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Vor dem Morgen
Alaska, Lake Clark Nationalpark
Das Eis schmolz nur langsam in seiner Hand. Seine rot angelaufenen
Fingerkuppen schmerzten. Suchend wanderten die Augen des Jungen über
die weite Eiswüste, die sich vor ihm erstreckte als unbekanntes Nichts. Kälte
kroch von seinen Füßen nach oben, während die eisige Luft sein Haar leblos
erscheinen ließ. Hinter seinem Rücken taten sich die Chigmit - Mountains
auf. Mächtige Bergmassive, schneebedeckt und unerreichbar. Der Himmel
leuchtete stahlblau und der Schnee reflektierte die Sonne. Damit der Junge
etwas erkennen konnte, war er gezwungen, die Augen zuzukneifen.
Ein schwacher Wind zog über die Ebene des Lake Clark Nationalpark
und strich durch das Haar des Jungen. Dick eingemummt starrte er in die
Wüste aus Eis. Am Horizont verschmolzen Himmel und Erde zu einem
Ganzen. Obwohl seine Augen immer noch nach weiteren Lebenszeichen
suchten, sank die Überzeugung in seinem Herzen, sie doch noch zu finden.
Der dicke Schal reichte ihm bis über die Nasenspitze, nur seine Augen
lugten darüber hervor. In der Winterjacke wirkte der Junge wie ein großer
Spielball, in dem er sich kaum bewegen konnte. Er wischte sich den
restlichen Schnee, der in seiner Hand noch immer nicht schmolz, herunter
und rieb sich die Handflächen, die niemals warm wurden, hier in der
Eiswüste Alaskas, einem Ort fern jeglicher Zivilisation.
In der Stille glaubte der Junge manchmal, allein zu sein. Es gab
nichts, was vor seinen Augen lebendig war. Kein Rauschen der Natur, kein
Anzeichen von Leben. Alles um ihn herum war erfroren, als hätte die Welt
verloren, was auf ihr einst existierte - Leben. Er drehte sich um und kehrte
zu seinem Zuhause zurück, in das Zeltlager. Zu Anfang zählte das Lager
noch über zwei Dutzend, doch heute war es bis auf sechs Zelte geschrumpft.
Auf ein weitläufiges Plateau waren sie geflüchtet, die einzige Stelle in der
Gegend, an der man sich niederlassen konnte. Der Wind spielte mit den
Zeltplanen, ließ sie immer wieder auf und ab wippen. Nur wenige Menschen
schlichen um die Zelte herum, prüften, ob die Haken im Eis dem
kommenden Sturm standhalten würden.
Er näherte sich zögernd dem Zeltlager und mit jedem Schritt durch
den harten Schnee erinnerte er sich klarer an die alten Geschichten seiner
Mutter. So, wurde ihm plötzlich klar, hatte die Zivilisation angefangen. Ganz
klein, mit nichts.
"Als sie angefangen haben, hatten sie nichts", erzählte sie, "und darauf
errichteten sie dann die Metropolen dieser Welt." Bei diesen Worten klang
ihre Stimme immer ehrfürchtig. Metropolen, was auch immer das bedeuten
mochte, David kannte es nur aus ihren Erzählungen. Jeden Tag, wenn er
von seinen verzweifelten Expeditionen in der Eiswüste zurückkehrte, kamen
ihm ihre Worte in den Sinn.
"Diese Welt! Sie liegt nicht mehr in unserer Hand. Sie ist nicht mehr
unsere, gehört den Menschen nicht mehr. Einst war sie Wiege und dann
Herberge, die Menschen wuchsen und lebten mit den Erfahrungen, aber sie
vergaßen dabei, mit ihrem Herzen zu leben."
Immer wieder klang ihre Rede in ihm wider, wie ein Echo, doch der
Sinn wollte sich ihm nicht offenbaren.
David hatte das Lager erreicht und schlug die Zeltbahn ihrer
Unterkunft hoch, kroch hinein. Er tat dies mit einem unguten Gefühl, vor
Angst, dass es seiner Mutter wieder schlechter ging. Innen war es nicht viel
wärmer als draußen, trotzdem legte er seine Jacke ab. Dann näherte er sich
vorsichtig dem Bett, in dem seine Mutter lag. Ihr Atem ging schwer.
Sie sah ihn an, ein Lächeln erschien auf dem ansonsten von
Schmerzen verzehrten Gesicht. Schon lange war sie krank, wie der Großteil
der Leute im Lager. Eine mysteriöse Krankheit hatte beinahe alle erfasst,
gegen die es keine Medikamente gab. David beobachtete voller Furcht, wie
sich der Zustand seiner Mutter von Tag zu Tag verschlechterte. Auch hier
war die Hoffnung auf eine Genesung jäh verschwunden.
