© der Geschichte: Marco Frohberger. Nicht unerlaubt
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Vor dem Morgen

Alaska, Lake Clark Nationalpark
Das Eis schmolz nur langsam in seiner Hand. Seine rot angelaufenen Fingerkuppen schmerzten. Suchend wanderten die Augen des Jungen über die weite Eiswüste, die sich vor ihm erstreckte als unbekanntes Nichts. Kälte kroch von seinen Füßen nach oben, während die eisige Luft sein Haar leblos erscheinen ließ. Hinter seinem Rücken taten sich die Chigmit - Mountains auf. Mächtige Bergmassive, schneebedeckt und unerreichbar. Der Himmel leuchtete stahlblau und der Schnee reflektierte die Sonne. Damit der Junge etwas erkennen konnte, war er gezwungen, die Augen zuzukneifen. Ein schwacher Wind zog über die Ebene des Lake Clark Nationalpark und strich durch das Haar des Jungen. Dick eingemummt starrte er in die Wüste aus Eis. Am Horizont verschmolzen Himmel und Erde zu einem Ganzen. Obwohl seine Augen immer noch nach weiteren Lebenszeichen suchten, sank die Überzeugung in seinem Herzen, sie doch noch zu finden. Der dicke Schal reichte ihm bis über die Nasenspitze, nur seine Augen lugten darüber hervor. In der Winterjacke wirkte der Junge wie ein großer Spielball, in dem er sich kaum bewegen konnte. Er wischte sich den restlichen Schnee, der in seiner Hand noch immer nicht schmolz, herunter und rieb sich die Handflächen, die niemals warm wurden, hier in der Eiswüste Alaskas, einem Ort fern jeglicher Zivilisation.
In der Stille glaubte der Junge manchmal, allein zu sein. Es gab nichts, was vor seinen Augen lebendig war. Kein Rauschen der Natur, kein Anzeichen von Leben. Alles um ihn herum war erfroren, als hätte die Welt verloren, was auf ihr einst existierte - Leben. Er drehte sich um und kehrte zu seinem Zuhause zurück, in das Zeltlager. Zu Anfang zählte das Lager noch über zwei Dutzend, doch heute war es bis auf sechs Zelte geschrumpft.
Auf ein weitläufiges Plateau waren sie geflüchtet, die einzige Stelle in der Gegend, an der man sich niederlassen konnte. Der Wind spielte mit den Zeltplanen, ließ sie immer wieder auf und ab wippen. Nur wenige Menschen schlichen um die Zelte herum, prüften, ob die Haken im Eis dem kommenden Sturm standhalten würden.
Er näherte sich zögernd dem Zeltlager und mit jedem Schritt durch den harten Schnee erinnerte er sich klarer an die alten Geschichten seiner Mutter. So, wurde ihm plötzlich klar, hatte die Zivilisation angefangen. Ganz klein, mit nichts.
"Als sie angefangen haben, hatten sie nichts", erzählte sie, "und darauf errichteten sie dann die Metropolen dieser Welt." Bei diesen Worten klang ihre Stimme immer ehrfürchtig. Metropolen, was auch immer das bedeuten mochte, David kannte es nur aus ihren Erzählungen. Jeden Tag, wenn er von seinen verzweifelten Expeditionen in der Eiswüste zurückkehrte, kamen ihm ihre Worte in den Sinn.
"Diese Welt! Sie liegt nicht mehr in unserer Hand. Sie ist nicht mehr unsere, gehört den Menschen nicht mehr. Einst war sie Wiege und dann Herberge, die Menschen wuchsen und lebten mit den Erfahrungen, aber sie vergaßen dabei, mit ihrem Herzen zu leben."
Immer wieder klang ihre Rede in ihm wider, wie ein Echo, doch der Sinn wollte sich ihm nicht offenbaren.
David hatte das Lager erreicht und schlug die Zeltbahn ihrer Unterkunft hoch, kroch hinein. Er tat dies mit einem unguten Gefühl, vor Angst, dass es seiner Mutter wieder schlechter ging. Innen war es nicht viel wärmer als draußen, trotzdem legte er seine Jacke ab. Dann näherte er sich vorsichtig dem Bett, in dem seine Mutter lag. Ihr Atem ging schwer.
Sie sah ihn an, ein Lächeln erschien auf dem ansonsten von Schmerzen verzehrten Gesicht. Schon lange war sie krank, wie der Großteil der Leute im Lager. Eine mysteriöse Krankheit hatte beinahe alle erfasst, gegen die es keine Medikamente gab. David beobachtete voller Furcht, wie sich der Zustand seiner Mutter von Tag zu Tag verschlechterte. Auch hier war die Hoffnung auf eine Genesung jäh verschwunden.
