© der Geschichte: Alexander Amberg. Nicht unerlaubt
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Die alte Mrs. Cavendish

Glauben Sie an Hexen? Sehen Sie, ich wuchs in diesem kleinen Ort in Neuengland auf. Er hatte nicht ganz siebenhundert Einwohner. Hampton Court lag inmitten eines nahezu undurchdringlichen Waldes, der sich Hunderte von Meilen in jede Richtung erstreckte. So schien es mir damals wenigstens.
Die N 38 war die einzige Straße, die durch den Ort führte. Die alte Mrs. Cavendish wohnte ein ganzes Stück außerhalb. Ein schmaler Feldweg führte von der Landstraße zu ihrem Anwesen. Früher einmal mußte es eine blühende Farm gewesen sein. Aber es begann schon zu verfallen, als mein Großvater noch ein Junge war.
Und seit Mr. Cavendish so schrecklich ums Leben gekommen war, tat sich dort überhaupt nichts mehr. Aber das war lange, bevor ich geboren wurde. Die Sache wurde übrigens nie richtig geklärt. Offiziell war es ein Unfall. Mr. Cavendish war vom Dach gestürzt, als er ein paar Ziegel auswechseln wollte.
„Ich habe John schon auf steileren Dächern ‘rumturnen sehen wie eine Katze,“ hatte mein Großvater einmal gesagt und dabei vielsagend den Kopf geschüttelt. „Den Kirchturm drüben in Kensington hat er auch gedeckt.“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Böse Sache das.“ Er spuckte seinen Pfriem aus, wie er bei solchen Gelegenheiten zu tun pflegte, und starrte vor sich hin. Weiter sagte er nichts.
Dafür sagten andere Leute etwas. Die alte Mrs. Cavendish war verrufen als Hexe. Der Kirchturm drüben in Kensington war das höchste Gebäude in der Umgebung. John Cavendish war Dachdecker gewesen und bekannt dafür, daß er seinen Job gut machte. Daß er von seinem eigenen Dach stürzen sollte, war fast nicht zu glauben. Und daß unten ausgerechnet die Egge stehen mußte ...
Die alte Mrs. Cavendish war jedenfalls wunderlich. Und ich sollte sie kennenlernen. Oja, das sollte ich. Jeder suchte damals den Panzer. Aber nur wenige fanden ihn. Ich war einer der ersten. Tom führte mich hin. Es war einer der drückendsten Sommer, die ich jemals erlebt habe. Und das will etwas heißen. Der Schweiß lief einem nur so die Stirn herunter und man konnte eigentlich nichts anderes tun, als sich in den Schatten setzen und eine Cola trinken.
Den größten Teil der Ferien verbrachte ich allein, weil Tom Hausarrest hatte. Hausarrest hieß, daß er seinem Vater helfen mußte, der jeden Tag Gottweißwasfürzeugs von Kapatakis Schrottplatz nach Hause schleppte, um es in der Garage zu stapeln. Seit seinem Unfall konnte er nicht mehr in der Dosenfabrik arbeiten und wurde immer unausstehlicher. Er hatte Tom grün und blau geschlagen, als er sitzengeblieben war, ihn einen Dummkopf genannt und wollte ihn in eine andere Schule stecken. Was für eine Schule das war, sagte Tom mir nicht. Aber ich konnte es mir denken. Er sagte mir auch nicht, daß sein Vater ihm den Arm gebrochen hatte, als er ihn verprügelte. Aber auch das konnte ich mir denken. Was er mir sagte, war, daß er abhauen wollte. Weg von seinem Alten. Das konnte ich zwar gut verstehen. Aber ich glaubte ihm nicht.
Die Ferien waren jedenfalls ziemlich langweilig ohne ihn. Ich saß auf der Veranda und nuckelte an meiner Cola, und ab und zu streichelte ich Toby. Es war so heiß, daß ich nicht einmal mehr die Energie aufbrachte, die Fliegen zu verscheuchen, die überall herumschwirrten. Sie wissen, was ich meine. Plötzlich hob Toby den Kopf und fing an, mit dem Schwanz zu wedeln. Wenig später polterte Tom um die Ecke, mit hochroten Wangen und noch ganz außer Atem. Er mußte die ganze Strecke von zu Hause bis hierher gerannt sein. Und es mußte etwas wichtiges sein, was ihn veranlaßte, eine Tracht Prügel zu riskieren, weil er seinen Hausarrest durchbrach.
