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Begegnung im Eis

Aus den Aufzeichnungen von J.M. Walter, Leiter des Heims für invalide und notleidende Naturwissenschaftler, private Dr.-R.-v.-Wenger-Stiftung:

Heute morgen klopfte Schwester Margit heftig an die Tür zu meinem Büro. Aufgeregt erzählte sie mir, daß sie den merkwürdigen Doktor Günther tot in seinem Zimmer aufgefunden habe. Als wir gemeinsam in das Zimmer des Alten gingen, fanden wir ihn in seinem Rollstuhl sitzend vor dem Fenster, das zum Garten mit der alten Kastanie hinaus blickte. Seine Augen waren weit geöffnet, so als sei er noch in der Betrachtung der schönen Herbstlandschaft versunken. Er war offenbar friedlich gestorben. Auf seinem Schoß lagen ein kleines Tonbandgerät, sowie ein alterümlich wirkendes, in Leder gebundenes Büchlein. Beides nahm ich an mich und gab der Schwester die Anweisung, alles Nötige zu veranlassen. Tonband und Büchlein nahm ich mit nach Hause, weil sie auf merkwürdige Weise meine Neugier erregt hatten. Zuhause angekommen, machte ich es mir vor dem Kamin gemütlich und schaltete das Tonband an:

"Die große Kastanie vor meinem Fenster beginnt ihre Blätter abzuwerfen und ergibt sich der unausweichlichen Gesetzmäßigkeit der Jahreszeiten. Meine Augen werden von der tief stehenden Sonne geblendet, die das braune, abgestorbene Laub aufleuchten läßt wie honigfarbenen Bernstein. Der Winter naht und die bald einsetzenden, kalten Nächte schicken mir ihre ersten Vorboten des Schmerzes.

Herbst, die Zeit, in der sich die Natur auf ihren kleinen Tod vorbereitet. So wie ich mich auf meinen großen Tod vorbereite; spüre ich doch, daß meine Zeit bald kommen wird. Und im Gegensatz zur Natur, wird sich bei mir kein Frühlingserwachen einstellen.

So nahe ich dem Ende auch bin, gewährt mir doch das Alter nicht die Gnade, Schmerzen weniger intensiv zu erleben. Im Gegenteil glaube ich, daß ich mit zunehmendem Alter gegen Schmerz empfindlicher geworden bin. Das Leben hat eben keine Achtung vor dem Alter. Noch nach so vielen Jahren brennt die gnadenlos lähmende Kälte des Pols in meinen Füßen und Fingern. Und das, obwohl man mir meine Gliedmaßen schon vor 35 Jahren amputiert hat. Erfroren, nicht mehr als tiefgekühltes Fleisch von einem kränklichen Schwarzblau. Immer wenn der Sommer sich dem Ende zuneigt und die kalte Jahreszeit bevorsteht, machen sich die Stümpfe an meinen Beinen und Händen bemerkbar. Mein Trost ist, daß ich diesen Schmerz zum letzten Mal fühlen werde.

Daß man mich in jener Nacht vor der Polarstation gefunden hatte, war reiner Zufall. Niemand hatte mehr damit gerechnet, mich noch aufzufinden. Nach über einer Woche war alle Hoffnung gestorben, mich noch lebend anzutreffen. Die Suchtrupps hatten ihre Arbeit eingestellt und ich galt offiziell als verschollen, tot.

Kein Mensch konnte mehr als einen Tag dort draußen bei minus fünfzig Grad inmitten der tobenden Eisstürme und tückischen Fallwinde überleben. Und wäre in jener Nacht nicht einer der Dieselgeneratoren ausgefallen, wodurch einer der Techniker gezwungen war, nach draußen zu gehen, wäre ich nach meiner Odyssee auch tatsächlich gestorben. Doch so fand er mich, als er fast über meinen leblosen Körper stolperte. Er schleifte mich in die rettende Station, wo man mich in buchstäblich letztem Moment vor dem Erfrierungstod rettete. Ich hatte überlebt. Jedenfalls teilweise.

Neun Tage war ich dort draußen gewesen in der tosenden Hölle aus Eis und messerscharfen Schneekristallen, entkommen einem Sturm, der brüllte wie ein um seine Beute betrogenes Raubtier.

Bis heute habe ich niemandem erzählt, was ich dort draußen gesehen und erlebt habe. Ich bin sicher, daß man mich für geisteskrank erklärt hätte und man geglaubt haben würde, ich hätte in der Eishölle der Antarktis nicht nur meine Gliedmaßen sondern auch meinen Verstand eingebüßt.

Doch noch immer befinde ich mich im Besitz eines Gegenstandes, welcher beweist, daß meine Erlebnisse nicht in das Reich der Phantasie zu verweisen sind sondern durchaus real waren. Ich habe es bisher gut weggeschlossen in meinem Nachtschränkchen aufbewahrt und keine der Pflegerinnen des Heims weiß von seiner Existenz. Sicher wird man es erst nach meinem Tode finden, zusammen mit diesen Aufnahmen, die ich auf mein Tonband spreche, bevor es an der Zeit ist, Abschied zu nehmen.

Niemand hatte den Gegenstand damals entdeckt, als ich im Schnee gefunden wurde. Ich trug es in einer der Außentaschen meines Parkas und als man mich auszog, um mich gegen die Erfrierungen zu behandeln, hatte man das Kleidungsstück achtlos in eine Ecke geworfen. Später hatte dann irgend jemand den Parka zusammen mit anderen noch brauchbaren Kleidungsstücken in meine Unterkunft gelegt, wo ich später alles unberührt vorfand. Ich war damals gerade 40 Jahre alt geworden und hatte mit der Vorlage aufsehenerregender wissenschaftlicher Arbeiten über die geologische Vergangenheit der Antarktis einen mehrmonatigen Forschungsaufenthalt auf dem kältesten aller Kontinente gewonnen.

Da ich es kaum erwarten konnte, erzwang ich gegen alle Vorschriften, mit der mir eigenen Hartnäckigkeit, die Möglichkeit, noch vor Eintreffen der anderen Forschungsteilnehmer die Station aufzusuchen, um schon alleine mit meiner Arbeit beginnen zu können.

Ich war begierig darauf, die Weiten der eisigen Wüste wenigstens zwei Wochen lang für mich ganz alleine zu haben. So kam ich mit meinem Schneemobil an einem ungewöhnlich windstillen und sonnigen Tag bei der Station an, die offenbar nur darauf zu warten schien, von mir in Betrieb genommen zu werden.

