© der Geschichte: Robert Heracles. Nicht unerlaubt
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Edward

I Das Haus hinter den Hügeln versank in der Dämmerung des Abends. Ein feiner weißer Dunst bildete sich langsam über den Feldern und mit der Zeit wurde er immer dichter. Das Licht der Sonne war gegangen und nur der Mond sandte seinen bleichen Schimmer herab. Es wurde still draußen und nur in der Ferne konnte man gelegentlich noch Geräusche vernehmen, die aus Midden, dem kleinen Dorf mit nur einer Handvoll Einwohner, zum Haus herüber drangen. Doch hinter den Fenstern des alten Gemäuers und in den großen Zimmern war davon nicht viel zu hören.
An der langen Wand des Wohnzimmers war ein alter Kamin. Der Mann, der in einem großen, weichen Sessel davor saß, hatte alle Lampen in dem Raum gelöscht. Sein Name war Edward und er hatte graue Strähnen im Haar. Das Kaminfeuer brannte und warf einen flackernden Schein. Die Glut war rot und warm und die Flammen schlugen empor, als seien sie lebendig. Der Mann saß in seinem Sessel, hatte die Hände zusammengelegt und sah in das gelbe Feuer. Er spürte die Wärme und den Rauch, der nach oben hin abzog. Er roch das verbrennende Holz und er lauschte dem Knistern in der Glut.
Der Sessel, in dem er saß, stand mit dem Rücken zur Fensterseite des Raumes. Die Fenster waren groß und mit weißen Gardinen behangen. Man hätte die Gardinen beiseite schieben müssen, um einen Blick nach draußen zu erhalten. Einen Blick auf eine weite, hügelige Wiese im Dämmerlicht. Die Sträucher und Bäume, die langsam vom Schatten der Nacht überzogen wurden, hatten in der Dämmerung des Abends ihre Kontur schon verloren. Allein die Schemen ihrer Gestalt waren dem Auge geblieben. Der Himmel war tiefblau und dunkel - die Natur dagegen war nur in Schatten gehüllt.
Doch der Mann, der in diesem Zimmer saß, sah nicht nach draußen. Er wollte nicht ans Fenster gehen. Er saß viel lieber am Feuer, das flackerte und mit einem warmen Schein leuchtete.

Das Haus, das Zimmer und die ganze Umgebung, war ruhig und friedlich. Der Mann war nicht ruhig. Er öffnete die Augen und sah neben sich, zu seiner Rechten. Ein kleiner Tisch stand dort und auf dem Tisch lagen Papier und Stift, gerade so wie er sie vor wenigen Minuten dort gelassen hatte. Etwas beunruhigte ihn. Es war nichts plötzliches, nichts neues. Es war eine Sache, die ihn schon seit einiger Zeit nun beschäftigte und bedrängte.
Der Alte seufzte leise und griff mit seiner großen Hand nach den Blättern. Er suchte das erste Blatt hervor, das er vor fünf Tagen angefangen hatte, und er las, was dort als erstes in großen, unruhigen Buchstaben geschrieben stand.

"Ich bin nicht frei."

Der erste Impuls, der ihn überkam, war derjenige, das Blatt zwischen seinen Händen zu zerdrücken und es wütend wegzuwerfen, doch dann besann er sich und dachte erneut nach. Er stöberte eine Zeit lang in seinem Gedächtnis und immer wieder tauchte dabei eine vertraute Gestalt auf. Sein Bruder.
Edward nahm den Stift wieder auf und schrieb ein paar Zeilen.

"Von Anfang an", so schrieb er, "war ich der einzige, der sich um Sonny gekümmert hat. Als ich ihn zum ersten Mal sah, da saß er auf einer Holzbank ganz alleine. Sie hatten ihm etwas zu Essen dagelassen, in einer hässlichen weißen Papiertüte. Er hatte den Kater dabei und er spielte mit ihm. Als ich mich zu ihm setzte und ihn anredete, da schien er so ängstlich zu sein. Aber ich habe nicht lockergelassen. Ich musste es tun. Ich wollte ihm helfen. Also hab ich ihn gefragt und er hat mir erklärt, dass das unförmige Wesen aus Stoff und Garn sein Kater sei. Fredo."