"Mein Junge, komm her zu mir."
Er beugte sich zu ihr, konnte ihre Stimme kaum hören. Tränen stiegen
in ihm hoch.
"David, du musst dir keine Sorgen machen."
"Mom. Mom, was ist hier los? Warum werden alle plötzlich krank?
Wieso sterben alle?"
"Mein Sohn, die Menschen wurden geboren, um etwas zu erschaffen.
Aber sie haben das Ziel aus den Augen verloren. Haben alles zerstört, was
ihnen geschenkt worden ist. Sie haben sich selbst zerstört. Doch ich bin
überzeugt davon, dass ein Ende auch immer ein Anfang sein kann. Es wird
wenige geben, denen es bestimmt ist, von neuem das Ziel zu finden und von
vorne anzufangen. Ich spüre, dass du zu den Wenigen gehörst. Du bist ein
großartiger Junge, fähig, Großes zu schaffen. Setz dir das als Ziel."
Erschöpft schloss sie die Augen. David nahm ihre fiebrigen Hände in
seine kalten. Noch lebte sie, aber er spürte, wie das Leben immer mehr aus
ihr wich. Jetzt konnte er seine Tränen nicht zurückhalten.
"Ich hasse diese Welt! Was ist nur passiert? Was meinst du mit dem
Ziel? Welches Ziel?", fragte er flehend.
Sanft strich ihm seine Mutter über das Gesicht. Er fühlte, dass sie die
letzten Kräfte sammelte, um ihm eine Erklärung zu geben.
"David, du musst dich nicht fürchten. Es tut mir Leid, dass ich und
alle anderen dir eine Welt hinterlassen, die so fürchterlich geworden ist, dass
noch nicht einmal dieser entlegene Ort eine Rettung bedeutet. Trotzdem
bedauere ich es nicht, dass es dich gibt, denn du bist das Beste, was mir im
Leben geschenkt wurde." Sie hielt inne, schöpfte nach Atem, fuhr dann fort.
"Gott gab uns diese Welt, uns Menschen. Wie bauten Metropolen,
Angelpunkte, die immer größer und größer wurden. Netzwerke, U-Bahnen,
Straßen, die alles miteinander verbanden. Die Menschheit wurde älter und
mit ihnen ihr Glaube. Doch während sie alles miteinander verknüpften,
entfernten sie sich innerlich immer weiter voneinander. Die Welt wurde
düster. Neid und Missgunst verdrängten Entschlossenheit und Hoffnung.
Kriege begannen. Städte und Metropolen wurden zerstört, Menschen getötet.
Der Wille zu überleben schwand und damit auch der Glaube, dass ein
warmer Lichtstrahl vom Himmel alles verändern könnte."
Sie kniff erschöpft die Augen zusammen. David umklammerte ihre
Hand. Die Worte verängstigten ihn. Er verstand sie nicht.
"Mom. Das kann doch nicht sein. Die Menschen können doch nicht so
schlecht sein."
"Nein, nicht alle. Aber viele. Zu viele. Statt aufzubauen, wurde zerstört.
Ohne Rücksicht auf andere, ohne Rücksicht auf die Umwelt. Es gab keinen
anderen Ort mehr, an den wir uns zurückziehen konnten. Nur noch diese
unwirtliche Eiswüste. Aber wir hatten keine andere Wahl. Also zogen wir
hierhin. Eine kleine Gemeinschaft, die den Glauben an das Gute noch nicht
aufgegeben hatte. Hoffnung trugen wir in uns, Hoffnung auf ein besseres
Leben, auf eine Veränderung. Einen sicheren Ort suchten wir, um neu
anzufangen. Aber es scheint unser Schicksal zu sein, es nicht mehr zu
erleben." Ihre Stimme versiegte fast, von Schwäche gezeichnet. "David, nicht
die Menschen werden versiegen, sondern ihre eigene Gewalt, weil sie sich
gegenseitig besiegen werden."
Ihr Kopf sank ins Kissen. David erschien es so, als hätte sie nun,
nachdem sie ihm all das gesagt hatte, aufgegeben. Ihr Atem ging flach und
stoßweise. Er begann zu weinen und versuchte sie wach zu rütteln.
Verzweiflung breitete sich in ihm aus.
"Mom?" Seine Stimme zitterte, doch sie rührte sich nicht mehr. Sie fiel
in einen tiefen Schlaf und er wusste, dass sie nie wieder erwachen würde. Er
deckte sie mit den restlichen Decken zu. Dann konnte er den Anblick nicht
mehr ertragen, nahm seine Jacke und verließ das Zelt.