Die Forschungsstation war erst vor kurzem im Auftrag eines globalen Wirtschaftskonzerns speziell für herausragende wissenschaftliche Kapazitäten nach modernsten Erkenntnissen gebaut worden und verfügte über alles, was einem Wissenschaftler das Herz höher schlagen läßt. Während der Abwesenheit jeglichen Personals war die Station automatisch auf Minimalbetrieb heruntergefahren worden und nachdem ich die Tür dort geöffnet hatte, legte ich nach einer schriftlichen Anweisung, die ich erhalten hatte, ein paar Hebel um, was zur Folge hatte, daß alle wichtigen Systeme umgehend ihre Arbeit aufnahmen.

Ich war der glücklichste Mensch auf Erden, bereit für eine der größten Herausforderungen, die ich mir denken konnte: zwei Wochen alleine auf jenem Kontinent, der mich schon als kleiner Junge in seinen Bann gezogen hatte. Nachdem ich einen Funkspruch abgesetzt hatte, in dem ich meine wohlbehaltene Ankunft mitteilte und ich mich, so gut es eben ging, in meiner kleinen Kabine eingerichtet hatte, war ich trotz der Reisestrapazen immer noch voller Tatendrang. So beschloß ich, vor dem Abendessen das verhältnismäßig gute Wetter für einen kleinen Spaziergang zu nutzen.
Alles war weit überwältigender, von einer seltsamen Magie und fern von dem, was ich mir in meinen kühnsten Träumen jemals hätte vorstellen können. Das Gefühl, hier draußen der einsamste Mensch auf diesem Planeten zu sein, war geradezu körperlich spürbar. Doch grämte mich dieser Umstand keinesfalls. Im Gegenteil.
Schon in frühen Jahren hatte sich meine einzelgängerische Veranlagung heraus kristallisiert, die mich die Gesellschaft anderer Kinder, so weit es eben möglich war, meiden ließ. Stets war es mein kindlicher Traum gewesen, auf einer einsamen Insel zu stranden, auf der ich mich jahrelang durchschlagen mußte, wie einst Daniel Defoes unvergessener Held Robinson Crusoe.

Aber das hier, dieser gewaltige menschenleere Kontinent, schien mich mit seinen endlosen Weiten, den schier unüberschaubaren Eis- und Schneemassen geradezu erdrücken zu wollen. Und doch war ich so zufrieden wie niemals zuvor und nachher in meinem Leben. Ich stand am Rande des Schelfs, starrte wie betäubt in die in allen Regenbogenfarben untergehende Sonne. Die mächtigen Eisberge flammten auf, als vergingen sie in einem alles verschlingenden kosmischen Feuer, während ich die Arme ausbreitete, als wollte ich diesen gewaltigen Kontinent umfangen. Ich glaube, an diesem ersten Abend habe ich geweint.
Nach meiner Rückkehr, bereitete ich mir aus der gut sortierten Vorratskammer ein herzhaftes Abendessen zu und schlief anschließend erschöpft von der langen Anreise ein.

Etwa drei Stunden später wachte ich aus einem zutiefst irritierenden Traum auf, in dem ich mich zu Fuß durch eine endlose, dunkle Eiswüste gequält hatte. Ich sah, daß ich in merkwürdig altertümliche und völlig unzulängliche Kleidung gehüllt war, die mir teilweise in Fetzen vom Körper hing. Mein bärtiges Gesicht war durch den tobenden Schneesturm und durch die unmenschliche Kälte in eine Maske aus vereistem Rotz und Schweiß verwandelt. Mit der letzten, mir verbleibenden Kraft gelang es mir, einen Iglu zu erreichen, aus dessen Eingang der sanfte Schimmer eines wärmenden Feuers drang. Endlich Rettung vor dem entsetzlichen Erfrierungstod. Ich beschleunigte meine Schritte, so gut es meine ermbärmliche Verfassung zuließ. Doch als ich vor dem Iglu stand, fand ich den Einlaß verschlossen. Ich stieß einen heißeren Wutschrei aus, der vom Tosen des Sturms verschluckt und davon getragen wurde, hinaus in die hoffnungslose Ödnis aus immerwährender Kälte und Verdammnis.
Verzweifelt trommelte ich mit meinen Fäusten gegen die Schneeblöcke, Einlaß begehrend, mich nach etwas Wärme sehnend. So nah war die Rettung und doch war ich dem Tode geweiht. Noch einmal schrie ich auf, sackte auf die Knie... und erwachte.

Mein Körper war von Schweiß bedeckt und unter der Decke fror ich trotz der laufenden Heizung, die meine Kabine auf eine angenehmen Temperatur gebracht hatte. Im nämlichen Augenblick zuckte ich erschrocken zusammen. Von draußen hörte ich das schwache Echo des Klopfens aus meinem Traum, so, als schlüge jemand mit der Faust gegen die Eingangstür der Station. Das war natürlich unmöglich. Ich warf einen Blick aus dem kleinen Bullauge meiner Kabine nach draußen, wo mittlerweile ein heftiger Schneesturm eingesetzt hatte. Im Licht des Außenscheinwerfers, der des Nachts stets eingeschaltet war, vermochte ich nichts als die vorbei rasenden Schneemassen zu erkennen. Leise hörte ich durch die dicke Isolierung der Außenwand das Wimmern des arktischen Windes. Obwohl ich sicher war, daß es sich bei dem Klopfen wahrscheinlich nur um einen losgerissenen Ausrüstungsgegenstand oder um einen Eisklumpen gehandelt haben mußte, der vom Sturm gegen die Tür geschleudert worden war, zog ich mich umständlich an und stapfte zum Ausgang. Ich streifte meine Gesichtsmaske über und stemmte mich gegen die Tür.

Draußen tobte ein wahres Inferno. Selbst durch die isolierende Kleidung fraß sich die Kälte innerhalb weniger Augenblicke bis in mein Innerstes. Schwerfällig stapfte ich einige Meter auf den vom Scheinwerfer dürftig beleuchteten Platz vor der Station und sah mich um. Ich wollte gerade vor der beißenden Kälte wieder ins Innere fliehen, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrzunehmen glaubte. Nicht mehr als ein huschender Schatten, doch eine Bewegung, so als habe jemand versucht, sich im letzten Augenblick vor mir zu verstecken. Noch einige Sekunden starrte ich in die Richtung, in der ich den Schatten vermutete, doch war nichts mehr zu sehen. Ich mußte einer Sinnestäuschung erlegen sein. Bis auf die Knochen durchgefroren, begab ich mich schleunigst in die Station, wo ich mir einen heißen Tee zubereitete. Anschließend legte ich mich dick eingepackt wieder in mein Bett, um den Rest der Nacht tief und ohne weitere Träume zu schlafen.