Ein ungutes Gefühl überkam den Mann. Er legte den Stift beiseite und kratzte nachdenklich an seiner Narbe. Keine große Narbe. Aber dummerweise war sie genau auf seiner rechten Wange und jeder konnte sie sehen. Blöder Kratzer, dachte er. Den hatte er damals auch noch nicht gehabt. Irgendwie war damals alles ganz anders gewesen. Er hatte sich immer bemüht. Er hatte einige Freunde gehabt. Oder doch nur Bekannte? Flüchtige Bekanntschaften? Nein.
Aber jetzt war alles anders. Sein ganzes Leben hatte sich geändert. Er war alt, zermürbt und irgendetwas machte ihn krank. Irgendetwas an all den Dingen, die er um sich herum sah. Irgendetwas an all den Gedanken, die so unruhig in seinem Kopf herumschwirrten. Irgendetwas ...
Er nahm sich den Stift noch einmal.

"Das mit Sonny war nicht leicht. Die Leute mochten ihn nicht. Sie konnten ihn nicht ansehen. Sie ekelten sich vor ihm. Ich hab es ja auch nie gerne gesehen. Aber was soll man da machen? Seine Hände konnte ich in in Handschuhe stecken. In weiße Handschuhe - das sah wenigstens vornehm aus. Und seinen Körper habe ich mit weiten Kleider verhüllt. Das Stück an seiner Hüfte war ja leicht zu verdecken. Das hat ja außer mir kein anderer gesehen. Aber im Gesicht war es schlimm. Das mit der Wange. Die Haut über dem Auge. Das konnte ich nicht verbergen. Da konnte ich nicht viel machen.
Ich weiß noch, wie ich gegen den Ekel gekämpft habe. Ein ums andere Mal. Immer wieder. Aber irgendwann muss man damit fertig werden. Das hab ich geschafft.
Dann hab ich ihm so vieles gezeigt, was er machen konnte. Ich habe Geräte gekauft. Hammer, Säge und Werkzeuge und all das. Und er hat es ausprobiert. Es hat ihm Spaß gemacht. Aber es war nicht gut genug. Die Arbeit war nicht so gut, als dass wir es hätten verkaufen können. Spaß hat's ihm wohl gemacht - von Zeit zu Zeit. Aber ich wollte schließlich, dass es ihn weiterbringt. Dass er dadurch selbständig wird. Wenn er etwas besser gewesen wäre, dann hätte es auch funktioniert. Genau wie mit dem Malen.
Stifte und Papier konnte ich ihm besorgen. Farben und Pinsel. Und dann hat er gemalt und er hatte Freude daran. Bloß verkaufen konnten wir seine Bilder nicht."

Edward war wütend geworden. Er sah die Szenen wieder vor seinem geistigen Auge. Wie er zuerst mit Sonny zusammen zu den Menschen ging und dann alleine. Er erinnerte sich daran, dass Sonny dem Ganzen recht gleichmütig gegenübergestanden hatte. Er selbst aber konnte seine Enttäuschung oft gar nicht verbergen. Das ewige hin- und herlaufen hatte schrecklich an seinen Nerven gezerrt. Schließlich hatte er viel von seiner früheren Freundlichkeit verloren. Warum hatte er sich da so hineingesteigert? Aber er kannte die Antwort nur zu gut. Er schrieb:

"Ihm war es ja egal. Aber mir nicht. Er hätte noch so gut arbeiten können. Er hätte noch so gut malen können. Wenn sich die Sachen nicht verkaufen lassen, dann haben sie keinen Wert. Er konnte mit seinen Werken kein Geld verdienen und deshalb war das alles sinnlos. So deutlich hab ich es ihm nie gesagt. Aber ich wollte schließlich, dass er auf eigenen Füßen steht - ob er das auch wollte?
Unsere Freundschaft hätte dann jedenfalls auch anders ausgesehen ..."

