© der Geschichte: Thor. Nicht unerlaubt
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Toleranz

Es ist still in deinem Arbeitszimmer. Vor dir liegen Akten ausgebreitet, über die du die ganze Nacht gebrütet hast. Diese unfassbaren Unterlagen, die Dick (seinen richtigen Namen verschweigen wir lieber) dir ans Herz gelegt hat. Sein Vermächtnis. Mittlerweile dämmert es bereits und du bist immer noch ganz erschlagen von den verwirrenden Eindrücken. Mühsam versuchst du sie zu ordnen. Dir fehlt Schlaf und du blickst ins Leere.

Mit einer zufälligen Begegnung hat es begonnen. Vor drei Tagen hast du wieder einmal vergeblich im Abseits des Lebens auf eine Verabredung gewartet, die nie kommen sollte und dann steht er vor dir: im beigefarbenen Trenchcoat und mit Halbglatze, aber dieser stechende Blick - dein ehemaliger Klassenkamerad Dick, und du hättest ihn fast nicht erkannt. Er heuchelt dich an, wie erfreut er sei, dich wieder zu sehen, und du heuchelst munter zurück, weil dir in solchen Momenten einfach der Mumm fehlt, ehrlich zu sein. Du befürchtest schon das Unausweichliche, grausame Fragen nach der vorläufigen Bilanz des Lebens; denn der Richterspruch wäre nicht zu deinen Gunsten ausgefallen. Zum Glück hat er es eilig, aber er verspricht, sich zu melden und weil er es natürlich niemals tun würde gibst du ihm deine Nummer und siehst ihm nach. So wie man einer Vergangenheit nachsieht, die man längst begraben geglaubt hat.

Als Tags darauf der Apparat in der Lokalredaktion klingelt, in der du immer noch darauf wartest, dass dich der Karrierezug vom Abstellgleis der Vereinsmitteilungen aufliest, schlägt er ein Treffen vor. Zu verwirrt, um ihm ein angemessenes "verschwinde!" entgegenzuschleudern, sagst du zu. Immer noch besser als den kommenden Abend mit einem Krimi und zwei Tüten Kartoffelchips zu bestreiten.

In dem brechend vollen italienischen Bistro hast du Mühe, ihn zu entdecken, weil er sich in den hintersten Winkel verzogen hat. Bei der Hitze! Am liebsten hättest du auf dem Absatz kehrt gemacht, aber er hat dich bereits gesehen. Du musterst ihn im Näherkommen eingehend. Er sieht gut situiert aus und sein langer Körper strahlt die Energie einer Sprungfeder aus, aber er scheint müde mit umflorten Augen. Unentwegt sieht er sich um. Wieder ist er abgehetzt.
"Du bist Journalist", sagt er, kaum, dass du dich gesetzt hast. Mehr eine Feststellung denn eine Frage. Er hat ja deine Visitenkarte. Du nickst in aller Bescheidenheit, es gibt nicht viel Gutes dazu zu sagen. "Ich brauche deine Hilfe." Da du nur verblüfft den Mund aufklappst, fährt er fort. "Es geht nicht um Geld" Seine Hände vollführen eine souveräne, beruhigende Geste. Ein Hypnotiseur bei der Arbeit.
"Ich mach's so kurz wie möglich: Nach meiner Habilitation habe ich mit meinem Team für die UNO gearbeitet."
Wieso erzählt ein Professor einer Bauernblattkraft wie dir seine Laufbahn? Vielleicht hält er dich für einen Profi. Du zögerst, ihn über seinen Irrtum aufzuklären. Beim ordern, er einen Kaffee, du einen Whiskey, fällt dir ein, dass Dick schon immer ein heller Kopf war, du eher eine trübe Leuchte.
"Sagt dir EMID etwas?" Du verneinst.
"EMID steht für environmentally-mediated intellectual decline, bedeutet also geistiger Verfall in Folge von Umwelteinflüssen. Verstehst du?" Du verstehst nicht.
"Gifte. Abgase, Kunstdünger, Pestizide, Strahlung, Schwermetalle. In der Luft, im Wasser, der Kleidung, der Nahrung. Wir sind ihnen dauernd ausgesetzt. Jeder. Überall." Er hält inne.
"Urheber dieser Verseuchung sind wir selbst. Wir belasten die Umwelt und damit auch uns selbst. Denn wir stehen am Ende der Nahrungskette. Und dort pflegen sich Toxine anzureichern. Unter anderem", er tippt sich an die Schläfe, "hier oben."
