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Und spiegelte ihr Gesicht in einer Scherbe schwarzen Glases

So oft ich hab den Ruf vernommen,
der lockend mich zum Lichte zieht
- das in dem Traum zuerst verschwommen
scheu immer wieder vor mir flieht -
so oft greif ich es festzuhalten,
doch stets mir's durch die Finger rinnt,
und mit unnennbaren Gewalten
die Suche dann auf's Neu beginnt.
Gefangen mein Geist, meine Seele nicht frei.
Dem Rufe zu folgen mein Schicksal nun sei...?

So hast Du es also gefunden, dieses Stück des schwarzen Spiegels, der einst die beiden Welten trennte.
Die, in der nach der Geburt der Zeit die Dinge entstanden. Eure Welt... Und auf der anderen Seite die, in der seit jeher das Alles im Nichts verborgen liegt.
Der Spiegel - die Grenze. Eure Grenze. Nicht die unsere, denn in der Welt des Alles im Nichts haben Grenzen keinerlei Bedeutung mehr. In der Welt der Zeit und der Dinge schon. Grenzen setzen und Grenzen überwinden - ein wesentlicher Antrieb Eures Tuns.
Wohl deshalb lernten die Suchenden unter Euch, durch den Spiegel hindurchzublicken und letztendlich auch, ihn zu durchschreiten. Doch das war es nicht, was ihn zerstörte. Er zerbarst, als Eure Welt sich ausdehnte - langsam, aber unaufhaltsam wie die Zeit selbst. Er zerbarst und unsere Welten durchdrangen einander.
Geblieben von ihm sind einige - wenige - Scherben schwarzen Glases, und wer nicht nur mit den Augen sieht, erblickt darin vielleicht noch immer mehr als nur sein eigenes Spiegelbild:

Das Tor
Auf den ersten Blick könnte man das dunkle Gebilde für eine zwar gigantische, aber durchaus irdische Mauer halten. Ein riesiger, glatt-glänzender Schutzwall, der bis zum Himmel reicht. Den Himmel teilt. Unüberwindlich drohend. Und lachend meiner Winzigkeit.
Aber diese Mauer ist mehr als sie scheint. Sie trennt nicht nur das Dort vom Hier. Sie trennt das Licht von der Finsternis, Hoffnung von Resignation. Das Gestern vom Heute.
Stelle Dir alle Gegensätze vor, deren eine Seite Du hoffnungsfroh herbeiwünschst und deren andere Du so tief fürchtest, daß Du jeden Gedanken daran aus Deinem Geist zu verbannen suchst. Sie alle trennt diese Mauer. Alle, bis auf einen. Die Gegenwart von der Zukunft trennt sie nicht. Denn ich stehe auf der Seite der Dunkelheit, und Zukunft habe ich keine.
Ein einziges Tor unterbricht die Phalanx dieses Walls. Doch schon das zu beiden Seiten aufgestellte Zwillingspaar der drachenköpfigen Kriegerstatuen zeigt, daß jede in es gesetzte Hoffnung zum Sterben verurteilt ist. Ja, würde es sich öffnen, könnte eine Armee bewaffneter Reiter in breiter Marschordnung hindurchziehen, so groß ist es. Aber die riesigen, dämonenverzierten Torflügel bleiben verschlossen. Sieben Riegel liegen davor, gleichmäßig über die gesamte Höhe verteilt und jeder einzelne dick wie ein Stamm und so schwer, daß kein menschliches Wesen ihn zu heben in der Lage wäre. Es gibt keine Wehrtürme, keine Garde - niemand, außer den steinernen Drachenkriegern, der das Tor bewacht. Dazu besteht keine Notwendigkeit. Es ist uneinnehmbar wie die Mauer und sich selbst Schutz genug.

Warum ich noch immer Tag für Tag dorthin gehe, vermag ich nicht zu sagen. Die letzten Versuche, das Tor zu öffnen, habe ich vor langer Zeit aufgegeben. Ich rüttele nicht mehr an den schweren, eisenbeschlagenen Bohlen der Torflügel. Ich hämmere auch nicht mehr voll ohnmächtiger Wut dagegen, bis mich der Schmerz meiner blutenden Fingerknöchel den meiner Seele vergessen läßt.
Eigentlich wundert es mich, daß die Narben auf meinen Händen noch immer blaßrosa zu sehen sind, denn es scheint mir länger als ein Leben her zu sein, daß ich das Tor voller Stolz und Schönheit durchschritten hatte. In schwarz-silberner Rüstung, das offene Haar wehend im Wind und die Augen lodernd vor Gewißheit siegen zu können.
Welche Vermessenheit, so scheint es mir heute, da mein Blick erloschen und mein Haar von unzähligen grauen Strähnen durchzogen ist. Der gleichen Farbe wie die letzten Reste des schmutzigen Lederzeugs, das in Fetzen an mir herunter hängt und mich weniger bedeckt als die Kruste alten Staubes auf meiner Haut. Staub von außen und innen. Kein Gefühl vermag ihn zu durchdringen. Die Leere in mir füllt auch der Schatten der Traurigkeit nicht aus, an die ich mich erinnere, wenn ich mich an das Bein des steinernen Wächters lehne und meine müde Stirn gegen sein Knie presse.
Doch manchmal, ganz selten, wenn es mir gelingt, die Erinnerung an glückliche Tage heraufzubeschwören, spülen mir die Tränen den Sand aus den Augen, und ich sehe ungläubig, daß die Welt um mich herum immer noch dieselbe ist. Nur ich bin es, die sich geändert hat. Alt bin ich geworden. Alt und müde. Jedoch ein Alter, das nicht nach Jahren zählt. Und eine Müdigkeit, die nur der Tod zu stillen vermag.

Blaß siehst Du aus. Hat Dich geschreckt, was Du sahst? Ich ahne es. Als Du die schwarze Scherbe fandest, hofftest Du am Ziel Deiner Wünsche zu sein und endlich den Lohn für Dein Streben in den Händen zu halten. Welch schmerzliche Erkenntnis: Zu sehen, daß Du erst den Weg gefunden hast. Den Weg, den in seiner ganzen Länge zu gehen noch immer vor Dir liegt - und auf dem auch zu scheitern nicht ausgeschlossen ist.
Du hast gesehen, welchen Preis Du dann zahlen wirst. Das macht Dir Angst. Wirf die Scherbe weg! Versuch es! Du wirst es nicht können. Niemand - der sie einmal in den Händen hielt - kann das. Ich weiß es. Wir sind verdammt, den Weg bis zum Ende zu gehen. Die letzte Grenze zu überwinden - oder für unsere Vermessenheit zu zahlen...

Dem Rufe zu folgen Dein Schicksal nun sei...

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