Draußen türmten sich die Bahren mit den Menschen, die gestorben
waren. Er konnte es kaum fassen, war überhaupt noch jemand übrig
geblieben, außer ihm? Er sah, wie sich jemand über eine Bahre beugte.
Langsam ging David zu dem Mann und erkannte den letzten Arzt.
"Sind alle tot?", fragte er ihn.
Der Mann schrak auf. "Junge, was machst du hier noch?"
David konnte die Stimme kaum verstehen, eisiger Wind war
aufgekommen und ein Schneesturm näherte sich. Er kündigte sich mit
Hagelkörnern an, die sich wie feine Nadelspitzen in seine Haut bohrten.
David vergrub seine kalten Hände in den Jackentaschen.
"Was passiert hier?" Er musste fast schon schreien, um das Heulen
des Windes zu übertönen.
"Wir müssen hier weg, sonst sterben wir alle."
"Aber warum?" David verstand es immer noch nicht.
Der Arzt seufzte. "Es ist ein Virus. Alle sterben. Es gibt nichts, was wir
dagegen tun können. Es passiert einfach." Er schüttelte ratlos den Kopf. "Die
Flucht ist unsere einzige Rettung. Wenn wir hier bleiben, sterben wir auch."
Mit diesen Worten drehte sich der Arzt um, vermummte sich in dem
dicken Schal und seinem Schneeanzug und verschwand im stärker
werdenden Schneesturm. David ging zu einer kleinen Anhöhe und
verschaffte sich einen Überblick über das Zeltlager, das vom Schnee
allmählich eingenommen wurde. Es bewegte sich niemand mehr. Noch eine
tote Stadt. David kehrte zu seinem Zelt zurück. Den Schneesturm zu
überleben, war sein erstes Ziel.
Er wusste nicht, wie lange der Sturm andauerte, der an Heftigkeit alles
bisher da gewesene übertraf und nichts mehr von dem übrig ließ, was sie
sich einst erschaffen hatten.
Doch dann war es auf einmal so, als hätte der Planet einen Seufzer der
Erleichterung getan. Der Sturm verebbte. Er ließ eine gespenstische Ruhe
zurück. Die Eiswüste hatte sich verändert. Die Ebene des Lake Clark
Nationalpark war zu einer Landschaft geworden, die einer Wüste gleichkam.
Sie wurden von Wellen und Hügeln, Plateaus und tiefen Kratern durchzogen,
die vorher nicht existierten. Das Zeltlager war unter dem ganzen Schnee fast
verschwunden. Graue Spitzen stachen aus dem weißen Pulver hervor, eine
Erinnerung der Vergangenheit, doch waren es nur die Gerüste des Camps,
das einmal die Heimat einiger Menschen war. Ein Stöhnen ging durch den
Schnee. Nur mit Mühe kämpfte David sich darunter hervor. Er war der
Eishölle entkommen und klammerte sich an sein Leben.
Erleichtert über seine Befreiung, lag er auf dem Rücken und
betrachtete den Himmel, der wie eh und je stahlblau in der Mittagssonne
schimmerte. Sein Brustkorb hob und senkte sich, mit letzten Kräften rang er
nach Luft. Erschöpft rollte er sich auf die Seite. Er stopfte sich eine Handvoll
Schnee in den Mund, wohl das Einzige, was er in nächster Zeit an
Flüssigkeit bekommen würde. Dann raffte David sich auf und schnappte
seinen Rucksack. Er schaute über das Land, in dem er aufgewachsen war.
Ein Schauder erfüllte ihn, doch die Kälte war aus seinem Körper gewichen.
Was er sah, war ihm nur allzu gut vertraut. Die Eiswüste streckte sich
warnend vor ihm aus. Er war allein, allein mit seinem Mut und seiner
Hoffnung, eine Welt vorzufinden, die nicht so sein mochte, wie seine Mutter
erzählt hatte. David wollte endlich wissen, was dort draußen war.
Er hatte gelernt, sich sein Essen selbst zu beschaffen und durch den
Schnee hatte er Wasser ohne Ende. Mit der wenigen Ausrüstung, die er in
seinem Rucksack mit sich schleppte, würde er die Reise schaffen müssen.
David wollte seine Hoffnungen nicht begraben, etwas anderes vorzufinden,
als was seine Mutter ihm prophezeit hatte. Es würde ein weiter Weg werden.
Quer durch Alaska, über Kanada, bis in die Vereinigten Staaten.
Der lange Fußmarsch zehrte an seinen Kräften. Müde schleppte er
sich von Tag zu Tag. Die Eiswüste zog sich fort, bis er an einen Graben
gelangte, der zwei Welten trennte. Gedankenverloren machte er sich auf, den
Graben zu durchqueren. In den Nächten fror er bitterlich, aber tagsüber
wurde es so warm, dass er Kleidung ablegen musste. Eine völlig neue
Erfahrung für ihn.