"Das ist ja alles nichts neues", wendest du ein, weil du keinen Schimmer hast, was er von dir will, doch er hebt beschwörend die Hände.
"Wir gefährden mit all dem aber nicht den Fortbestand des Planeten, sondern vielmehr unseren eigenen. Die Toxine mindern Intelligenz, Fortpflanzungsfähigkeit und Geschick; somit das Überleben. Frag mal in Bhopal nach."
Die Getränke kommen. Du nippst versuchsweise an deinem Whiskey und setzt ein Pokerface auf. Er hastet seinen Kaffee herunter. Jetzt ist er auf Betriebstemperatur. Ein geübter Redner, wie du nicht ganz neidlos anerkennen musst.
"Wir sehen aus naheliegenden Gründen alles aus unserer Perspektive. Betrachte es mal aus der des Ökosystems."
Mit dem Salzstreuer zieht er einen Kreis auf der Tischdecke. Das Ökosystem.
"Da taucht der Mensch auf und bevölkert den Planeten." Er streut Salzkörner auf die rotweinfarbene Decke.
"Wie würdest du - aus Sicht der Systemlehre - nun reagieren?" Du weißt weder, wie du mit noch ohne Systemlehre reagieren sollst und zuckst die Achseln.
"Also: was nutzt der menschliche Intellekt dem Ökosystem? Oder stellt er eine Gefahr dar? Kann das Gleichgewicht nur bestehen, wenn man den Störfaktor beseitigt? Wenn die menschliche Intelligenz eine Bedrohung ist, könnte das System sich schützen, indem es die destruktiven Fähigkeiten unseres Denkvermögens einschränkt. Wir werden zu einem Element, das seinen Fortbestand gefährdet. Also werden wir einfach gelöscht, weil die Natur keine Verwendung mehr für uns hat. Man kann die schleichende Zunahme von Toxinen in unserem Körper auch damit erklären, dass der Planet uns vergiftet."
Wie zum Beweis wischt er die Salzkörner vom Tisch.
"Ähm, wir setzen die Gifte aus und der, Planet muss sie verdauen", entgegnest du.
"Aber das Ökosystem verwendet sie gegen uns."
"Die Erde will uns ausrotten?" Er schüttelt den Kopf.
"Nein. Sie vergiftet uns nur so viel, dass unser Intelligenzquotient abnimmt. Eine Bevölkerung, deren höchster IQ bei 70 liegt, wird keine Atomkraftwerke mehr betreiben können, mit keinen Automobilen die Atmosphäre schädigen und keine industriellen Giftstoffe freisetzen. Es ist ein Programm der Natur, dass wir, weil wir zu viele wurden, angefangen haben, alles zu zerstören. Schließlich uns selbst. Das ist seit Jahren bekannt."
Davon hast du noch nie gehört.
"Nette Theorie", beglückwünschst du ihn scheinheilig, weil du gleich auf Anhieb einen Schwachpunkt entdeckt hast, "aber der IQ ist doch gleich geblieben. In den Industrieländern hat er sich sogar messbar gesteigert."
"Nein. Wir haben keine zeitlichen Vergleichswerte. Wir können ja leider nicht einen heutigen IQ-Test mit dem von vor hundert Jahren vergleichen, weil sich alle Variablen geändert haben. Die Menschen sind gestorben, die Aufgaben komplett verändert. Und wie sollen wir jemand auftreiben, der absolut frei von Schadstoffen aufgewachsen ist? Die Ergebnisse sind unklar."
So unklar wie die Klimaerwärmung, was auch sonst. Und dafür hat er dich hierher bestellt? Um seinen Frust über unbewiesene Hypothesen abzulassen? Du beginnst deine geistige Leistung langsam zurückzufahren und dir einen guten Vorwand zu überlegen, dich zu verabschieden.
"Aber das nur als Grundlage. Worauf ich hinaus will", er sieht sich diskret um und beugt sich zu dir herüber, "ist folgendes: Wir haben bei einer Studie für die EU ein Gen entdeckt, dass für das Wachstum verantwortlich ist." Er flüstert. "Dir ist sicher aufgefallen, dass Kinder körperlich immer früher reif werden. Sie wachsen schneller heran und sind teilweise schon mit zehn geschlechtsreif. Wir haben herausgefunden, dass dieses Gen durch Gifte aktiviert wird und die Pubertät seit mehreren Jahrzehnten stetig vorverlagert."