Als ich am nächsten Morgen frisch und voller Tatendrang aufwachte, hatte ich den nächtlichen Zwischenfall längst vergessen. Ich setzte meinen obligatorischen Funkspruch ab und verbrachte einen arbeitsreichen Tag mit Messungen sowie weiteren Spaziergängen, da der Sturm sich mit zunehmendem Sonnenschein gelegt hatte und merkte dabei gar nicht, wie die Zeit verstrich. Ehe ich es mich versehen hatte, setzte die Dunkelheit ein und ich sah mich gezwungen, in die Station zurückzukehren, wo allerdings auch noch jede Menge Schreibarbeit auf mich wartete. Schließlich fiel ich nach einem kargen Nachtmahl in mein Bett. Nachdem ich dort noch einige Notizen in mein Logbuch gemacht hatte, schlief ich ein.

Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, doch schreckte ich mitten in der Nacht aus diesmal traumlosem Schlaf auf. Geweckt von einem Klopfen. Genau wie die Nacht zuvor. Wieder vermeinte ich jenes metallische Geräusch vernommen zu haben, als ob jemand mit Fäusten gegen die stählerne Eingangstür der Station getrommelt hätte. Schnell warf ich einen Blick aus dem Fenster. Diese Nacht hatte ich mehr Glück. Keine Schneeflocke fiel und offenbar hatte auch der scheinbar nie enden wollende Wind wieder eine kleine Pause eingelegt. Ich konnte bis hinüber zu den Versorgungsgebäuden alles klar und deutlich erkennen. Und tatsächlich. Zu meinem größten Erstaunen und, ich gebe es zu, mit einem bleiernen Klumpen aus Angst im Herzen, erkannte ich so etwas wie eine große, plumpe Gestalt, die hinter dem Generatorenhaus verschwand. Im ersten Augenblick hatte ich den Eindruck, als würde sie sich kurz vor ihrem Verschwinden umdrehen, um mir unbeholfen zuzuwinken. Doch verwies ich diesen Eindruck sofort ins Reich meiner überreizten Phantasie. So schnell wie möglich zog ich mich an und stürzte nach draußen. Wenn dort tatsächlich jemand gewesen war, so mußte ich unter diesen Witterungsbedingungen seine Spuren im tiefen Schnee finden. Die Nacht war kristallklar und schneidend kalt. Über mir funkelte ein fremder Sternenhimmel in nie gesehenem Glanz. Doch hatte ich in diesem Moment keinen Blick für die Schönheiten der Natur. Mit weit ausholenden Schritten stapfte ich, so schnell es der tiefe Schnee zuließ, zum Generatorenhaus, wo ich die Gestalt zu sehen geglaubt hatte. Doch wie groß war meine Verblüffung, als ich dort nichts fand. Der Schnee glitzerte unberührt im Licht des Scheinwerfers und des polaren Sternenhimmels. Zutiefst verstört ließ ich mich auf die Knie nieder und untersuchte den Boden peinlich genau nach etwaigen Spuren. So groß und massig, wie die Erscheinung gewirkt hatte, war es einfach unmöglich, daß sie in dem Schnee keine Abdrücke hinterlassen hatte. Ich stand vor einem Rätsel. In der Antarktis gab es keine Bären; und Pinguine wurden nicht so groß. Wer war jener unheimliche Besucher, der hier auftauchte, ohne die geringste Spur zu hinterlassen? War ich schon in den ersten achtundvierzig Stunden antarktischer Einsamkeit kurz davor, den Verstand zu verlieren? Nein, das konnte einfach nicht sein. Hatte ich doch gerade diese Einsamkeit herbei gesehnt, wie noch nie etwas in meinem Leben.
Nachdem ich rund um die Versorgungshütten noch einmal alles vergebens nach Spuren abgesucht hatte, ging ich frierend und meinen Gedanken nachhängend zur Station zurück. Und noch während ich mir wieder einen Tee kochte, um mich ein wenig aufzuwärmen, bevor ich meine Kabine aufsuchte, faßte ich einen Plan für die kommende Nacht.

Der nächste Tag verging ähnlich wie die voran gegangenen. Ich brachte die Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit mit Außenarbeiten und Spaziergängen entlang des Schelfs zu, reparierte ein Windrad, das der Sturm beschädigt hatte und nahm unzählige meteorologische und geologische Messungen vor. Bis zum Eintreffen der anderen Stationsmitglieder blieb mir auch nichts anderes übrig. Solange mußte ich mich gedulden, bis wir auf längere Exkursionen ins ewige Eis gehen konnten. Alleine wäre dies einem Selbstmord gleich gekommen. Auch wenn ich hin und wieder einen sehnsüchtigen Blick in Richtung der endlosen Eiswüste warf. Doch der Abend kam schnell und ein aufkommender Schneesturm zwang mich dazu, den Schutz der Station aufzusuchen. Sobald ich die Tür hinter mir zugeschlagen hatte, bemerkte ich, wie ein Gefühl wachsender Ungeduld und Spannung sich in mir breit machte. Immer wieder sah ich auf die Uhr, doch schien die Zeit hier drinnen, wo ich zum Nichtstun verurteilt war, viel langsamer zu vergehen. Ich zwang mich zu einigen langweiligen Routinearbeiten, trug Meßdaten ein, legte Wetterkarten an. Doch schon nach einer Weile ergriff wieder Unruhe von mir Besitz. Ich legte Bleistift und Kartenmaterial beiseite und begab mich in den Küchentrakt, wo ich mir eine Tasse Tee kochte. Zuerst hatte ich vorgehabt, am Fenster meiner Kabine, von wo aus ich den besten Überblick über den Vorplatz der Station hatte, die Nacht wachend zu verbringen. Doch dann sagte mir etwas, daß ich so keinen Erfolg haben würde. Mit einer ans Unheimliche grenzenden Gewißheit ging ich davon aus, daß mein merkwürdiger Besucher nicht auftauchen würde, während ich hier wachend saß. Ich mußte also schlafen. Doch wie sollte ich das im Zustand höchster Erregung, in dem ich mich zweifelsohne befand, zustande bringen? Nie würde ich die nötige Ruhe finden, um schlafen zu können. Nichts desto weniger machte ich einen Versuch. Doch nachdem ich mich eine halbe Stunde auf meinem Bett hin und her gewälzt hatte, gab ich auf. Schweren Herzens begab ich mich zur Apotheke, wo ich eine geringe Dosis Schlafmittel zu mir nahm, dabei fürchtend, daß ich das Klopfen meines Besuchers überhören könnte. Doch blieb mir keine andere Wahl. Inzwischen war ich mir absolut sicher, daß er nur kommen würde, ja nur kommen konnte, wenn ich schlief. Irgend etwas hinderte ihn daran, mich aufzusuchen, wenn ich wach war. Was das war, vermochte ich jedoch nicht zu sagen. Nachdem ich das Beruhigungsmittel eingenommen hatte, legte ich mich in meiner Kabine wieder auf das Bett.