Der grauhaarige Mann hielt inne. Draußen hatte es zu regnen begonnen. Ein leises Rasseln erklang und dann schlug die große Standuhr, die sich neben dem Fenster befand. Eins , Zwei , Drei, ... Edward seufzte schwer ... Neun Uhr schon.
Er legte langsam Papier und Stift beiseite und erhob sich. Müde und widerwillig schleppte er sich in die Küche, dann in den Keller. Als er zurückkam, ging er zuerst wieder in die Küche und wusch sich die Hände. Anschließend ging er eine Runde durch das Haus und ließ in den anderen Zimmern die Rollläden herab.
Als er wieder in das Wohnzimmer ging und vor seinem Sessel stehen blieb, war er deprimierter als vorher. Und verärgert. In seiner linken Hand hielt er ein Ding aus rotem und grünem Stoff, dessen Farben schon alt und blass waren. Fredo.
Er konnte die Gedanken, die in ihm aufkamen, nicht verbergen oder verdrängen. Fredo sah ihn mit dem einen weißen Auge, das ihm noch geblieben war, forschend an. Fredo starrt regelrecht. Der Mann verlor sich im Weiß der künstlichen Pupille.
Plötzlich musste er grinsen. Für einen kurzen Moment spürte er wieder die Freude und die Zuversicht, die er einmal erlebt hatte. Ein einziges Mal in der langen Zeit.
Zwei Wochen frei. Vierzehn Tage. Sonny hatte er woanders unterbringen können - für zwei lange Wochen. Unglaublich, dass es so geklappt hatte. Aber er war frei, er spürte die Freiheit. Er konnte sie atmen und er fühlte sie am ganzen Körper. Er ließ Sonny hinter sich und alles, was damit verbunden war. Er nahm von dem Geld, das für den Bruder gespart war und er fuhr durch die Gegend. Alle Last war von ihm abgefallen, denn an jedem der vierzehn Tage hatte er nur für sich zu sorgen, für niemand sonst.
Und dann ging er in die Stadt. In die große Stadt, in die Betonwüste. Er zog durch die Straßen im Dunkel der Nacht. Der Boden war schwarz. Teer - Asphalt. Der Boden war schmutzig und verklebt mit Müll und weggeworfenen Resten. Er ging an Laternen vorbei, an Straßenlampen, und er schlug mit der flachen Hand gegen ihren silbrigen Mast. Eine Zeit lang genoss er die Leere der Straßen und Gasse, die tagsüber so voller Lärm und Menschen waren. Er genoss die Stille und die Einsamkeit, aber dann wurde ihm bewusst, dass er nicht die Einsamkeit wollte. Das hatte er schon die ganze Zeit gehabt - nur mit mehr Last auf den Schultern.
Das Grinsen auf dem Gesicht des Mannes war gewichen, nachdem er die Stille der Straßen neu durchlebt hatte. Nun kam der andere Teil. Der gefährliche Teil. Der Kontakt. Die Suche nach etwas ... Gesellschaft. Das Neuland.
Seine Lippen wurden schmal und ein angespannter Ausdruck legte sich über sein Gesicht. Der erste Versuch war schwierig, danach war es leicht.
Als ersten Kontakt suchte er sich einen einsamen Helden aus, der gerade aus der Kneipe gekommen war und nun schwankend der Nase nach die Straßen entlang tappte. Mit nur wenigen fröhlichen Worten und ein paar Sprüchen über den Seegang des Fremden konnte er sich bekannt machen und dann ...

Der Mann wog Fredo in der Hand. Mehr Geld hieß für ihn ... aufrüsten. Neues Spielzeug. Nichts Großes. Alles schön unauffällig. Schon nach dem ersten Streifzug fühlte er sich wie ein König.
Er konnte durch die Straßen ziehen und sich jeden Wunsch erfüllen. Jeden. Und es gab genug Leute, die er treffen konnte. Treffen und ansprechen. Er musste nur auf sie zugehen. Die eine Hand zum Gruß, die andere in der Tasche ...

