© der Geschichte: Ludwig Luderskow. Nicht unerlaubt
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Die Anzeige

Im örtlichen Tagesblatt fand ich die Anzeige; es erschien mir wie ein Fingerzeig Gottes, wie eine Erlösung. Ja, so und nicht anders habe ich es empfunden.

Es war nur eine kleine Anzeige, aber sie fiel einem ins Auge. Vielmehr mir war sie direkt ins Auge gefallen, vielleicht deshalb, weil ich nach einem Ausweg aus meiner mißlichen Lage suchte.

Nun, es waren Worte wie Labsal für meine Seele. Vielleicht habe ich deshalb nichts Eiligeres zu tun gehabt - es war eine Telefonnummer angegeben - als dort anzurufen. Fünf Stück habe ich bestellt, wenn auch mit der Besorgnis, daß diese Menge vielleicht nicht für mich ausreichen könnte.

Gewiß interessiert es Sie, was ich bestellt habe. Fünf Kisten Wasser - nicht irgendein Wasser! Schon allein der Preis nur einer einzigen Kiste ließ ohne Zweifel diese Vermutung aufkommen.

Die Anzeige sprach mit ihrem Wortlaut Gemüter mit mangelndem Selbstwert an. Wenn jemand das Gefühl hatte, andere seien besser und sein Leben werde nirgends mehr hinführen, möge er Dr. Blubb anrufen. Dr. Blubb hat - so war den Zeilen zu entnehmen - in jahrelanger und mühsamer Suche den Quell der Weisheit gefunden. "Abgefüllt in Flaschen wird der Quell der Weisheit auch Ihr Leben verändern. Er wird sie stützen und sie ermuntern, wenn sie sich am liebsten ängstlich in eine Ecke verkriechen würden. Er wird Ihnen zeigen, was Sie wirklich wert sind!"

Ich verspreche mir viel davon, wissen Sie. Gut, ich habe noch nie etwas von einem solchem Fund gehört, aber wir erfahren ja nicht immer alles aus den Medien. Bestimmt meinen Sie, daß ich dumm war, auf die Worte und Buchstaben hereinzufallen. Vielleicht haben Sie sogar recht damit Aber ich sehe keinen Ausweg - im Augenblick wäre es mir am liebsten, der Erdboden würde sich unter mir auftun und mich für immer verschlingen. Was würde es ändern, ob ich lebe oder sterbe? Ein Verlust für die Welt wäre ich bestimmt nicht.

Seit Wochen sitze ich hier in meinem kleinen Zimmer und arbeite an meinem Examen, aber es will mir nicht gelingen. Ich habe schon immer das Gefühl gehabt, dümmer zu sein als andere und mein Vater hat es mir mehr als einmal bestätigt. "Du bist dumm, mein Sohn, Du kannst nicht von mir sein!" Dann schlug er mir mit voller Wucht mit seinem Gürtel auf den Rücken und schrie immer weiter: "Du bist dumm, du bist ein Nichtsnutz, du bist es nicht wert, zu leben!"

Daß einem so etwas immer dann einfallen muß, wenn man ohnehin schon am Boden liegt und sich nicht wehren kann. Genau an dem Tag, als ich die schriftliche Prüfung nicht bestand, erinnerte ich mich wieder an meinen Vater und seine Worte. Seitdem sitze ich hier, starre die Wände an, die Seiten der Bücher, die ich lesen muß - aber außer einer Menge an Wörtern, die für mich alles andere als einen Sinn ergeben, kann ich nichts erkennen. Glauben Sie mir, dies trägt nicht gerade dazu bei, mein Selbstwertgefühl zu steigern!

Wissen Sie, was mir seit jeher zu schaffen gemacht hat: Die Verachtung derer, die meinen, sie seien etwas Besseres. Gestern habe ich - es hat mich sehr interessiert - einen Vortrag über die Entstehung der Welt beigewohnt. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht recht, was ich glauben soll. Hat Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen, oder sind wir alle aus einem Urknall hervorgegangen? Wie dem auch sei, der Vortrag handelte vom Urknall und der Geburtsstunde der Welt. Er war interessant, anschaulich mit Skizzen untermalt. Ich fühlte mich wohl - auch wenn sehr viele Menschen um mich herum waren, fühlte ich mich von dem geborgen, was der Professer erzählte. Als der Vortrag vorbei war, wollte ich mich unbedingt - einem inneren Drang folgend - mit diesem Menschen, der mich zwei Stunden lang in seinen Bann gezogen hatte, unterhalten, aber er blockte ab, gab ein genervtes "Keine Zeit!" von sich und verschwand...

