© der Geschichte: Thomas Kohlschmidt. Nicht unerlaubt
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Zeitsturm

Daren rannte über den nassen Asphalt hinüber zum Temporal-Schiff. Sein Helm scheuerte im Nacken, und Wasser rann ihm über das müde Gesicht. Seine Bartstoppeln zwickten am Kragenwulst.
"Scheiße", dachte er, "Das wird diesmal knapp."
Er erreichte die Leiter zum Einstiegsschott, wuchtete sich den Rucksack noch einmal in anderer Position über die Schulter und schaute gegen den trommelnden Regen nach oben. Die Aggregate des Kampf-Zeiters glühten bereits, pulsten im Vorwärm-Modus.
Er stemmte sich die Stiegen hoch. Was für ein Gewicht so ein Einsatz-Pack doch hatte. Schweiß mischte sich in das Wasser vom Himmel und perlte ihm in die Augen.
Endlich war er oben und im Trockenen. Das Schott fuhr zischend herunter.
"Ah, Daren. Sie sind mal wieder der Letzte! Machen Sie zu, kommen Sie hier rüber!"
Commander Paulsson stand in voller Montur im Mannschafts-Hangar. Breitbeinig hatte er sich vor dem Bodenschlepper aufgebaut und funkelte ihn scheinbar böse an.
"Aye, Sir!" versuchte Daren zackig zu sagen, aber es gelang ihm nur eine matte, nachlässige Variante.
"Hoffentlich schaffen wir das Auftauchen aus unserem Zeitstrom noch!" dachte er verzweifelt.
Die alte Angst des modernen Kriegers. Fast konnte man sich die Zeit der Regional-Kriege zurückwünschen. Da fanden Kriege wenigstens innerhalb einer Zeit statt und verwüsteten höchstens Lebensräume...
Daren schleppte sich hinüber in 'Reih und Glied', zu den Kameraden, die schon vor Paulsson strammstanden. Er ließ den Rucksack zu Boden gleiten und stellte sich in Hab-Acht-Stellung davor, wie alle.
Er spürte ein Vibrieren unter seinen Füßen, das typische Anspringen der Antriebs-Aggregate. Der Kampf-Zeiter erwachte zum Leben.
"Männer!" schrie der Commander wie immer zu Beginn einer Mission, "Uns erwartet wieder einmal eine Bergungs-Aktion, 1125 Jahre strom-abwärts."
Daren zog sich der Magen zusammen. Das war einer der umkämpftesten Temporal-Abschnitte: die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, die Ära der ersten Nuklear-Waffen. Jeder hier wußte, daß das eine von drei Sperr-Zonen war. Zivile Zeitschiffe durften hier nicht in Eintauch-Geschwindigkeit gehen, räumlich gesprochen.
Daren hatte sich zwar inzwischen daran gewöhnt, aber es fiel ihm immer noch schwer sich unter einer 'Zeitreise-Geschwindigkeit' den Grad der Verzerrung des Temporalgefüges vorzustellen und den sogenannten realitiven Schiffswinkel zum nächsten Zeitstrahl.
"Wir werden zusammen mit der '4. Zeitsturm-Staffel' einfliegen. Cox und Krauss werden die beiden Geschwader jenseits des Parallel-Stroms übernehmen. Wir gehen mit diesem und drei weiteren Zeitern direkt in unseren Strom!"
"Wenn es nur nicht wieder zu einem Cross-Over kommt...", stöhnte der Mann neben Daren.
"Wenn wir dabei noch in Inter-Zeit sind, könnten wir vielleicht kompensieren", antwortete er dem Hünen, der aber schüttelte den Kopf.