Der Schlaf mußte schnell gekommen sein. Denn als ich von einem diesmal viel lauteren Klopfen geweckt wurde, hatte ich das Gefühl, gerade eben erst eingeschlafen zu sein. Doch ein schneller Blick auf das Leuchtzifferblatt meiner Armbanduhr sagte mir, daß es bereits drei Uhr morgens war und ich mehr als fünf Stunden geschlafen hatte. Wieder donnerten die Schläge gegen das Stahlblech der Eingangstür. Eindringlich, fordernd und genau drei mal. Für einen Moment hielt ich inne, hatte für den Bruchteil einer Sekunde den Impuls, nicht nach draußen zu gehen. Schließlich siegte meine Neugier. Und diesmal mußte ich keine Zeit damit verschwenden, mich umständlich in meine dicken Wintersachen zu quälen. Ich war vorbereitet, hatte den Overall schon angezogen, jedoch offengelassen, damit ich nicht zu sehr schwitzte, was draußen hätte gefährlich werden können. Ich schlüpfte also nur noch rasch in meine Stiefel, streifte Handschuhe, Kapuze und Maske im Laufen über und begab mich so schnell wie möglich auf den Weg nach draußen.

Eine klare Nacht empfing mich mit einem funkelnden Sternenhimmel, der sich über mir ausbreitete wie ein diamantener Baldachin. Die klirrende Kälte ließ meinen Atem sofort gefrieren.
Und dann sah ich ihn.
Etwa zehn Meter mir gegenüber stand er, unmittelbar neben dem Generatorenhaus hielt er einen Arm wie zum Gruß erhoben. Ich war wie vom Donner gerührt.

Was ich sah, erschütterte mich zutiefst. Vor mir stand jene Traumgestalt, von der ich noch gestern gedacht hatte, daß ich es sei. Nun jedoch gewahrte ich, daß ich mich lediglich in der Gestalt jenes Fremdlings vor mir gesehen hatte. Er glich meiner Traumfigur, von der ich geglaubt hatte, daß ich es selber sei, bis in das kleinste Detail. Dieselbe altertümliche Polarkleidung bestehend aus mit Fell gefütterten, plumpen Stiefeln, dazu klobige Fellhandschuhe sowie Felljacke. An den Sohlen der Stiefel waren geradezu vorsintflutlich anmutende Schneeschuhe mittels Lederriemen befestigt. Sein bärtiges Gesicht, war vereist und da, wo der Mund hätte sein sollen, war nichts als eine runde Eishöhle, gefroren zu ewigem Erstaunen. Die Augen blieben verborgen hinter einer veralteten Schneebrille. Es dauerte eine Weile, bis ich mich von meinem Entsetzen erholt hatte, so daß ich fast den Augenblick verpaßt hätte, als er sich, behende auf seinen Schneeschuhen bewegend, davon machte. Und noch etwas fiel mir auf. Etwas, das mich tiefer berührte, als alles, was ich bisher in dieser Nacht erlebt hatte. Als er davon lief, vermochte ich keine Atemwolke auszumachen. Es schien, als hielte er die ganze Zeit die Luft an. Was natürlich unmöglich war. So unmöglich, wie das, was mir gerade widerfuhr.

Mochte der Schreck mir auch in die Glieder gefahren sein, zögerte ich nicht den Bruchteil einer Sekunde, ihm zu folgen. Ich kam gar nicht auf die Idee, ihn anzurufen. Etwas sagte mir, daß es sinnlos geblieben wäre. Wiederum war ich erstaunt, als ich gewahr wurde, wie geschickt er sich im tiefen Schnee zu bewegen vermochte, förmlich über die glitzernde, eisige Oberfläche schwebte, als glitte er auf Kufen schwerelos dahin. Mit klopfendem Herzen stapfte ich los, um zu sehen, wohin mein fremder Besucher sich bewegte. Als ich um das Gerätehaus bog, sah ich ihn auf der Anhöhe stehen, die in die unauslotbaren Weiten der Eiswüste führte. Zu meinem großen Erschrecken bemerkte ich, daß er schon einen erheblichen Vorsprung hatte. Vor dem Hintergrund des funkelnden Polarhimmels stand er aufrecht, mir zugewandt und winkte mir zu. Eine unmißverständliche Geste, ihm zu folgen. Hilflos sah ich mich um. Wenn er mir schon in dieser kurzen Zeit eine solche Distanz vorausgeeilt war, hatte ich keine Chance ihm zu folgen. Und schon setzte er wieder zu seinem schwerelosen Gleiten über Eis und Schnee an. Verzweifelt überlegte ich, was zu tun sei.
Nicht wenige werden sich fragen, ob es nicht eine bedenkliche Reaktion gewesen sein mochte, diesem Schemen um jeden Preis folgen zu wollen. Doch mag man mir nachsehen, wenn ich sage, daß es mir nicht eine Sekunde einfiel, daß es Wahnsinn sein könnte, in dieser klirrend kalten Polarnacht hinaus zu gehen in die weiße Hölle, um diesem Wesen, das meiner Phantasie entsprungen schien, zu folgen. Ganz im Gegenteil.

Fieberhaft arbeitete mein Hirn an einer Lösung des Problems, die auch gleich darauf gefunden war. Ehe ich es mich versah, fand ich mich im Geräteschuppen wieder, wo die Schneekatze untergebracht war. Schon wenige Augenblicke später setzte ich rückwärts aus dem Schuppen und trat das Gaspedal bis auf das Bodenblech durch. Hoch stob der Schnee von den Ketten, als ich das schwere Gefährt in die Richtung steuerte, in der ich den Unbekannten vermutete. Schon nach wenigen Metern hatten die Scheinwerfer seinen dunklen Schatten erfaßt. Doch wie schnell war er schon vorangekommen! Weit vor mir konnte ich seine Silhouette erkennen. Wartend, unbeweglich. Für mich gab es keine Zögern. Wie besessen gab ich Vollgas und beschleunigte, ohne auf Eisspalten oder Felsvorsprünge achtzugeben. Kaum hatte sich mein Gefährt in Bewegung gesetzt, sah ich, wie die Gestalt ihren geisterhaften Lauf wieder aufnahm. Und so sehr ich auch beschleunigte, vermochte ich es dennoch nicht, die Distanz zu dem Unbekannten nennenswert zu vermindern. Ich bin außerstande, mir in Erinnerung zu rufen, wie lange unsere wahnsinnige Hatz dauerte. Jegliches Zeitgefühl war mir verloren gegangen, nichts zählte mehr als die Verfolgung jenes Geheimnisvollen. Nur ein Umstand brannte sich mir im Verlaufe unseres grotesken Wettrennens bis heute unauslöschlich in mein Gedächtnis. Es war das Gefühl, das uns beide auf unheilvolle Weise etwas verband. Nach einer Weile hatte ich den Eindruck, als habe er seit langer Zeit nur auf mein Eintreffen gewartet. Dort draußen, im ewigen Eis. Und nun fuhr ich dahin, nicht achtend des Weges, den ich nahm, als habe ich ein ebenso blindes wie irres Vertrauen, in den Weg, den der Unbekannte einschlug. Nur flüchtig gewahrte ich am Wegesrand die Schatten gähnender Gletscherspalten, die ich wie traumwandlerisch umfuhr.