Ich fühlte mich in diesem Moment leer. Ich weiß nicht, wie ich es anders sagen sollte. Nach dem Höhenflug der letzten Stunden, in denen ich all seine Worte in mich nahezu aufgesogen hatte, ließ er mich stehen. Da war es wieder. Dieses Gefühl, das mich seit Wochen begleitete. Ich sei nichts, aber auch nicht das Geringste wert.

Mangelndes Selbstbewußtsein, Angst vor anderen Menschen, Zweifel an mir selbst - tagein, tagaus war dies mein ständiger Schatten.

Können Sie jetzt verstehen, warum ich - gestern, als ich die Anzeige las - sofort dort angerufen habe? Am Ende der Woche, so versprach man, würde ich meine Lieferung bekommen. Ob sie auch genug Wasser hätten und nicht ausgerechnet dann die Quelle versiegt, wenn es darum ginge, gerade meine Flaschen abzufüllen? Auf meine Frage versicherte man mir lachend am anderen Ende der Leitung, daß dies gewiß nicht geschehen würde.

Bald werde ich das Wasser der Weisheit trinken. Wie es wohl schmeckt? Während der nächsten Tage habe ich mir darüber viele Gedanken gemacht.

Bezahlung bei Lieferung. Das hatten wir ausgemacht. Gut - vielleicht bin ich dumm und mein Vater hatte recht gehabt- aber auf mein Geld achte ich sehr, müssen Sie wissen.

Ich war sehr aufgeregt, als es dann an der Tür klopfte. Es war viel Geld für mich, was dieses Wasser kostet . Aber das war es mir wert, auch wenn ich in den nächsten Wochen mehr als nur sparsam leben würde müssen. Da war es, das Wasser der Weisheit. Ehrfurchtsvoll ging ich um die fünf Kisten herum. Ich traute mich nicht, sie zu öffnen. Ich war aufgeregt, und mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Bis ich dann endlich die erste Flasche mit jenem Wasser in meinen Händen hielt, waren Stunden vergangen. Es war so etwas Kostbares und ich mußte mich erst überwinden, die erste meiner fünf Kisten anzubrechen...

Als ich die erste Flasche trank, war ich voller Erwartung. Wie es sich wohl bemerkbar machen würde, das Wasser der Weisheit? Was sollte ich nun tun, während ich auf die Wirkung wartete? Es fiel mir ein, heute noch keine Zeitung gelesen zu haben. Ich nahm sie mir zur Hand, setzte mich hin und versuchte, mich abzulenken. Viel Neues gab es nicht in der Welt. Sie hatten wieder so einen Betrüger gefaßt, der mit Anzeigen in Tageszeitungen versucht hatte, Leitungswasser unter die Leute zu bringen und es als das Wasser des ewigen Lebens oder den Quell der immerwährenden Jugend verkaufte!

"Es wird dringend davor gewarnt, das Wasser zu trinken, da es schwer quecksilberhaltig ist und sein Genuß zum Tode führen kann."

Ich nahm mir noch eine Flasche von meinem Wasser - zwei helfen bestimmt mehr als eine! Sehen Sie, die Menschen sind dumm! Sie fallen auf so etwas herein! "Wasser des ewigen Lebens!" - Als ob es das geben würde! Ich glaube, jetzt fängt es an zu wirken. Ich wußte doch, daß ich keinem Betrüger aufgesessen war. Es ist immer wieder eine Schande, wenn man versucht, auf Kosten ehrlicher Menschen Geschäfte zu machen!

Ich fühle mich ein wenig seltsam - zugegeben - wahrscheinlich deshalb, weil ich noch überhaupt nichts gegessen habe heute - vor lauter Aufregung! Aber das ist bestimmt nur kurz so. Da bin ich mir sicher.......

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