„Hey,“ fing er an, „hey, ...“ Weiter kam er nicht. Er mußte erst Luft holen. „Ich weiß was ...“
„Na und!“ sagte ich gelangweilt. Er ging gar nicht darauf ein.
„Ich weiß, wo der Panzer ist.“ Damit hatte er mich. Der alte Jones war beim Angeln auf etwas gestoßen. Weil er immer schwarz angelte, suchte er sich die entlegensten Gewässer für seinen Zeitvertreib aus, und dabei mußte er über den Panzer gestolpert sein. Natürlich hatte er die Geschichte brühwarm Tommys Vater erzählt. Was lag auch näher? Schließlich waren die beiden Saufkumpane. Tom hatte alles mitgekriegt, und jetzt war er hier.
Wir gingen zu Fuß. Wir mußten nur über die N 38 und schon begann der Wald. Ich kannte die Gegend wie meine Hosentasche. Aber heute kam mir alles fremd, verändert vor. Vielleicht lag es daran, daß wir ein anderes Ziel hatten als sonst. So tief hatte ich mich noch nie in den Wald gewagt. Aber ich war ja nicht allein.
„Wie weit ist es noch?“
„Nicht mehr weit,“ sagte Tom. „Nur noch fünf Minuten.“
Wir waren schon über zwei Stunden unterwegs und meine Füße taten weh. Meine Begeisterung hatte merklich nachgelassen. Einmal mußte Tom stehen bleiben, damit ich ihn einholen konnte. Ein anderes Mal konnte er gerade noch nach meinem Arm greifen, bevor ich über eine Wurzel stolperte. Die Bäume schienen hier dichter zu stehen. Mächtige Wurzeln ragten über den Pfad. Umgestürzte Baumstämme versperrten uns den Weg. Brombeergestrüpp rankte sich uns entgegen und Dornen hakten sich an unseren Armen fest. Unter dem üppigen Laubdach herrschte nur schwaches Dämmerlicht, weil die Sonnenstrahlen das Blattwerk nicht mehr durchdrangen. Nur einzelnen gelang es, durch die grüne Decke zu brechen, um sich auf einer Brombeerranke oder einem einsamen Pilz niederzulassen. Wir kämpften uns durch Farne, die mir bis zur Brust reichten.
Abrupt blieb ich stehen, als grelles Sonnenlicht mich blendete. Als meine Augen sich an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten, sah ich ihn. Wir waren am Ziel. Inmitten einer kleinen, fast kreisrunden Lichtung stand der Panzer. Ein Sherman. Gott allein mochte wissen, wie er hierher gekommen war. Er sah ziemlich ramponiert aus. Im gleißenden Licht der Augustsonne thronte er vor uns wie ein urzeitliches Ungeheuer: schwer, ungelenk, saurierhaft, und dennoch Gefahr ausströmend, heimtückisch, scheinbar dösend und ungeschützt, trotzdem bereit, blitzschnell zuzustoßen und seine Beute zu verschlingen, wenn sich die Gelegenheit ergab.
Wir hatten es geschafft. Ich fühlte mich wie ein Entdecker, der zum ersten Mal ein fremdes Land betritt. Der erste unheimliche Eindruck wich einem Gefühl des Triumphs. Ich rannte los.
„Sei vorsichtig,“ rief Tom mir nach. Aber ich hörte ihn nicht. Wenn eine Legende Wirklichkeit wird, nützen keine Ermahnungen. Mit wenigen Sätzen war ich bei dem Koloß und schwang mich auf seinen Rücken. Ich hatte ihn erobert. Ich spürte nicht, wie mir der Schweiß über die Stirn lief und auf das Metall tropfte. Die Ketten, die einmal alles zermalmt hatten, was sich ihnen in den Weg stellte, fehlten. Die nackten Felgen, zur Hälfte im weichen Waldboden versunken und von Gras überwuchert, trugen ihn. Die Tarnfarbe blätterte ab. Häßliche Rostblasen bedeckten ihn wie Pusteln und gingen in riesige rotbraune Flecken über. An vielen Stellen war die Außenhaut zerschrammt.