Manchmal begann er an der Sache zu zweifeln, doch aufgeben wollte
er nicht, konnte er nicht. Er wollte die Zivilisation finden, die seine Mutter
tot glaubte. Er fand nichts und doch trieb ihn die Hoffnung weiter. Keine
Existenz, keine Stadt, keine Menschen, bei denen er Unterschlupf finden
konnte.
Vor ihm erstreckte sich ein weites Tal, endlos lang. Es war der
ausgetrocknete Michigansee, durch den er watete. Mit erschrockenen Augen
betrachtete er die Leere, die sich um ihn herum auftat, als wäre alles
Lebendige einem Tod zum Opfer gefallen, der so plötzlich über ihn
hergefallen war. Auch hier konnte er kein Zeichen von Leben entdecken, so
mühsam er auch danach suchte.
David durchwanderte ein Land, in dem er bisher kein Leben gefunden
hatte, keine Zivilisation. Bislang waren seine Hoffnungen enttäuscht worden.
Schließlich gelangte er in eine Stadt oder das, was von ihr übrig geblieben
war. Gezeichnet von den Kriegen, wie seine Mutter es berichtet hatte.
David blieb mitten auf einer Straße stehen, die ins Herz der Stadt
führte. Ein Teppich faustgroßer Steine lag auf der aufgerissenen Teerdecke.
Die Stadt vor ihm war keine mehr. Der Krieg hatte seine Narben
hinterlassen. Fassaden waren mit Löchern durchsetzt, Stahlgerippe ragten
in den blauen Himmel hinauf wie ewige Zeitzeugen, die an einen brutalen
Holocaust erinnern sollten. Verbrannte Bäume säumten die Straße,
Grasflächen waren zu staubtrockener Erde geworden und die Zeit zu einem
Botschafter des Grauens. Er schlich durch eine Gegenwart, die ihm keine
Zukunft bot. Tränen liefen über seine Wangen. Die Luft schmeckte nach
Staub und wurde mit dem Wind davongetragen. Der Geruch verwesenden
Fleisches lag über allem. David fühlte sich in diesem Moment wie ein Glas,
dessen Scherben auf dem gestorbenen Boden dieses Landes klirrend
aufprallten und zerschmettert liegen blieben. War er hier am Ende seiner
Reise angelangt?
Doch dann erkannte er am Ende der Straße einen weißen Gartenzaun,
der dem Terror der Menschen nicht zum Opfer gefallen war. Er spürte das
Kribbeln in seinen Fingern, den Schmerz in seinen Füßen und das Dröhnen
in seinem Kopf. Der weiße Gartenzaun wirkte in diesem Bild der Zerstörung
wie ein Hoffnungsschimmer. Zögernd näherte er sich dem Zaun. Ein
Teddybär saß zwischen den Holzlatten. Der Teddybär sah mit seinen großen,
schwarzen Knopfaugen auf die zerstörte Metropole, in der einmal das Leben
pulsiert hatte. David nahm ihn an sich, ließ den samtigen Stoff des Tieres
durch seine Finger gleiten und drückte ihn an seine Brust. Jetzt fühlte er
sich nicht mehr so allein.
Langsam betrat er das weiß umzäunte Grundstück und spürte den
weichen Rasen unter seinen schwer gewordenen Füßen. David war erstaunt,
dass gerade dieser Ort verschont geblieben war. Ein Platz, an dem die
Hoffnung noch nicht verloren war? Er schlüpfte aus den verschlissenen
Schuhen und ballte die Zehen zusammen, damit er die wohltuende
Feuchtigkeit des Rasens spürte.
Die Angst war für diesen Moment aus seinem Herzen gewichen, aber
der Anblick der zerstörten Stadt verdeutlichte nur, wovon seine Mutter
immer erzählt hatte.
"Die Menschen, die uns umgeben, sind nicht immer das, woran wir
glauben wollen", hatte sie gesagt.
David hatte seine Wahrheit gefunden, doch ob er damit leben konnte,
das wusste er noch nicht. Er gab sich der Zeit hin und versuchte, mit dem
Teddybären einen Freund zu gewinnen, den er in seinem Leben noch nicht
gehabt hatte.
Epilog
Unser Planet hat sich verändert und mit ihm die Menschen. Die Zeit wird
voranschreiten und der Mensch auch. Ob die Erde diesem Rhythmus folgen
kann, unserem Streben nach Macht, auf der Welt die Dinge zu zerstören, die
uns wichtig sind, dass bleibt noch ein Geheimnis. So lange, bis vielleicht alle
Dinge auf unserem Planeten zerstört sein werden, die uns wichtig sind.
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