"Was ist denn daran so bedeutend?"
Er misst dich mit einem gereizten Blick und schürzt die Lippen. "Versteh doch, die frühere Reife ist nur eine körperliche Reaktion auf eine starke Anreicherung von gefährlichen Stoffen. Der Organismus muss sich schnell fortpflanzen, bevor seine Gesundheit irreparabel geschädigt wird. Zunächst wächst er nur rascher. Sonst passiert lange Zeit scheinbar nichts. Aber der Mensch funktioniert wie ein komplexes System. Das heißt, er toleriert eine große Belastung scheinbar mühelos, etwa wie ein Biotop, in das du jahrelang Abwasser pumpen kannst, doch wenn ein gewisser Schwellenwert überschritten ist, dann kippt das Gleichgewicht um und alles stirbt ab. Wir funktionieren wie ein fehlertolerantes System, dem der Kollaps droht."
"Dann gründen also Vorschulkinder demnächst eine Familie", schmunzelst du taktlos. Doch in deinem Hinterkopf rumort es.
Dicks Miene verdüstert sich. Während er sich weiter Kaffe einflößt sagt er: "Unsinn. Wir haben lange Reihen mit Tierversuchen gemacht, Mäuse, Meerschweinchen, Affen. Ab einem gewissen Grad wurden sie nicht mehr früher geschlechtsreif, sondern kollabierten. Sie starben. Und zwar nicht nur die Schwachen. Sondern alle gleichzeitig, wie auf ein geheimes Kommando. Die Überlebensrate betrug circa ein bis fünf Prozent."
Ist gerade die Temperatur abgefallen, oder wieso stellen sich dir alle Haare auf?
"Auslöser dafür war das von uns entdeckte Gen. Bei geringen toxischen Werten verkürzt es die Generationenfolge ansteigend zum Giftgehalt: die frühe Reife. Aber ab einer höheren Belastung greift es den eigenen Körper an. Dann wirken die Substanzen und das aktivierte Gen wie ein selbstverstärkender Prozess an dessen Ende nur noch eins steht - der Tod"
Deine Schläfrigkeit ist wie weggeblasen.
"Und diese Art Selbstzerstörungsmechanismus ist bislang unaufhaltbar. Die Sequenz ist bereits im Gange und wir wissen nicht wie weit sie schon fortgeschritten ist."
"Aber ihr habt doch die Tiere..."
"Deren Reaktion lässt sich nicht so ohne weiteres auf den Menschen übertragen. Wir haben einige Kinder untersucht, aber um echte Prognosen erstellen zu können, müssten wir Menschenversuche durchführen..." Eine Sackgasse.
"Außerdem würde es nicht helfen, weil es keine völlig unbelastete Vergleichsgruppe gibt. Ein unbelasteter Organismus müsste binnen Stunden zusammenbrechen, wenn man ihn in einer unserer Städte aussetzen würde. Käme ein Mensch von vor 100 Jahren in unsere Gegenwart, er würde keinen Tag überleben."
Er atmet hörbar aus.
"Fest steht, dass die Tiere nicht früher reif werden, wenn wir sie den Giften aussetzen, sondern wenn wir ihnen das Gen einpflanzen. Unser Gen." Du bräuchtest jetzt mehr Whiskey.
"Was wir bisher befürchtet haben, war nicht das Aussterben, sondern das Dahinsiechen der Menschheit. Doch was sich da anbahnt..." Er lässt den Satz unvollendet.
"Es ist ja nicht nur so, dass fast 99 Prozent starben. Die Überlebenden waren so schwer geschädigt, dass sie entweder unfruchtbar waren, oder kaum lebensfähige Nachkommen produzierten. Denk an die Contergankinder.
Diese im Körperfett eingelagerten Gifte und die Schäden an der DNA werden an die eigenen Kinder vererbt. Die Gefahr bleibt Jahrhunderte akut. Rechne das mal hoch auf vier, fünf Generationen. Im Jahr 2100 kriechen nur noch ein paar degenerierte, geistig und körperlich behinderte Kreaturen durch das Gebüsch. Unsere Art wäre erfolgreich vom Erdantlitz ausgelöscht."
Die Stimmen im Lokal kommen dir unnatürlich laut vor. Surreal wäre ein treffendes Wort.
"Wieso", deine Stimme kommt aus einer fremden Kehle, "veröffentlichst du deine Forschungen dann nicht? Was genau willst du denn von mir?" Dick schließt die Augen. Sein Lid zittert.