Okay, so eine Kompensation hatte erst zwei-dreimal geklappt. Beim erfolgreichen Zeit-Einsatz kam es eben darauf an, zwischen parallel in der Inter-Zeit liegenden Temporal-Strömen hindurchzutauchen und ein Verschlingen ähnlicher Daseins-Schienen zu vermeiden. Sonst konnte es leicht geschehen, daß Teilwelten des Zeitstrom-Spektrums zerstört wurden. Die Kriege der letzten Standard-Zeit-Jahre hatte im Zeitspektrum schon mehrere Tot-Schneisen gerissen. Daren fühlte Wut in sich aufsteigen. Er würde seine Heimat in den Weiten der Alternativzeiten bis zuletzt verteidigen. Er wäre jederzeit und überall bereit für den Erhalt seiner Realität zu sterben.
Das wäre allemal besser als bei der Rückkehr eine entartete Realität vorzufinden, in der Inter-Zeit zu stranden oder schließlich in einen x-beliebigen Zeitstrom hinabzukippen. Wie viele Kameraden waren schon so verschollen, verschwunden in einem unwirtlichen Teil des Spektrums.-
Der Zeiter schwang sich, verpackt in ein Kissen aus Temporalfeldern, Jahrzehnte am Zeitstrahl ihrer Welt zurück. Der Bereich der Inter-Zeit war visuell nicht zu erfassen. Früher hatte Daren nach Fenstern im Schiff gesucht und später erfahren, daß diese erst nach Eintauchen in die Standard-Zeit innerhalb eines angeflogenen Zeitstroms geöffnet wurden. Dann begann das räumliche Sehen.
"Im Inter-Zeit-Abschnitt Z52/308 ist unser '27-stes' in ein Minenfeld der 'Armada' geraten. Hohe Verluste. Abstürze über einen Zeitraum von 32 Standard-Jahren in unseren Temporal-Strom hinein. Wir sollen einen der frühesten Abstürze sichern und bergen! Dazu müssen wir am Minenfeld vorbei und an einer Einheit mit Gegen-Zeit-Werfern."
"Oh, Mann!" stöhnte der Hüne wieder, "Uns bleibt auch nichts erspart."
Paulsson warf seinen Kopf herum, fixierte den Soldaten aus bösen Augen und schlich dann wie ein Panther auf ihn zu. "Sparen Sie sich Ihre destruktiven Einwürfe, Zeit-Maat Jadan! Wenn es Ihnen hier zu heiß wird, sollten Sie Ihren gepflegten Zucker-Arsch vielleicht lieber zur Regional-Marine verfrachten!"
Dann wandte er sich wieder an die zwölfköpfige Mannschaft ihres Zeiters.
"Besetzt die Geschütze. In fünf bis sechs Minuten Bordzeit geht es los. Minen-Ortung läuft. Soweit alles klar, noch Fragen?"
"Ja", sagte Daren, "Gibt es Meldungen darüber, ob es bereits Temporal-Strom-Umlenkungen seit unserem Start gegeben hat?"
"Nein, Daren. Negativ. Wir gehen im Moment davon aus, daß unsere Heimat existiert. Weswegen sind wir sonst hier?"
"Für Rache, Sir!"
Der Commander sah ihn für Sekunden ausdruckslos an, dann sagte er: "Das wäre Stufe Zwei. Verlassen Sie sich drauf!" Daren atmete tief aus. Dieses war das größte Grauen der heutigen Kriege, wenn es dem Gegner gelang in den frühen Zeitstrom einzutauchen und den bis dahin natürlichen Gang der Dinge zu verändern. So zu verändern, daß der Feind der Zukunft einfach verschwand oder rechtzeitig Sklave wurde. Sollte so eine Manipulation von der 'Armada' vergenommen worden sein, waren sie mit diesem Schiff wenigstens noch rausgekommen.-
Ein Ruck lief durch den Zeiter.
Die erste Explosion war erfolgt. Zeitminen waren teuflische Dinger. Während Daren zu seinem Kampfstand hochstieg, sah er vor seinem geistigen Auge diese harmlos scheinenden Zylinder auftauchen. Die 'Armada' war seit Beginn des 3. Zeitkrieges auf diese Mordmaschinen spezialisiert, der 'Zeitsturm' setzte mehr auf Gegen-Zeit-Felder.