Ein plötzliches dumpfes Klopfen schreckte den Mann aus seinen Gedanken. Er horchte auf und seine Augen gingen unruhig hin und her. Da! Schon wieder. Aber diesmal viel stärker. Kam es aus dem Keller? Oder ... ?
Nein! Nicht der Keller. Die Geräusche, die aus dem Keller kamen, kannte er. Nein, das klang so, als sei jemand an der Tür. Als sei jemand da und versuchte, mit aller Kraft die Tür aufzubrechen.
"Ein Gast ...", murmelte Edward. Er zuckte zusammen. Sein Körper veränderte sich oder vielmehr seine Haltung. Unwillkürlich schob er die Schultern hoch und gleichzeitig krümmte er den Rücken. Sein Kopf reckte sich nach vorne, als versuche er, einen Geier nachzumachen. Nervös stolperte er durch das Zimmer, machte auf halbem Weg kehrt, um Papier und Stift zu ergreifen und verschwinden zu lassen. Dann hastete er erneut in Richtung Vordertür, denn das Klopfen dort ließ nicht nach.

Als er hastig die Riegel zurückschob und die Tür aufriss, sah er zunächst gar nichts. Er hatte im Flur kein Licht gemacht und draußen stand keine Laterne. Der fahle Schimmer aus dem Wohnzimmer fand seinen Weg zur Türe nicht. Unruhig starrte der Alte ins Dämmerlicht. Er roch den Regen, der herabfiel und die frische Luft, die er mit sich brachte.
Dann sah er den Fremden.
Ein Schatten löste sich aus dem schummrigen Licht draußen und kam auf ihn zu. Der Mann erkannte eine Person, die kleiner war als er und die einen langen Mantel trug. Plötzlich funkelten zwei winzige Punkte wie Kristalle auf, direkt vor ihm. Der andere starrte ihn unter der Krempe eines breiten, schwarzen Hutes an. Seine Züge konnte der Mann nicht erkennen, sein Gesicht war verborgen in einem dunklen, gefährlichen Schatten.
Edward duckte sich unter dem Blick des Fremden weg und brachte ein leises Krächzen hervor. Wie ein Diener - oder vielmehr wie ein geprügelter Hund - wich er zurück, hielt die Türe auf und bat den Besucher unterwürfig, einzutreten. Der Fremde sagte nichts, doch er schritt würdevoll, nicht arrogant, durch die Tür und durch den Flur. Er betrat das Wohnzimmer, bevor der alte Mann ihn auch hier hereinbitten konnte.