"Es sollte eine offizielle Untersuchung mit vertraulichen Zusatzdokumenten für die Auftraggeber werden. Doch uns wurden mitten in der Studie die Gelder eingefroren. Grundlos. Das passiert sehr selten, aber es passiert. Das Projekt war gestorben. Dann hat man uns von höchster Stelle zum Stillschweigen verdonnert. Und daran habe ich mich gehalten. Bis heute."
"Man kann doch niemanden zwingen, eine so weitreichende Entdeckung zu verheimlichen!"
"Aus Gründen der militärischen Geheimhaltung wird viel vertuscht. Akten werden wegen der nationalen Sicherheit unter Verschluss gehalten, Leuten ein Maulkorb verpasst, Fakten verleugnet, Menschen eingeschüchtert."
"Ich dachte, du arbeitest für die UNO?"
"Woher meinst du denn, bekommt so eine finanziell hinfällige Organisation ihr Geld für Forschungen?"
"Warum erzählst du es dann mir und nicht einer großen Tageszeitung?"
"Ich habe lange versucht, an dem Projekt weiterarbeiten zu können. Bis unsere Auftragsgeber kalte Füße bekamen. Als erstes hat man mich entlassen. Ich fand nirgendwo mehr Arbeit. Schwarze Liste, verstehst du? Ich habe Kontakte zur Staatsanwaltschaft geknüpft, um die Sache publik zu machen. Doch eines Tages hieß es plötzlich, dass die Beweislage unzureichend sei und das Verfahren eingestellt werden müsse. Ich habe weder meine Akten je wiedergesehen, noch jemals mit dem Staatsanwalt sprechen können. Sie haben gemerkt, was ich vorhatte und alles gestoppt."
Seine Hände zeichnen imaginäre Muster in die Tischdecke. Schweiß trieft ihm aus den Poren.
"Meine Kollegen... ich kann niemand mehr erreichen. Entweder sie reagieren nicht auf meine Anrufe, oder sie sind verschwunden. Ich will nicht auch noch verschwinden."
Wieder der unauffällige Seitenblick.
"Ich glaube, ich werde überwacht. Alle meine Kontakte. Nur du nicht, weil wir uns gewissermaßen gar nicht kennen. Du tauchst in keiner meiner Adresslisten auf. Es besteht keine unmittelbare Verbindung zwischen uns. Ich bin darauf gekommen, als wir uns gestern zufällig begegnet sind."
Er fleht dich an: "Nimm meine Akten", damit deutet er auf eine Tasche, die unter dem Tisch liegt und dir bisher entgangen ist, "und veröffentliche sie. Aber lass dir nicht zu viel Zeit. Sie werden es bald wissen."
"Hör zu: unsere Studie ist bereits drei Jahre alt. Drei Jahre! Ich weiß nicht, wann das entscheidende Stadium eintritt. Der Puffer der Pubertät ist höchstens noch etwa drei bis vier Jahre breit. Wenn es sich so weiterentwickelt wie jetzt... es kann in zehn Jahren sein. Oder morgen."
Damit hastet er grußlos weg. Du sitzt allein am Tisch. Für dich gibt es nur eins. Raus hier, dich betrinken, und den ganzen Abend vergessen. Das ganze kann von vorne bis hinten nicht stimmen. Und wenn doch, dann willst du damit nichts zu tun haben. Aber als du aus dem Café gehen willst, ruft dich eine Stimme und als du erschrocken herumfährst, drückt dir der Ober Dicks schwarze Kunststofftasche in die Hand.
"Die haben sie vergessen!" Wieder bist du zu schwach, um zu widersprechen.

Das war gestern. Nun sitzt du hier in deiner Wohnung und ein grauer Tag zieht herauf. Die ganze Nacht hast du die Akten durchgesehen, die Dick hatte retten können. Das meiste überstieg dein Verständnis, aber vieles wurde dir deutlicher, als dir lieb war. Die tickende genetische Zeitbombe. Die nahende tödliche Dosis. Die frühreifen Kinder. Eine Menschheit, die keine Nachkommen mehr zeugen kann. Bis der letzte Methusalem in einer einsamen Welt sterben wird.
Bald musst du in die Redaktion. Es wartet zum ersten mal wichtige Arbeit auf dich. Leise bedauerst du, nicht geschlafen zu haben. Und dann stellst du dir die entscheidende Frage: Was wirst du tun, wenn keiner mehr schläft?

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