"Laßt die Dinger nicht näher als drei Sekunden Relativ-Zeit an uns heran!" schrie ihnen Paulsson von unten zu.
"Ich bin doch kein Anfänger mehr", murmelte Daren und startete das Abwehr-Programm seines Feld-Werfers.
Es würde jetzt darum gehen, das Zeitfeld der Minen aufzureißen, bevor diese ihrerseits die kontinuum-verzerrenden Kräfte des Schiffes stören konnten. Es würde zu einer Art 'Armdrücken' von Kraft und Gegenkraft kommen. Der Verlierer würde seine Inter-Zeit-Integrität verlieren und durch den raschen Übergang auf das Unterniveau über viele Minuten hinweg zerrissen werden. Daren nannte soetwas eine 'Zeit-Explosion'. Paradox fand er es immer wieder, daß der zerstörte Gegner in seinen Raumkoordinaten noch unversehrt bleiben konnte, nur seine Zeit-Struktur war desolat.
"Auf die gute alte Raum-Zeit-Stabilität!" zischte er grimmig und sah auf dem Peilschirm seiner Überwachungszone mehrere Minen heran driften. Dieser Schirm rechnete Zeitdistanzen in räumliche Darstellung um, damit die Konstellationen vom menschlichen Gehirn verarbeitet werden konnten. Daren versuchte jetzt nicht daran zu denken.
"Weg mit den Scheißern, zack!"
Er steuerte die Parameter des Abwehrprogrammes auf höchsten Freiheitsgrad.
Vier Sekunden jenseits des Zeiters desintegrierte die erste Mine , dann erwischte es schon die Nächste.
Das fing gut an.
Seine Kameraden schienen ebenfalls Erfolg zu haben. Er konnte Jubel aus mehreren Kampfständen hören. Dazwischen tönte der Commander: "Sehr gut, Männer! Aber werdet nicht übermütig! Voll drauf!"
Zack, Zack, Zack und nochmal...
Ein mächtiger Schlag dröhnte durch das Schiff. Verdammt! Das mußte ein Treffer der 'Armada' sein. Gegen-Zeit-Felder! Sie legten sich so schnell 'schräg' zur bisherigen Inter-Zeit-Koordinate, daß die Kompensatoren nicht hinterher kamen. Die Mannschaft wurde in ihre Sessel gedrückt.
Schmerz zuckte durch Darens Brustkorb. Er mußte husten.
Wie oft hatte es ihn in diesem Krieg schon fast erwischt? Er rang nach Luft. Sein Feld-Werfer putzte wieder mehrere Minen beiseite. Die Todes-Teppiche der 'Armada' wurden immer größer. Er hatte oft schon den Verdacht gehabt, daß sie Waffen-Nachschub aus parallelen Zeitströmen bezogen. Der Nachrichtendienst des 'Zeitsturms' hatte wiederholt merkwürdige Nachrichten aus ungewöhnlichen Spektrum-Zonen aufgefangen. Leider waren diese verschlüsselt und verstümmelt gewesen.
"Hauptsache unser Inter-Zeit-Krieg mischt sich nicht mit dem zwischen anderen Zeitströmen."
So ein Multi-Crossover wäre nicht einmal mehr von ihren besten strategisch-taktischen Rechengehirnen zu meistern. Das wäre Schach auf unendlich vielen Ebenen, Jonglieren mit Milliarden von Bällen.
"Scheißer!" schrie Daren. Das Schiff schlingerte wieder, irgendwo tönte ein Alarm. Er warf einen Blick über seine Schulter zurück und hinunter durch das Bodenluk in den Mannschafts-Hangar. Dort flackerte rotes Not-Licht.
"Die haben uns doch wohl nicht erwischt?"
Er mußte Panik niederkämpfen. Das Blut schoß ihm in die Ohren, für einen Moment wurde ihm schwindelig. Seine Atemzüge klangen viel zu laut.
Schweiß lief wieder durch seinen Stoppelbart.
"Wir sind gleich durch!"
Das war der Commander.