Als Edward sich hinter dem Mann in das Zimmer schlich, sah er, wie dieser einen verächtlichen Blick aufsetzte und in die Runde schaute. Vom Schrank zum Kamin. Vom Kamin zur Uhr. Von der Uhr zum Fenster. Edward behagte dieser Blick ganz und gar nicht. Aber er sagte nichts, denn er war verwirrt. In seinem Kopf schwirrten Gedanken umher und er selbst kam mit dieser Situation nicht ganz klar.
Schon seit dem Klopfen und dem Erscheinen der wortkargen Gestalt hatte er seine Anspannung und seine Erwartung kaum zurückhalten können. Endlich war da wieder jemand, mit dem er sprechen konnte. Ein Mensch. Ein Besucher. So lange schon war niemand mehr zu diesem Haus gekommen. Das machte ihn fast verrückt, denn er wollte so gerne sprechen, so gerne reden und fragen und über dies und jenes plaudern, wie er es damals beizeiten getan hatte. Er war innerlich so begeistert, dass er sich fast gar keine Gedanken über die Art und das Erscheinen und vor allem die Beweggründe des Fremden machte.
Andererseits jedoch verspürte er sehr wohl ein ungutes Gefühl. Er begriff, dass er ausgewichen war, dass er sich geduckt hatte und dem Fremden widerstandslos Zutritt gewährt hatte. Was, wenn er ein Dieb war? Ein böser Mensch?
Er hatte dem Einbrecher die Tür geöffnet. Er hatte nicht an sein Haus und sein Eigentum gedacht. Jetzt war der Fremde hier drinnen und Edward fühlte sich, als habe er ihm soeben vollkommen unfreiwillig seinen gesamten Besitz überlassen. Es wurde ihm immer klarer. Er musste etwas tun.
Edward fixierte den Fremden, der das jedoch nicht sehen konnte, weil er immer noch mit dem Rücken zu ihm stand. Aber dann nahm der Fremde den Hut ab - Edward verzog verärgert das Gesicht - drehte sich zu ihm um und warf ihm das schwarze Ding zu.
Erschrocken, aber ohne sich etwas anmerken zu lassen, fing Edward den Hut auf, krächzte leise und brachte ihn eilig zur Garderobe. Der andere fletschte nur die Zähne, dann ließ er sich in Edwards weichen Sessel fallen. Den Mantel zog er nicht aus.

Als der grauhaarige Mann wiederkam, saß der Fremde in seinem Sessel und sah ihn eindringlich an.
"Edward, Edward", sagte er grimmig, und der Alte zuckte zusammen. Doch er wagte nicht zu fragen, woher der andere seinen Namen kannte. Er wollte dem forschenden Blick ausweichen, aber er vermochte es nicht. Der andere seufzte.
"Ich bin müde, Edward," sagte er, und sein Blick wurde etwas sanfter. "Setz' dich, dann reden wir. Aber vorher koste ich deinen Wein!"
Der alte Mann ging hastig zum großen Schrank und begann, mit Wein und Gläsern zu klirren.
Der Fremde legte seine Arme auf die Lehnen des Sessels und wartete. Er schien sehr jung zu sein. Zumindest war er es im Gesicht. Er hatte keine Falten, keine Furchen, sondern straffe Haut, nicht so wie Edward. Der Mantel bedeckte seinen gesamten Körper bis zu den dunklen Stiefeln, die vorne spitz zuliefen und überhaupt sehr elegant aussahen. Die Wärme in dem Raum, die von dem Kaminfeuer erzeugt wurde, schien ihm nichts auszumachen. Edward goss roten Wein in die Gläser, die er auf einem kleinen Tablett abgestellt hatte, um sie gleich wie ein Bediensteter dem seltsamen Gast zu bringen. Und dieser wiederum wartete mit ernster Miene, legte den Kopf zurück und strich sich die Strähnen seines langen, schwarzen Haares aus der Stirn.

Als Edward die Gläser brachte, nahm der junge Mann wortlos das seine, wies den Alten mit einer kurzen Geste, sich zu setzen und trank in einem Zug das halbe Glas leer, ohne seinem Gastgeber ein Wohl zu wünschen oder ihn überhaupt eines Blickes zu würdigen. Edward sagte nichts, doch er zitterte leicht und wusste absolut nicht, wie er auf die Demütigungen des Fremden reagieren sollte. Fügsam setzte er sich in einen anderen Sessel.
Er wollte so gerne noch einmal reden, aber diesen fiesen, arroganten Mistkerl sollte er eigentlich am Kragen seines vornehmen Mantels packen und unter groben Verwünschungen zur Türe schleifen. Bevor er sich für etwas Konkretes entscheiden konnte, begann der Fremde das Gespräch.