"Mein Junge, komm her zu mir."
Er beugte sich zu ihr, konnte ihre Stimme kaum hören. Tränen stiegen in ihm hoch.
"David, du musst dir keine Sorgen machen."
"Mom. Mom, was ist hier los? Warum werden alle plötzlich krank? Wieso sterben alle?"
"Mein Sohn, die Menschen wurden geboren, um etwas zu erschaffen.
Aber sie haben das Ziel aus den Augen verloren. Haben alles zerstört, was ihnen geschenkt worden ist. Sie haben sich selbst zerstört. Doch ich bin überzeugt davon, dass ein Ende auch immer ein Anfang sein kann. Es wird wenige geben, denen es bestimmt ist, von neuem das Ziel zu finden und von vorne anzufangen. Ich spüre, dass du zu den Wenigen gehörst. Du bist ein großartiger Junge, fähig, Großes zu schaffen. Setz dir das als Ziel."
Erschöpft schloss sie die Augen. David nahm ihre fiebrigen Hände in seine kalten. Noch lebte sie, aber er spürte, wie das Leben immer mehr aus ihr wich. Jetzt konnte er seine Tränen nicht zurückhalten.
"Ich hasse diese Welt! Was ist nur passiert? Was meinst du mit dem Ziel? Welches Ziel?", fragte er flehend.
Sanft strich ihm seine Mutter über das Gesicht. Er fühlte, dass sie die letzten Kräfte sammelte, um ihm eine Erklärung zu geben.
"David, du musst dich nicht fürchten. Es tut mir Leid, dass ich und alle anderen dir eine Welt hinterlassen, die so fürchterlich geworden ist, dass noch nicht einmal dieser entlegene Ort eine Rettung bedeutet. Trotzdem bedauere ich es nicht, dass es dich gibt, denn du bist das Beste, was mir im Leben geschenkt wurde." Sie hielt inne, schöpfte nach Atem, fuhr dann fort.
"Gott gab uns diese Welt, uns Menschen. Wie bauten Metropolen, Angelpunkte, die immer größer und größer wurden. Netzwerke, U-Bahnen, Straßen, die alles miteinander verbanden. Die Menschheit wurde älter und mit ihnen ihr Glaube. Doch während sie alles miteinander verknüpften, entfernten sie sich innerlich immer weiter voneinander. Die Welt wurde düster. Neid und Missgunst verdrängten Entschlossenheit und Hoffnung.
Kriege begannen. Städte und Metropolen wurden zerstört, Menschen getötet. Der Wille zu überleben schwand und damit auch der Glaube, dass ein warmer Lichtstrahl vom Himmel alles verändern könnte."
Sie kniff erschöpft die Augen zusammen. David umklammerte ihre Hand. Die Worte verängstigten ihn. Er verstand sie nicht.
"Mom. Das kann doch nicht sein. Die Menschen können doch nicht so schlecht sein."
"Nein, nicht alle. Aber viele. Zu viele. Statt aufzubauen, wurde zerstört. Ohne Rücksicht auf andere, ohne Rücksicht auf die Umwelt. Es gab keinen anderen Ort mehr, an den wir uns zurückziehen konnten. Nur noch diese unwirtliche Eiswüste. Aber wir hatten keine andere Wahl. Also zogen wir hierhin. Eine kleine Gemeinschaft, die den Glauben an das Gute noch nicht aufgegeben hatte. Hoffnung trugen wir in uns, Hoffnung auf ein besseres Leben, auf eine Veränderung. Einen sicheren Ort suchten wir, um neu anzufangen. Aber es scheint unser Schicksal zu sein, es nicht mehr zu erleben." Ihre Stimme versiegte fast, von Schwäche gezeichnet. "David, nicht die Menschen werden versiegen, sondern ihre eigene Gewalt, weil sie sich gegenseitig besiegen werden."
Ihr Kopf sank ins Kissen. David erschien es so, als hätte sie nun, nachdem sie ihm all das gesagt hatte, aufgegeben. Ihr Atem ging flach und stoßweise. Er begann zu weinen und versuchte sie wach zu rütteln.
Verzweiflung breitete sich in ihm aus.
"Mom?" Seine Stimme zitterte, doch sie rührte sich nicht mehr. Sie fiel in einen tiefen Schlaf und er wusste, dass sie nie wieder erwachen würde. Er deckte sie mit den restlichen Decken zu. Dann konnte er den Anblick nicht mehr ertragen, nahm seine Jacke und verließ das Zelt.