Immer länger dauerte unsere Reise in das glitzernde Nichts, während das Brummen der Maschine mich in eine Art Trance versetzte, in deren Focus sich nur die über Eis und Schnee gleitende Gestalt in mein Bewußtsein brannte. Raum und Zeit verloren an Bedeutung, nur unsere unwirkliche Reise schien jetzt wichtig zu sein. Um so mehr traf mich der Schock, als der Dieselmotor mit einem Rucken zum Stillstand kam. Hart schlug ich mit der Stirn gegen die Frontscheibe, als das schwere Gefährt zum Stehen kam. Es dauerte einige Sekunden, bevor ich zur Besinnung kam und wie aus einem Traum erwachend, verwirrt um mich blickte. Tatsächlich versuchte ich, eine Weile lang vergeblich, aus einem Traum aufzuwachen, der keiner war. Schließlich erfaßte mich ein unermeßliches Grauen, als ich gewahrte, daß ich mich tatsächlich mitten im Herzen der arktischen Wüste befinden mußte. Der Tank, extra mit Übergröße ausgestattet, vor meiner wahnsinnigen Reise noch bis an den Rand gefüllt, war offenbar leer. Die Nadel der Anzeige war bis zum Anschlag nach unten gesackt. Ich mußte also viele hundert Meilen weit gefahren sein. Ein dunkelroter Schimmer zeigte an, daß ein weiterer polarer Tag im Begriff war, mir sein entsetzliches Gesicht zu zeigen. Und dort, nur etwa hundert Meter vor mir am Horizont, stand er. Beide Arme hingen an seiner Seite herab, den Kopf gesenkt, als wollte er mir damit signalisieren, daß unsere Reise nun an ihrem Ende angelangt war.

Mühsam raffte ich mich auf, versuchte, das aufkommende Entsetzen über das scheinbar Ausweglose meiner Situation zu verdrängen. Als ich aus der beheizten Fahrerkabine ins Freie trat, traf mich die antarktische Kälte wie ein Faustschlag in die Magengrube, mir den Atem nehmend. Ich sah mich um und erblickte auf endlose Meilen nichts als Schnee und Eis. Mit der aufgehenden Sonne hatte ein scharfer Wind eingesetzt, der die tödliche Kälte nur noch verstärkte. Der Aufprall gegen die Windschutzscheibe des Schneemobils hatte mich ein wenig in die Wirklichkeit zurück geholt. Ich beeilte mich, meine Gesichtsmaske aufzusetzen, um dem beißenden Wind nicht ganz ungeschützt ausgesetzt zu sein. Nachdem ich meine Schneebrille aufgesetzt hatte, sah ich in die Richtung, in der ich den Fremden zuletzt gesehen hatte. Er stand immer noch unbeweglich am selben Fleck. Nachdem der Rausch der Verfolgungsjagd sich gelegt hatte, begann ich das Ausmaß meiner Notlage zu begreifen. Der Tank des Schneemobils war leer und zu Fuß würde ich keine Chance haben, die Station je lebend zu Erreichen. Mein Todesurteil schien gesprochen.

Als ich meinen Blick hob, sah ich, daß mein geisterhafter Anführer wieder eine Hand erhoben hatte und mir mit einer Geste bedeutete, zu ihm zu kommen. Ich erschauderte. Was blieb mir übrig? Wenn ich schon sterben mußte, wollte ich doch wenigstens sein Geheimnis lüften. Mich gegen den nun immer heftiger werdenden Wind stemmend, stapfte ich durch den verharschten Schnee auf die eingemummte Gestalt zu. Reglos harrte er meiner. Wieder fiel mir auf, daß aus seiner vereisten Mundhöhle kein Atemhauch drang. Angst befiel mich, ja abgrundtiefe Panik. Meinte ich in diesem Augenblick in ihm doch nichts anderes zu sehen, als den Tod selber. War ich am Ende schon tot, lag mein Körper steif gefroren längst irgendwo da draußen im ewigen Eis, während meine Seele ihre letzte Wanderung antrat? Stand ich dem Fährmann gegenüber, der bereit war, mich ins Jenseits überzusetzen? Der Gedanke wurde durch eine herrische Geste meines Gegenübers unterbrochen. Jetzt, ihm direkt gegenüber stehend, bemerkte zum ersten Mal seinen verwahrlosten, nachgerade mitleiderregenden Zustand. Stumm ragte er vor mir auf, während seine behandschuhte Rechte direkt vor mir nach unten in den Schnee zeigte. Ich nahm mir die Zeit, ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Das Leder seiner Kleidung und Schuhe wirkte brüchig, hart und war eisverkrustet, als wäre es jahrelang der erbarmungslosen Witterung der Antarktis ausgesetzt gewesen. Seine offenstehende Jacke zeigte einen zerschlissenen, wollenen Pullover von unbestimmbarer Farbe. Alles das mutete auf eine erschreckende Weise altertümlich an und jagte mir eine irrationale Angst ein. Den Gedanken, der sich in diesem Moment in mir zu manifestieren anschickte, verjagte ich sofort wieder. Zu unglaublich, ja wahnsinnig schien mir diese Folgerung. Durch die vereiste Mundhöhle konnte ich in der trüben antarktischen Sonne nichts als Schwärze erkennen. Was sich hinter den dunklen Augengläsern der Schneebrille verbarg, vermochte ich nicht zu ergründen und ich war mir auch nicht sicher, ob ich das überhaupt wollte. Etwas sagte mir, daß es für einen Menschen von halbwegs intakten Verstand, nicht gesund gewesen wäre, einen Blick in jene Augen zu riskieren. Ich beugte mich hinab, folgte der Richtung, in die seine ausgestreckte Hand wies. Anfangs war ich verwirrt, außer Schnee und Eis erkannte ich dort natürlich nichts. Doch als er weiter beharrlich auf den Boden wies, begann ich zu begreifen. Ich hastete zum Schneemobil und holte Eispickel und Klappspaten hervor. Als ich zu ihm zurück kehrte, stand er immer noch in der gleichen Position, nicht achtend des wütenden Schneesturms, zu dem sich der scharfe Wind inzwischen entwickelt hatte. Sicher wird man jetzt anführen, und das nicht ganz zu unrecht, ich sei nicht mehr Herr meiner Sinne gewesen. Anstatt wenigstens einen Versuch zu unternehmen, einen Ausweg aus meiner Situation zu finden, fing ich mitten in der Antarktis an, mit dem Eifer eines hoffnungslos unverbesserlichen Goldsuchers, ein Loch ins Eis zu hacken. Doch glauben Sie mir, in jenem Moment kam mir nichts natürlicher vor, als eben dies. Und wie ein Monument harrte er neben mir aus. Den Kopf gesenkt, als habe Müdigkeit von ihm Besitz ergriffen, die Arme schlaff an der Seite hängend.