"Ich komme von Larn", sprach er mit nun ruhiger Stimme. "Vor zwei Tagen bin ich dort abgereist. Davor war ich in Worberg, davor in Pleirath. Ich ziehe durch das ganze Land, Edward. Es mag dir seltsam vorkommen, aber ich ziehe nun schon lange Jahre einfach nur durch das Land. Von Ort zu Ort. Ich finde keine Ruhe."
Der Fremde sah ins Feuer. Edward hing an seinen Lippen und lechzte nach jedem Wort. Er fragte sich, was dieser Mann alles gesehen hatte, was er erlebt hatte. Und ob er davon berichten würde. Dann fiel ihm auf, dass er eines noch gar nicht genannt hatte ...
"Frag' nicht nach meinem Namen, Edward", sagte der andere, und sandte einen schnellen Blick zu dem alten Mann hinüber, der verlegen zu Boden sah. "Ich bin nur ein Fremder. Ich brauche keinen Namen. Und trotzdem wirst du dich an mich erinnern, solange du lebst." Hier machte der Mann eine Pause und Edward nutzte die Gelegenheit, um hastig und unbeholfen zu fragen:
"Was ... was haben sie erlebt? Haben sie viel erlebt?"
Der andere seufzte und legte den Kopf zurück auf das weiche Polster des großen Sessels, in den er versunken war. Er schloss die Augen und sah müde aus. Sehr müde.
"Edward!" sagte er, und seine Stimme war merkwürdig heiser. "Ich habe soviel gesehen. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte mich einfach abwenden und das Weite suchen. Manchmal fühle ich mich, als würde ich ersticken an all den Dingen, die ich erlebe. Die ich erleben muss. Ich möchte weg von hier. Ich möchte fort. Aber ich kann nicht. Es gibt ein schreckliches Geheimnis, Edward."
Der alte Mann horchte auf. Zitternd nahm er sein Weinglas und nippte erwartungsvoll an dem säuerlichen Tropfen. Er kannte auch einige schreckliche Dinge. Er hatte auch einige schreckliche Sachen erlebt - es erinnerte ihn an seinen Bruder und das mochte er nicht. Aber er war begierig zu erfahren, was für ein Geheimnis dieser Fremde meinte. Er war versessen darauf, es aus seinem Munde zu hören. Auch wenn es schrecklich war - und bei diesem Gedanken fühlte er sich, als zeigte der Schatten eines Dämons in ihm seine weißen, blanken Zähne. Wenn es schrecklich war, dann machte es doch zumindest die Geschichte interessanter.