Draußen türmten sich die Bahren mit den Menschen, die gestorben waren. Er konnte es kaum fassen, war überhaupt noch jemand übrig geblieben, außer ihm? Er sah, wie sich jemand über eine Bahre beugte.
Langsam ging David zu dem Mann und erkannte den letzten Arzt.
"Sind alle tot?", fragte er ihn.
Der Mann schrak auf. "Junge, was machst du hier noch?"
David konnte die Stimme kaum verstehen, eisiger Wind war aufgekommen und ein Schneesturm näherte sich. Er kündigte sich mit Hagelkörnern an, die sich wie feine Nadelspitzen in seine Haut bohrten.
David vergrub seine kalten Hände in den Jackentaschen.
"Was passiert hier?" Er musste fast schon schreien, um das Heulen des Windes zu übertönen.
"Wir müssen hier weg, sonst sterben wir alle."
"Aber warum?" David verstand es immer noch nicht.
Der Arzt seufzte. "Es ist ein Virus. Alle sterben. Es gibt nichts, was wir dagegen tun können. Es passiert einfach." Er schüttelte ratlos den Kopf. "Die Flucht ist unsere einzige Rettung. Wenn wir hier bleiben, sterben wir auch."
Mit diesen Worten drehte sich der Arzt um, vermummte sich in dem dicken Schal und seinem Schneeanzug und verschwand im stärker werdenden Schneesturm. David ging zu einer kleinen Anhöhe und verschaffte sich einen Überblick über das Zeltlager, das vom Schnee allmählich eingenommen wurde. Es bewegte sich niemand mehr. Noch eine tote Stadt. David kehrte zu seinem Zelt zurück. Den Schneesturm zu überleben, war sein erstes Ziel.
Er wusste nicht, wie lange der Sturm andauerte, der an Heftigkeit alles bisher da gewesene übertraf und nichts mehr von dem übrig ließ, was sie sich einst erschaffen hatten.
Doch dann war es auf einmal so, als hätte der Planet einen Seufzer der Erleichterung getan. Der Sturm verebbte. Er ließ eine gespenstische Ruhe zurück. Die Eiswüste hatte sich verändert. Die Ebene des Lake Clark Nationalpark war zu einer Landschaft geworden, die einer Wüste gleichkam.
Sie wurden von Wellen und Hügeln, Plateaus und tiefen Kratern durchzogen, die vorher nicht existierten. Das Zeltlager war unter dem ganzen Schnee fast verschwunden. Graue Spitzen stachen aus dem weißen Pulver hervor, eine Erinnerung der Vergangenheit, doch waren es nur die Gerüste des Camps, das einmal die Heimat einiger Menschen war. Ein Stöhnen ging durch den Schnee. Nur mit Mühe kämpfte David sich darunter hervor. Er war der Eishölle entkommen und klammerte sich an sein Leben.
Erleichtert über seine Befreiung, lag er auf dem Rücken und betrachtete den Himmel, der wie eh und je stahlblau in der Mittagssonne schimmerte. Sein Brustkorb hob und senkte sich, mit letzten Kräften rang er nach Luft. Erschöpft rollte er sich auf die Seite. Er stopfte sich eine Handvoll Schnee in den Mund, wohl das Einzige, was er in nächster Zeit an Flüssigkeit bekommen würde. Dann raffte David sich auf und schnappte seinen Rucksack. Er schaute über das Land, in dem er aufgewachsen war.
Ein Schauder erfüllte ihn, doch die Kälte war aus seinem Körper gewichen. Was er sah, war ihm nur allzu gut vertraut. Die Eiswüste streckte sich warnend vor ihm aus. Er war allein, allein mit seinem Mut und seiner Hoffnung, eine Welt vorzufinden, die nicht so sein mochte, wie seine Mutter erzählt hatte. David wollte endlich wissen, was dort draußen war.
Er hatte gelernt, sich sein Essen selbst zu beschaffen und durch den Schnee hatte er Wasser ohne Ende. Mit der wenigen Ausrüstung, die er in seinem Rucksack mit sich schleppte, würde er die Reise schaffen müssen.
David wollte seine Hoffnungen nicht begraben, etwas anderes vorzufinden, als was seine Mutter ihm prophezeit hatte. Es würde ein weiter Weg werden. Quer durch Alaska, über Kanada, bis in die Vereinigten Staaten.
Der lange Fußmarsch zehrte an seinen Kräften. Müde schleppte er sich von Tag zu Tag. Die Eiswüste zog sich fort, bis er an einen Graben gelangte, der zwei Welten trennte. Gedankenverloren machte er sich auf, den Graben zu durchqueren. In den Nächten fror er bitterlich, aber tagsüber wurde es so warm, dass er Kleidung ablegen musste. Eine völlig neue Erfahrung für ihn.