Ich weiß nicht, woher ich die Energie nahm, doch grub ich stundenlang und fast gänzlich ohne Pause, bis ich zur Hüfte in einem Loch stand, in dem ich sogar noch leidlich Schutz vor dem immer schlimmer werdenden Schneesturm fand, der sich zu einem Blizzard auszuwachsen begann. Schaufelte ich hier am Ende mein eigenes Grab? Ich verwarf den Gedanken umgehend, schien er doch bei all der Absurdität der Szene, keine innere Wahrheit in sich zu tragen. Jener unheimliche Fremde hatte mich nicht ins Herz des südlichsten Kontinents gelockt, nur um mich dort eine Grube schaufeln zu lassen, in der ich mein Leben aushauchen sollte. Der kurze Tag neigte sich seinem Ende zu und die Düsternis kam schnell. Erschreckend schnell. Über mir heulte der Orkan wie ein tollwütiges Tier, trieb Eiskristalle mit Windgeschwindigkeiten von über 100 Meilen vor sich her. Tatsächlich schützte mich die Grube vor dem Toben des Sturms und während ich wie besessen weiter grub, sah ich seinen Schatten über dem Schacht drohen, reglos, unberührt von dem um ihn herum tosenden Elementen. Ich kann mich nicht entsinnen, wie lange ich Spaten und Eispickel schwang, doch herrschte um mich herum immer noch tiefste Finsternis, als ich durch das Heulen des Sturms einen scharfen metallischen Klang vernahm. Mein Spaten war auf Widerstand gestoßen. Wie soll ich beschreiben, was sich in jenem Moment abspielte. Selbst durch das Heulen des Windes hörte ich jenes schauderhafte Klagen. Es war das erste Mal, daß dieser Sendbote der Hölle einen Laut von sich gab. Doch war er von solcher Abscheulichkeit, daß ich unversehens auf die Knie sank, um mir die Ohren zuzuhalten. Ich sah hinauf zum Rande des Schachtes, wo er stand. Er hatte den Kopf gehoben, wie ein heulender Wolf, die Hände zu Fäusten geballt und von ihm ging eine solche Welle des Hasses und der Wut aus, daß ich sie als schier unerträglichen, körperlichen Schmerz spürte. Ich krümmte mich am Boden der Grube und winselte um Gnade, daß der Schmerz ein Ende haben möge. Mein Flehen wurde erhört, denn schon im nächsten Augenblick blieb nur noch das Wimmern, Tosen und Summen des Blizzards, der die Schneemassen, als wogende Wand vor sich herjagte. Ich richtete mich auf und mußte keine weiteren Gesten abwarten, um zu wissen, was von mir verlangt wurde. Hastig grub ich weiter, räumte den Schnee rund um einen metallenen Behälter beiseite, der die Dimensionen eines kleinen Reisekoffers hatte. Hart schlug mein Spaten gegen ein Vorhängeschloß, welches dem Aussehen nach ebenfalls aus einer längst vergangen Zeit stammen mußte.

Mit Hilfe des Eispickels war es ein Leichtes, das stark korrodierte Schloß zu sprengen. Über mir ragte immer noch düster dräuend der Schatten des Unheimlichen, eine Spannung ausstrahlend, die sich auf mich übertrug. Die Spitze des Pickels als Hebel benutzend, öffnete ich den klemmenden Deckel. Scheppernd sprang er auf.

Im ersten Augenblick war ich ob des Inhaltes enttäuscht, obwohl ich natürlich vorher nicht gewußt hatte, was ich erwarten sollte. Bis auf ein kleines, in Leder gebundenes Bündel war die Kassette leer. Doch schien es genau das zu sein, was die seltsame Gestalt über mir erwartet hatte, hörte ich doch im nämlichen Augenblick, als der Deckel zurück flog, ein schauerliches Triumphgeheul, das mir die Haare zu Bergen stehen ließ. Ich sah ihn an in Erwartung einer Geste, die mir sagen würde, was nun zu tun sei. Doch zu meinem größten Erstaunen trat er einfach einen Schritt vom Rand der Grube zurück, als erwarte er, daß ich heraus kletterte. Mein Erstaunen verwandelte sich in eine Mischung aus Angst und Wut. Sollte das alles gewesen sein, weswegen mich diese abscheuliche Kreatur ins offenbar sichere Verderben gelockt hatte? In einem Anfall von Jähzorn hob ich die Hand mit dem Päckchen, um es weit in den Sturm zu schleudern, der es für immer davon tragen sollte. Doch kaum hatte ich meinen Arm erhoben, als ein stechender Schmerz durch mich hindurch fuhr, wie ich ihn noch nie in meinem Leben empfunden hatte. Er pflanzte sich fort von den Fingerspitzen der zum Wurf bereiten Hand bis zur Schulter und weiter zu meinem Herz. Ich schrie auf, ließ meine Hand sinken und starrte auf das Päckchen. Schließlich gab ich meinen lächerlichen Widerstand auf und stopfte es in eine der Außentaschen meines Overalls. Vom Boden der Grube sah ich zu ihm auf, wie er da oben stand, völlig unbeeindruckt von den mörderischen Böen, die an seiner zerlumpten Kleidung rissen. Und jetzt erst merkte ich zum ersten Mal, daß die äußeren physikalischen Bedingungen eine merkliche Auswirkung auf ihn zu haben schienen. Teile seiner Jacke und seines zerfressenen, pelzbesetzten Kragens wurden vom Sturm und von den messerscharfen Eiskristallen einfach zerfetzt und davon geweht. Es war so, als begänne er sich nach und nach aufzulösen. Und tatsächlich. Mit Entsetzen verfolgte ich, wie der Sturm ihn Stück für Stück mit sich forttrug, sich nun, da die Energie der merkwürdigen Geistererscheinung am ersterben war, über ihn hermachte, wie eine hungrige Bestie. Immer mehr Stücke wurden davon gefetzt, wie von einem Sandstrahler. Mit ungläubigem Entsetzen verfolgte ich den Verfall und sah gleichzeitig meine letzte Hoffnung schwinden, jemals diesem eisigen Inferno zu entrinnen. Ich hatte gar nicht gemerkt, daß ich angefangen hatte zu schreien. Ich flehte auf Knien, bettelte ihn an, sich doch den Elementen zu widersetzen und merkte nicht, daß er schon längst in alle Himmelsrichtungen verstreut war. Nur ein letzter Lederfetzen, der von seinen Schneeschuhen übrig geblieben war widersetzte sich dem Wüten des Sturms, wurde dann schließlich auch davon geweht in die Endlosigkeit der antarktischen Nacht, gleich dem letzten Fünkchen Hoffnung, das noch in mir geglommen hatte.