"Was ich dir jetzt erzähle", sagte der Fremde, und seine Stimme klang stark und durchdringend. Edward fühlte die Stimme regelrecht, so wie man den kalten Windhauch spürt. "Was ich dir jetzt erzähle, das wirst du miterleben, als wärest du selbst dabei gewesen. Ich will zu dir sprechen, wie du es dir so sehnlich wünschst, und meine Worte werden zu Bildern werden. In deinem Geiste kannst du all das sehen, was ich dir erzählen werde, und was du erleben wirst, das wird dich nicht mehr loslassen.
Hör' mir zu!
Wenn ich in eine Stadt komme, dann geschieht es nachts. Wenn ich auf die Straßen trete, dann flieht das Licht der Sonne und einzig ein fahler Schein leuchtet mir den Weg. Eine Stadt beginnt dort, wo die Häuser anfangen, doch von dort betrete ich sie nicht. Wenn ich ankomme, dann ist Nebel um mich. Ein weißer, dichter Nebel wie ein Mantel und wie eine Mauer, denn zunächst sehe ich absolut nichts außer den weißen, wabernden Schwaden. Ganz langsam, Stück für Stück, weicht der Nebel zurück und die dunklen Straßen, Teer und Asphalt, empfangen mich.
Als ich vor zwei Tagen in Larn war, da fand ich mich in einer schmalen Gasse wieder. Es war sehr dunkel dort und voller Abfall. Links und rechts stand der Müll stapelweise. Zerrissene Kartons, große schwarze Müllbeutel und alte, überquellende Metallcontainer. Ich hasse solche Hinterhöfe und Gassen. Man findet so etwas nur in den großen Städten. Keiner kümmert sich darum. Keinen interessiert es. Der faule Gestank von gammelnden Resten schlägt einem entgegen und dringt durch alles hindurch. Es ist ekelhaft und schlimm. Aber das ist nicht alles. Siehst du die dunkle Gasse, Edward?"
Der alte Mann starrte ins Feuer. Er hatte sich in der Erzählung des Fremden verloren. Er sah die Dinge vor sich, so wie der andere es vorausgesagt hatte. Seine Haltung war angespannt und seine Augen waren halb zugekniffen, als ob er angestrengt lauern würde. Der Fremde fuhr fort:
"Ich hasse diesen Gestank. Doch da ist etwas anderes. Ein anderer Geruch. Ich kenne ihn gut und er ist schlimmer als der Dunst von Müll und Abfall. Komm mit mir, Edward! Wir gehen weiter in die Gasse hinein. Vorbei an den Containern und durch den ganzen Müll hindurch. Dort hinten ist ein schwacher Schimmer. Da vorn!"
Edward sah ein altes, rostiges Garagentor vor sich, das sicher eine halbe Ewigkeit schon nicht mehr benutzt worden war. Das rostrote Tor war zur Hälfte hochgeschoben und der unruhige Schein einer Petroleumlampe drang heraus zu ihm.
"Mach das Tor auf, Edward!" befahl der junge Mann. "Wir treten ein. Ich sehe Kartons und Abfall und einige alte Werkzeuge herumliegen. Und nun erschrick nicht! Schau langsam nach oben!
Die Frau, die da hängt, bewegt sich nicht. Fass sie nicht an! Sie hängt kopfüber von einem der Balken herunter. Ihre Kleider liegen da hinten. Zerrissen. Ich kann meine Augen nicht abwenden. Ich möchte, aber es ist mir verboten. Das alles muss ich sehen.
Ihr Körper ist übersät mit Narben und Wunden. Das weiße Fleisch ist blutüberströmt. Die Füße, die an den Gelenken zusammengebunden sind, haben Einschnitte, die längs und quer laufen. Das Blut ist von dort oben herunter gelaufen, an ihren Waden und Schenkeln entlang. Unten hängt ihr Kopf. Ihr Mund ist offen und es tropft Blut und Speichel heraus. Sieh' sie dir an! Ihre Wangen sind aufgesprungen und zerfetzt. Womit hat man ihr diese Risse zugefügt? Ich sehe ihre Augen und sie sind blutunterlaufen. Mit einem scharfen, spitzen Gegenstand hat man ihre Augen herausgeschnitten. Aber trotzdem schimmert da etwas. Irgendwer hat weiße Pupillen in die blutigen Augenhöhlen gesetzt. Wie von einem Stofftier."
Der Fremde hatte sich leise vorgelehnt. Seine Hände bedeckten seine Augen.
"Jetzt sieh' dir ihre Brust an, Edward! Sie ist zerhackt und zerstochen. Ein stumpfes Werkzeug hat auf sie eingeschlagen. Der Mörder hatte einen Pinsel dabei und er hat Farben aufgetragen. Das dunkelrote Blut mischt sich mit hellem Grün und mit Türkis. Aber das ist nicht alles. Du siehst ihre offene Brust vor dir, Edward, ..."
Der junge Mann verstummte und hielt die Augen geschlossen.