Manchmal begann er an der Sache zu zweifeln, doch aufgeben wollte er nicht, konnte er nicht. Er wollte die Zivilisation finden, die seine Mutter tot glaubte. Er fand nichts und doch trieb ihn die Hoffnung weiter. Keine Existenz, keine Stadt, keine Menschen, bei denen er Unterschlupf finden konnte.
Vor ihm erstreckte sich ein weites Tal, endlos lang. Es war der ausgetrocknete Michigansee, durch den er watete. Mit erschrockenen Augen betrachtete er die Leere, die sich um ihn herum auftat, als wäre alles Lebendige einem Tod zum Opfer gefallen, der so plötzlich über ihn hergefallen war. Auch hier konnte er kein Zeichen von Leben entdecken, so mühsam er auch danach suchte.
David durchwanderte ein Land, in dem er bisher kein Leben gefunden hatte, keine Zivilisation. Bislang waren seine Hoffnungen enttäuscht worden. Schließlich gelangte er in eine Stadt oder das, was von ihr übrig geblieben war. Gezeichnet von den Kriegen, wie seine Mutter es berichtet hatte.
David blieb mitten auf einer Straße stehen, die ins Herz der Stadt führte. Ein Teppich faustgroßer Steine lag auf der aufgerissenen Teerdecke.
Die Stadt vor ihm war keine mehr. Der Krieg hatte seine Narben hinterlassen. Fassaden waren mit Löchern durchsetzt, Stahlgerippe ragten in den blauen Himmel hinauf wie ewige Zeitzeugen, die an einen brutalen Holocaust erinnern sollten. Verbrannte Bäume säumten die Straße, Grasflächen waren zu staubtrockener Erde geworden und die Zeit zu einem Botschafter des Grauens. Er schlich durch eine Gegenwart, die ihm keine Zukunft bot. Tränen liefen über seine Wangen. Die Luft schmeckte nach Staub und wurde mit dem Wind davongetragen. Der Geruch verwesenden Fleisches lag über allem. David fühlte sich in diesem Moment wie ein Glas, dessen Scherben auf dem gestorbenen Boden dieses Landes klirrend aufprallten und zerschmettert liegen blieben. War er hier am Ende seiner Reise angelangt?
Doch dann erkannte er am Ende der Straße einen weißen Gartenzaun, der dem Terror der Menschen nicht zum Opfer gefallen war. Er spürte das Kribbeln in seinen Fingern, den Schmerz in seinen Füßen und das Dröhnen in seinem Kopf. Der weiße Gartenzaun wirkte in diesem Bild der Zerstörung wie ein Hoffnungsschimmer. Zögernd näherte er sich dem Zaun. Ein Teddybär saß zwischen den Holzlatten. Der Teddybär sah mit seinen großen, schwarzen Knopfaugen auf die zerstörte Metropole, in der einmal das Leben pulsiert hatte. David nahm ihn an sich, ließ den samtigen Stoff des Tieres durch seine Finger gleiten und drückte ihn an seine Brust. Jetzt fühlte er sich nicht mehr so allein.
Langsam betrat er das weiß umzäunte Grundstück und spürte den weichen Rasen unter seinen schwer gewordenen Füßen. David war erstaunt, dass gerade dieser Ort verschont geblieben war. Ein Platz, an dem die Hoffnung noch nicht verloren war? Er schlüpfte aus den verschlissenen Schuhen und ballte die Zehen zusammen, damit er die wohltuende Feuchtigkeit des Rasens spürte.
Die Angst war für diesen Moment aus seinem Herzen gewichen, aber der Anblick der zerstörten Stadt verdeutlichte nur, wovon seine Mutter immer erzählt hatte.
"Die Menschen, die uns umgeben, sind nicht immer das, woran wir glauben wollen", hatte sie gesagt.
David hatte seine Wahrheit gefunden, doch ob er damit leben konnte, das wusste er noch nicht. Er gab sich der Zeit hin und versuchte, mit dem Teddybären einen Freund zu gewinnen, den er in seinem Leben noch nicht gehabt hatte.

Epilog
Unser Planet hat sich verändert und mit ihm die Menschen. Die Zeit wird voranschreiten und der Mensch auch. Ob die Erde diesem Rhythmus folgen kann, unserem Streben nach Macht, auf der Welt die Dinge zu zerstören, die uns wichtig sind, dass bleibt noch ein Geheimnis. So lange, bis vielleicht alle Dinge auf unserem Planeten zerstört sein werden, die uns wichtig sind.

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