Ich kletterte auf den Turm. Die Kommandoluke klemmte. Mit äußerster Anstrengung gelang es mir, sie etwas anzuheben. Aber sie entglitt meinen Fingern und fiel krachend zurück. Auf einmal war Tom neben mir. Mit vereinten Kräften schafften wir es. Ich stieg in den Bauch des Ungeheuers. Es war eng und heiß hier unten. Neben dem Fahrersitz ragte eine Vielzahl von Hebeln, die einmal die Maschine bewegt hatten, nach allen Seiten. Der schmale Sehschlitz des MG-Schützen. Und überall Schmutz. In einer Ecke lagen Glasscherben, grüne - von einer Weinflasche. Wahrscheinlich hatte hier ein Landstreicher übernachtet. Über mir hörte ich Toms Schritte und einen dumpfen Aufprall, als er hinuntersprang. Er tauchte kurz im Sichtfeld des Schlitzes auf und verschwand wieder. Es war heiß hier unten. Ich war in Schweiß gebadet. Weit weg sang ein Vogel. Die Enge ließ Angstgefühle in mir aufsteigen. Ich mochte die metallene Leere nicht. Das hier war ein Sarg. Nur raus hier. Ich mußte raus.
Schritte näherten sich. Ich griff nach den Sprossen der Leiter, als krachend die Luke zufiel. Wie ein Schuß hallte es in meinen Ohren. Um mich herum war es stockfinster. Nur der Sehschlitz zeichnete sich als winziges helles Rechteck in der Dunkelheit ab. Mir war, als hörte ich ein leises Kichern. Ich kämpfte gegen die Panik an, die sich in mir breitmachte. Mit aller Kraft stemmte ich die Schulter gegen die Luke. Sie bewegte sich nicht. Ich rüttelte am Griff. Nichts. Ich hämmerte mit der Faust dagegen. Es war sinnlos. Ich schrie. „Tom! Hilfe! Tom! Tom, hol’ mich hier raus!“ Noch einmal: „Tom! Tooom!“ Keine Antwort. Verzweifelt schnappte ich nach Luft. Ich war gefangen. Gefangen in einem eisernen Sarg. Wenn nur die Hitze nicht wäre. Krampfhaft versuchte ich, die Tränen zurückzuhalten. Aber wozu? Schließlich war ich nichts als ein Zwölfjähriger, der in einem engen, finsteren Loch steckte. Ich hörte Schritte über mir.
„Tom?“ Keine Antwort. Noch einmal: „Tom?“ Mir war wirklich mulmig zumute. Aber hinten gab es noch einen Ausstieg. Ich machte einen Schritt und stieß mir im Dunkeln den Kopf an. Auf allen Vieren krabbelte ich dahin, wo ich das Heck des Panzers vermutete. Auf halber Strecke spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner Hand und etwas Warmes, Klebriges zwischen den Fingern. Ich hatte in die Scherben gelangt. Im selben Augenblick öffnete sich die hintere Luke. Ein lautes „Buuuh!“ ließ mich zusammenfahren.
Tom streckte den Kopf herein. „Ätsch, ‘reingefallen!“ Das fand ich nun wirklich nicht lustig.
„Arschloch,“ sagte ich.
„Jetzt hab’ dich nicht so,“ kicherte Tom. „Es war doch nur ein Spaß.“ Er reichte mir die Hand, um mich herauszuziehen. „Du blutest ja!“ sagte er.
„Schöner Spaß,“ antwortete ich. Meine Hand pochte. Das Blut rann an den Fingern hinab und tropfte zu Boden. „Hast du ein Taschentuch?“ fragte ich.
Er reichte mir ein Papiertaschentuch.
„Laß uns nach Hause gehen,“ sagte ich. Ich hatte genug. So hatte ich mir unser Abenteuer nicht vorgestellt.
Er nickte kleinlaut. Aber dann hellte sich seine Miene auf. „Weißt du was?“ sagte er. „Wir nehmen eine Abkürzung.“
Ich wußte, was er meinte. „Über die Cavendish-Farm?“ fragte ich. Er nickte. „Spinnst du? Wenn die Alte uns erwischt ...“
„Glaubst du vielleicht das Zeugs, das die Leute über sie erzählen?“ sagte er. „Das ist doch Babykram. Hexen gibt es nur im Märchen.“
Damit hatte er recht. Trotzdem fühlte ich mich nicht wohl bei der Sache. Mißmutig trottete ich hinter ihm her. Das Unterholz wurde immer dichter und meine Hand schmerzte immer mehr. Ich hatte genug damit zu tun, den Ranken auszuweichen, die nach mir greifen wollten. Darum achtete ich nicht so sehr auf das, was um uns herum vorging. Plötzlich blieb Tom stehen. Fast wäre ich gegen ihn geprallt.