Edward war wieder da. Er war wieder in der Gasse - zur selben Zeit wie beim ersten Mal. Er sah die Frau vor sich, die nicht schreien konnte, sie war noch nicht ganz tot. Edward warf die Farben in die Ecke und rammte den Pinsel in ihren zitternden Bauch. Dann nahm er das große Eisen und machte sich an der offenen Brust zu schaffen, bis er auf etwas Weißes stieß. Mit der linken Hand hielt er es fest, mit der rechten führte er die Säge und dann brach er es ab, so wie man ein morsches Stück Holz zerbricht.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Plötzlich hörte er sich selber atmen und es wurde ihm bewusst, dass er nicht in einem dunklen Hinterhof war, sondern in dem alten Haus, das er damals von dem Geld seiner nächtlichen Streifzüge gekauft hatte.
Er sah zu seinen Händen und merkte, dass sie gerade so aussahen, als würden sie imaginäre Werkzeuge festhalten. Panik ergriff ihn und erschrocken starrte er den Fremden an, der ihn mit einem boshaften, wütenden Blick ansah. Als der Mann aufstand, bebend vor Zorn, drückte Edward sich in seinen Sessel, schwer atmend und schrecklich angespannt. "Was hast du getan, Edward?" donnerte der Fremde. Plötzlich war er nicht mehr müde. Er war nicht mehr erschöpft oder erdrückt von der Last einer grausamen Welt. Er war wie ein Richter. Wie die Stimme des Höchsten.
"Es sind Leute draußen Edward! Sie stehen bald vor deiner Tür, denn man hat den Körper endlich gefunden. Diese Menschen kommen wegen der Vergangenheit. Wegen dem, was gewesen ist. Sie kommen wegen dir. Steh' auf!"
Doch Edward wagte es nicht, sich zu rühren. Sein Blick ging wie irre hin und her und seine Haltung verkrampfte sich. Da packte ihn der Fremde und zerrte ihn hoch. "Du wirst deiner Strafe nicht entgehen! Dein Bruder aber soll nicht daran teilhaben. Doch er wird auch nicht verhungern in seiner Zelle im Keller. Wegen ihm bin ich hier. Ihn will ich retten. Denn er ist besser als du!
Wenn du noch Ehre hast, dann geh' jetzt. Geh' vor die Tür und stelle Fackeln auf, dass sie dich von weitem schon erkennen. Gib dich ihrer Gnade hin! Unterwirf dich ihnen und bitte um ihr Erbarmen! Sonst wird der Tod dich leiden lassen."
Plötzlich war es, als umhüllte Edward ein grelles Licht. Ein Blitz. Ein Flammenschlag. Dann war es weg und mit ihm der Fremde. Edward wusste, dass er den Bruder mitgenommen hatte. Diesen verkrüppelten Hund, den er gepflegt und versorgt hatte. Den er bedient hatte. Für den er sein letztes bisschen freie Zeit geopfert hatte. Ein ganzes Leben lang. Aber jetzt war keine Zeit, um über so etwas nachzudenken.
Sie waren schon unterwegs. Sie kamen, um ihn zu holen. Edward spürte, wie er verzweifelte. So viele Gedanken jagten durch seinen Kopf und quälten ihn.
Mit einem Schrei packte er den kleinen Tisch und schleuderte ihn gegen den Kamin. Er war wie ein Wilder und er tobte wie von Sinnen. Dann beruhigte er sich mühsam wieder. Er schluckte seine Wut herunter. Und er erinnerte sich an die Worte des Fremden.
Ganz ruhig! Bleib' ruhig! Er hatte etwas von Fackeln gesagt. Edward holte die Fackeln und steckte sie in Brand. Er lief zur Tür und setzte die Fackeln so ab, dass sie den Eingangsbereich gut beleuchteten. Ihr unruhiges Licht flackerte im Wind der Nacht. Jetzt zum Schrank! Er griff hinein, holte die Gewehre heraus und den Hammer. Dieser verkrüppelte Bastard! Hätte er ihm nur gleich den Kopf eingeschlagen, als er ihn das erste Mal gesehen hatte. Auf dieser verfluchten Bank.

Der alte Mann eilte durch das Haus, vorbei an dem Stofftier, das irgendwo auf dem Boden liegen geblieben war. Hätte er auf seinem hastigen Weg den armen Fredo noch entdeckt, so hätte er ihn in tausend Stücke gerissen und zum Abschied ins Feuer geworfen, doch er sah ihn nicht, als er mit Waffen beladen die Treppe zum ersten Stock hoch rannte, sich dort im dunklen Zimmer an ein Fenster hockte und die Gewehre lud, um auf die Leute aus Larn zu warten.

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