Da kauerte ich nun schluchzend am Grunde eines eisigen Grabes mitten in einer grenzenlosen Einöde aus Eis, Schnee und tosenden Stürmen. Heiße Tränen rannen unter meiner Maske meine Wangen hinab, wo sie umgehend zu Eis erstarrten. So wie alles hier erstarrt war, der absoluten Bewegungslosigkeit entgegen strebte, der letzten Kälte, die schließlich dafür sorgen würde, daß alle Atome zum Stillstand kämen. Ich schloß die Augen, ergab mich dem tosen des Orkans und ließ alle Hoffnung fahren.

Als ich das Bewußtsein wieder erlangte, befand ich mich auf der Krankenstation der Forschungsstation. So bald man festgestellt hatte, daß ich zu mir gekommen war, drängten sich alle um mein Bett. Behutsam wurden mir die Umstände mitgeteilt, unter denen ich gefunden wurde, wie es um meine Gesundheit stand und welches Wunder es doch sei, daß ich überhaupt noch am Leben war. Vergebens drängte man mich, zu erzählen, wie ich es vermocht hatte, dort draußen zu erleben. Wußte ich doch selber nicht, wie ich es zurück geschafft hatte. Umgekehrt begehrte ich, die Umstände meiner Rettung in Erfahrung zu bringen, was umgehend geschah. Nachdem man vergeblich auf meinen morgendlichen Funkspruch gewartet hatte, war man davon ausgegangen, daß mir etwas zugestoßen sein mußte. Zufällig befand sich zu dem Zeitpunkt ein Eisbrecher in der Nähe, der einen großen Hubschrauber mit sich führte. Man setzte einen Notruf ab und schon einen Tag nach meinem letzten abgesetzten Funkspruch war eine Rettungsmannschaft vor Ort. Doch war von mir keine Spur zu finden gewesen. Die Spuren des Schneemobils verloren sich alsbald in den Weiten der Eiswüste und nach einer Woche hatte man die Suche nach mir eingestellt. Das Gefährt selbst blieb verschwunden und um so größer war das Erstaunen, als man mich vor der Forschungsstation fand. Ich selber konnte mich, wie schon eingangs erwähnt, nach meinem Zusammenbruch in der Grube an nichts erinnern. Weder wie ich die lange Zeit in jenem tosenden Inferno überlebte, noch wie ich durch die Weiten der kalten Ödnis zum Ausgangspunkt meiner gleichermaßen wundersamen wie entsetzlichen Reise zurück gefunden hatte. Hatte jener Unheimliche, der sich vor meinen Augen aufgelöst hatte, noch dafür gesorgt, daß ich lebend zurück gelangte? Ich weiß es nicht. Nur, daß ich, kaum erwacht, meine Retter anflehte, auf meine Sachen acht zu geben. Als ich jedoch merkte, wie seltsam sie mich ob meiner überschwenglich vorgetragenen Bitte anstarrten, fürchtete ich, sie könnten glauben, ich hätte dort draußen den Verstand verloren. So versuchte ich sie davon zu überzeugen, daß ich meine Ausrüstung lediglich nicht missen wollte, weil sie mir das Leben gerettet hatte und ich sie als Andenken in Zukunft aufbewahren wollte. So gelang es mir, einen der Männer dazu zu bewegen, in meiner Kabine nachzusehen. Er kam kurz darauf zurück und versicherte mir, daß all meine Sachen sich noch dort befänden und er sie sicher in meinem Spind verschlossen habe. Nachdem ich ihm das Versprechen abgerungen hatte, mir die Sachen nachzuschicken, sank ich in einen tiefen und lange andauernden Schlaf.

Mein Wissen darum, wie lange ich auf der Station noch mit dem Tod rang, liegt im Dunkeln, doch erholte ich mich rasch, nachdem sich mein Zustand erst einmal einigermaßen stabilisiert hatte, so daß ich mich bald als transportfähig erwies und mit dem Hubschrauber zu dem vor Anker liegenden Schiff geflogen wurde, das mich wiederum zur nächsten größeren Ansiedlung brachte. Von dort aus gelangte ich schließlich zurück in meine Heimat. Doch waren die Folgen meines Abenteuers so gravierend für meine Gesundheit gewesen, daß ich fortan nicht mehr ohne Pflege leben konnte. Ich wurde in das Heim überwiesen, in dem ich jetzt meine Geschichte auf Band aufzeichne.

Einige Tage nach meiner Einweisung, kam eine große an mich adressierte Kiste an, in der sich meine Sachen befanden, die ich während jener denkwürdigen Begegnung getragen hatte. Der Mann auf der Forschungsstation hatte sein Versprechen gehalten. Mit klopfendem Herzen sah ich der Pflegerin dabei zu, wie sie die Kiste auspackte und angewidert meine arg mitgenommene Polarkleidung anstarrte. Ich hieß sie alles auf das Bett legen und bat sie, mich alleine zu lassen. Mit Hilfe der an meinem rechten Handstumpf befestigten Prothese konnte ich mir mittlerweile recht leidlich helfen und tastete meinen Overall ab. Mein Herz machte einen Sprung, als ich einen päckchenartigen Gegenstand erfühlen konnte. Umständlich bugsierte ich ihn aus der Außentasche des Overalls. Vor mir auf dem Bett lag jenes in Lederlappen gewickelte Bündel, womöglich einziger Beweis für mein phantastisches Abenteuer, das mein Leben auf so dramatische Weise verändert hatte. Meine Ungeduld spielte mir so manchen Streich, doch nach etlichen lästerlichen Flüchen gelang es mir schließlich den Gegenstand meiner Begierde freizulegen. Es handelte sich um ein arg mitgenommenes in Leder gebundenes Notizbuch. Meine Spannung wuchs ins Unermeßliche, als ich es aufschlug und die schwer entzifferbare Handschrift zu lesen begann:

"Ich Robert Falcon Scott, Offizier der königlichen Marine, schreibe dies am 25. März 1912. Meine Kameraden sind tot. Doch habe ich noch die Kraft folgendes aufzuschreiben. Ich weiß nicht, ob diese Nachricht jemals von einem menschlichen Auge gelesen werden wird, doch wenn es einen gerechten Gott gibt, so wird er dafür Sorge tragen, daß der Menschheit diese ungeheuerliche Nachricht nicht verborgen bleibt. Nach meinen Berechnungen hätten wir es am heutigen Tag, bis zum angelegten Depot schaffen sollen, was unser aller Rettung bedeutet hätte. Immer noch halte ich Amundsens Brief in der Hand, in dem er mir schreibt, daß das Rennen eröffnet und er zum Südpol aufgebrochen sei. Als fairer Sportsmann, der er nun mal sei, so behauptete der Norweger, wolle er mir nicht verschweigen, wie er sein Wagnis durchzuführen gedachte. So schrieb er mir, daß er sibirische Ponys und Motorschlitten benutzen wolle, um den Südpol zu erreichen. Im selben Atemzug schlug er mir vor, und appellierte damit an den Sportsgeist eines Offiziers seiner Majestät, daß ich die gleiche Ausrüstung nehmen solle, damit die Voraussetzungen für beide Parteien die nämlichen seien. Dies war, wie ich jetzt weiß, wohl das schändlichste Verbrechen, das ein Christ sich vorzustellen vermag. Mit der von Amundsen vorgeschlagenen Ausrüstung und den Tieren sind wir kläglich gescheitert. Doch wie bitter war meine Enttäuschung, als ich unterwegs Spuren fand, die mir bewiesen, daß der verfluchte Norweger sich nicht an die Abmachung gehalten hatte, statt dessen Schlittenhunde bevorzugt hatte und somit sein Ziel früher erreicht hatte als wir Unglücklichen, die wir nun im ewigen Eis gefangen sind. Bis zum Schluß habe ich meine Erkenntnis vor meinen dauernswerten Kameraden verborgen, um ihrer angeschlagene Moral nicht den endgültigen Todesstoß zu versetzen. Deshalb habe ich zum Schein ein normales Logbuch geschrieben, in dem der Verlauf unserer gescheiterten Mission nachzulesen ist. Dieses Tagebuch mit der ungeheuerlichen Wahrheit, werde ich jedoch, um es ganz sicher vor der Witterung zu wissen, in eine unserer Stahlkisten legen und am Ort unserer Verderbens hinterlegen, damit es Zeugnis ablege, vom schändlichen Verbrechen Amundsens. Und möge der Tag kommen, an dem der Wahrheit Genüge getan wird. Ich schaue dem Tode furchtlos in sein eisiges Antlitz und vertraue unsere Seele dem Herrn an.

Gezeichnet am 25. März 1912, Robert Falcon Scott, Offizier der britischen Marine

Immer wieder habe ich es gelesen. Viele Dinge gingen mir seitdem durch den Kopf und man wird sich fragen, warum ich nicht schon längst mein Geheimnis gelüftet hat. Nun, ich fürchte, man wird mich für einen alten verwirrten Mann halten, der ich ja nun auch schon bin. Und ob man dieses kleine Bändchen als Beweis akzeptieren wird. Zu ungeheuerlich wäre die Konsequenz. Aber warum hat er gerade mich erwählt? Der 25. März ist mein Geburtstag. Hatte sich Scotts ruheloser Geist aus der Antarktis erhoben, um mich als seinen Rächer auszuwählen, der die Wahrheit ans Licht bringen sollte? Warum hat man damals die Kiste mit dem brisanten Tagebuch nicht neben den Toten der Expedition gefunden, wie jenes Tagebuch Scotts, das der Allgemeinheit bekannt ist? Vielleicht wird man mir diese Fragen in jener Welt beantworten, die ich bald betreten werde, wenn ich die diesseitige verlasse. Und dann werde auch ich Rede und Antwort stehen müssen. Vielleicht vor Scott oder wem auch immer. Weil ich seinen Auftrag nicht bis zu Ende ausgeführt habe. Obwohl ich ihm die Wahrheit eigentlich schulde. Aber von Natur aus bin ich sehr nachtragend. Seit jenem polarem Abenteuer war ich an den Rollstuhl gefesselt und auf Hilfe angewiesen, habe mein Leben in diesem Heim gefristet, bezahlt aus den bescheidenen Mitteln der Stiftung. 35 Jahre, die ich aus dem gleichen Fenster blickte. Voller Fernweh. Und das nur, weil ich in jener Nacht seinem Ruf nicht zu widerstehen vermochte. Schulde ich ihm also wirklich etwas? Ahh... die Schmerzen in meinen Stümpfen werden schlimmer...
...ich spüre es ganz deutlich, dieser Winter wird sehr kalt..."

Das Tonband lief noch eine Weile weiter, irgendwann hörte man das Geräusch seines gleichmäßigen Atems, dann war Stille, ehe es sich ganz ausschaltete. Er war friedlich eingeschlafen. Ganz wie wir es vermutet hatten. Nachdenklich blätterte ich das kleine Buch durch, das ebenfalls auf seinem Schoß gelegen hatte. Das Gekritzel war nur mit großer Mühe zu entziffern. Offenbar war es eine geschickte Fälschung, auch wenn sie auf den ersten Blick verblüffend echt wirkt. Allerdings schied er als Urheber aus, da er es ja schlecht selber geschrieben haben konnte. Es sei denn, er hatte es noch vor seinem Ausflug in jene antarktische Einöde verfaßt, was nur den Schluß zuließ, daß der Wahnsinn schon vorher von ihm Besitz ergriffen hatte. Das würde auch seinen Leichtsinn erklären, sich alleine in die Eiswüste aufzumachen. Die Antarktis hatte ihm zweifelsohne den Verstand geraubt. Und das hatte sich nicht geändert, seitdem ich die Heimleitung übernommen hatte. Angehörige hat der arme Teufel keine. Also werden wir die Beerdigung übernehmen müssen. Ich denke, es wäre ihm recht gewesen, wenn ich ihm diese beiden Sache mit ins Grab gebe...

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