dem Fall herangezogen.
Unweit von Riley's Haus wurden Fußabdrücke sichergestellt, die in den Wald hineinführen, und zur Stunde durchkämmt ein Suchtrupp der Staatspolizei und einigen Freiwilligen der Stadt die nordwestlichen Wälder von Hailey auf der Suche nach weiteren Spuren, die zur Ergreifung des Hakenmörders führen könnten.
Wir halten Sie auf dem Laufenden! Lesen Sie die neuesten Meldungen zu diesem spannenden Fall morgen, in einer neuen Ausgabe von The Daily Hailey.

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