Daren setzte sich in seinem Kampf-Sitz auf und kniff die Augen zusammen. Die Peilung zeigte jetzt nur noch sechs Minen in seinem Abschnitt an.
"Euch geb' ich die Breitseite..."
Die Leuchtpunkte auf dem Schirm blendeten sich einer nach dem anderen aus, bis auch der Letzte verschwunden war.
Geschafft.
Der Zeiter glitt auf seinem Felderkissen in Eintauch-Position. Datenreihen liefen mit unvorstellbarer Geschwindigkeit durch die Speicher-Module der Bordrechner, wurden verglichen, sortiert, verdichtet, umgeformt und nach programmatisch vorgeschriebenen Rhythmen neu verteilt. Das Ping-Pong-Spiel der beteiligten Dateien und Programme zog jetzt die Energien des Schiffes zu sich. Nicht benötigte Komponenten wurden abgeschaltet oder zumindest heruntergefahren. Es würde dunkler und kälter.
"Eintritt in vier Sekunden Bordzeit!"
Was hatte der Commander gesagt? Sie würden Mitte des 20. Jahrhunderts in den Strom springen. Nuklear-Zeitalter. Aber über die Regional-Koordinaten hatte er nichts gesagt.
"Hauptsache der Bordcomputer weiß Bescheid..."
Ein Ziehen lief durch seinen Magen. Die Sequenz begann.
Vier, Drei, Zwei...
Das Schiff wurde von Irgendetwas gepackt.
"Treffer der 'Armada'!!" schrie es in Darens Kopf, da war der Countdown zuende, und sie verließen schlagartig die Inter-Zeit.
Die Fensterschotten surrten und glitten beiseite. Wirbelnde Wolken kamen jenseits der entspiegelten Scheiben zum Vorschein. Sie brausten über den Himmel, also lag ihr Einsatzgebiet nicht in Neuseeland, wo ihre Basis über 1000 Jahre in der Zukunft lag.
Er sackte in seinen Sessel zurück und starrte eine Weile auf die tobenden Gewalten da draußen. Bizarre Schwaden türmten sich auf und zerissen, Luftwirbel heulten.
"Mannschaft zum Briefing!" befahl der Cammander, und so mußte sich der müde Soldat von dem Naturschauspiel abwenden und hinabsteigen.
Er eilte durch den Hangar zu seiner Position.
"Männer, das war ausgezeichnet! Ein sauberer Durchbruch!
Wir befinden uns nun im Jahr 1947. Genauer gesagt ist es die Nacht zum 2. Juli 1947. Unser Auftrag besteht darin, einen abgestürzten Zeiter unseres Gen-Kommandos zu bergen, bevor die Menschen dieser Zeit das Schiff entdecken. Die Entdeckung unserer Technologie in den politisch instabilen Zeiten des 20. Jahrhunderts könnte verheerende Folgen haben und die Zukunft, so wie wir sie kennen, auslöschen. Aber das dürfte hoffentlich jedem klar sein: Beim Bergungseinsatz darf keinesfalls Kontakt zur Bevölkerung aufgenommen werden oder Ausrüstung zurückbleiben."
"Sir, wieviele Gen-Soldaten sind in dem abgestürzten Schiff?"
"Drei. Spezial-1B-Mutanten. Erweiterte Hirnkapazität, konfigurierte Augen."
Da erscholl eine Sirene.
"Verdammt, was...?"
Alle sahen sich erstaunt an. Der Commander ging zur Zentralkonsole und warf ein paar Blicke auf die Displays. Dann verdunkelte sich sein Gesicht.
"Die Mission wurde automatisch vom Rechner abgebrochen. Der letzte Treffer der 'Armada' hat uns böser erwischt als vermutet. Bevor wir hier in dieser Zeit stranden und nicht mehr starten können heißt es Abpfiff für uns. Scheiße!" Daren fühlte die Enttäuschung durch alle Knochen fahren. Das Schiff schwang zurück in die Inter-Zeit, vorbei an den Gewitterwolken über dem kargen Osten von New Mexico, zwischen Corona und Roswell.

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