„Kannst du nicht ...“ - aufpassen, wollte ich sagen. Aber er legte warnend einen Finger vor den Mund.
„Hast du nichts gehört?“ flüsterte er. Ich schüttelte den Kopf. In dem Moment hörte ich es auch. Etwas raschelte neben uns im Gebüsch. Etwas Großes, Schweres. Den letzten Bären hatten sie hier vor fünfzig Jahren geschossen. Aber wir befanden uns schon auf dem Gelände der Cavendish-Farm, und dort sollte es nicht geheuer sein. Eigentlich wollte ich gar nicht wissen, was da im Gebüsch war. Es raschelte wieder. Tom riß die Augen auf und rannte los wie von der Tarantel gestochen. Ich folgte ihm blindlings. Zweige peitschten auf uns ein. Ein Ast schrammte über Toms Wange und hinterließ eine blutige Spur. Etwas zerfetzte mein T-Shirt. Ich achtete nicht darauf. Nur weiter, immer weiter, war mein einziger Gedanke. Ein hinterhältiger Baum streckte seine Wurzeln über den Weg. Wir sprangen einfach darüber weg. Nichts konnte uns aufhalten. Wir rasten durch Farne, die größer waren als wir selbst, duckten uns unter den tiefsten Ästen durch, ohne langsamer zu werden. Ich spürte etwas Warmes im Genick. Ich wußte nicht, ob es der heiße Atem eines Unholds war, der jeden Augenblick seine Hand nach mir ausstrecken würde, oder ein Sonnenstrahl, der seinen Weg durch das Laubdach gefunden hatte. Ich wußte nur, daß ich mich nicht umdrehen würde. Im Film stolperten sie dann immer. Dieses Risiko wollte ich lieber nicht eingehen.
Natürlich drehte Tom sich um, und natürlich stolperte er und ich über ihn. Und natürlich fiel ich auf die verletzte Hand. „Autsch!“ schrie ich. „Du ...“ Was ich sah, ließ mir den Atem stocken.
„Entschuldigung,“ japste Tom. „Ich kann doch nichts ...“ Er war erst still, als ich ihn energisch am Ärmel zupfte. Vor uns stand, auf einen Stock gestützt, die alte Mrs. Cavendish und sah uns aus zusammengekniffenen Triefaugen an. Im Gebüsch raschelte es und heraus sprang ein dicker fetter schwarzer Kater.
„Da bist du ja, Samuel, mein Liebling,“ säuselte sie. Dabei zuckte die Warze auf ihrer Nase unruhig von rechts nach links. „Wo hast du dich denn wieder herumgetrieben?“ Schnurrend strich ihr das Vieh um die Beine. Mir fröstelte. „Wie seht ihr denn aus?“ wandte sie sich an uns. „Hat Samuel euch erschreckt? - Aber du blutest ja!“
Ich wollte meine Hand zurückziehen, aber sie hatte sie schon gepackt.
„Das muß verbunden werden. Komm’ mit. Keine Widerrede!“ Ich versuchte zu protestieren. Aber es half nichts. Sie zerrte mich mit sich und nach wenigen Metern standen wir vor dem Cavendish-Anwesen. Tom sah uns mit schreckgeweiteten Augen nach, immer noch japsend. Wahrscheinlich dachte er, die Alte würde mich auffressen. Nun, was gibt es weiter zu erzählen? Sie schleifte mich ins Wohnzimmer und verband meine Hand. Dann rief sie ihre Schwiegertochter an, die in Kensington wohnte. Eine halbe Stunde später war sie da, eine große, dicke Frau in einem eierschalenfarbenen Volvo. Sie fuhr uns nach Hause. Das Ganze ist dreißig Jahre her. Ich habe die Geschichte nie jemandem erzählt. Vielleicht können Sie sich denken, warum. Das Seltsame an der Sache aber ist: vor ein paar Wochen war ich wieder in Hampton Court. Dort sah ich die alte Mrs. Cavendish. Sie sieht noch genauso aus wie vor dreißig Jahren. Können Sie das verstehen?

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