© der Geschichte: Tobias Schuhmacher. Nicht unerlaubt
vervielfältigen oder anderswo veröffentlichen. Alle Rechte
dieses Werkes liegen bei dem Autor. Diesen Disclaimer bitte
nicht entfernen


Die phantastischen Abenteuer des
William Sanfold

Tage in der Dämmerung

"Ein Bier, bitte!" sprach ich zu dem Pürikaner hinter der Bar. "Aber bitte kalt, wenn's geht!"
"Natürlich, aber welche Sorte hätten Sie denn gerne?"
"Was? Welche Sorte...?"
"Na ja", begann das quadratische Wesen mit den Flossen, "wir haben an die zweitausend unterschiedliche Biersorten gelagert. Möchten Sie eines von der Erde? Oder darf ich Ihnen auch eins empfehlen, das von einer anderen Welt kommt? "Nur zu!" Ich hätte ihn wahrscheinlich sowieso nicht daran hindern können.
"Ich habe zwar noch nicht alle probiert", fuhr er fort, "aber vor drei Wochen bekamen wir ein Bier aus der frühen Peticoal-Dynastie herein. Eine absolute Rarität."
Ich stutzte. "Aber die sind doch schon längst ausgestorben."
"Ist eben schon ein bisschen reifer. Aber, mal ganz im Ernst, die Reifen sind die Besten - Gauben Sie mir."
"Dann bringen Sie mir schon eins!"
Das Quadrat hüpfte zu einem Bildschirm, tippte mit den Flossen darauf herum und schon brachte ein Roboterarm durch eine Luke ein Gefäß, das die ungefähre Größe und Form eines Reagenzglases hatte. Es wurde vor mir abgestellt und der Barkeeper kam wieder angehoppelt.
"Macht zweihundert Geldeinheiten!"
"Was?!?"
"Na ja, es ist doch quasi schon eine Rarität, und glauben Sie mir, es haut kräftig rein", verteidigte sich das Quadrat.
Ich griff nach dem Reagenzglas, machte kehrt und wollte die Spelunke gerade verlassen, da riss mir etwas die Beine weg und hob mich hoch, bis ich unter der Decke hing. Es war der Roboterarm, der aus der Luke hervorgeschnellt war, und mich nun an den Beinen hochzog.
Der Barkeeper kam fluchend angehüpft. "Nicht bezahlen wollen, wie?! Na, das hab ich gern. Da werden wir gleich mal die Schutzgarde bestellen." Sprach es, ließ mich hängen und humpelte wieder zu seinem Bildschirm, um sich mit der örtlichen Sicherheitsbehörde zu besprechen. In was für einen Mist war ich nun wieder hineingeraten? Zwei Monate lang hatte es mich willenlos durchs All getrieben. Meine Depressionen über die vergangenen Fehler schienen dadurch nur noch größer geworden zu sein, daher hatte ich dann beschlossen, mich mal wieder unter lebende Wesen zu wagen. Nun ja, mein erster Versuch sah mich in keiner besonders schönen Lage, aber mal ehrlich, es konnte eigentlich gar nicht mehr schlechter werden.
"Die von der Schutzgarde werden dich gleich abholen, und dann kommst du in den Knast, mein Freund", rief mir der quadratische Barkeeper zu, sah, dass neue Gäste gekommen waren, und begrüßte sie höflich, um sie dann zu bedienen. Irgendwie fühlte ich mich behaglich hier oben an der Decke. Es hatte etwas, das Gefühl über den Dingen zu schweben, die hier abliefen.
Während ich hier also baumelte und auf die Schutzgarde wartete, konnte ich einige Gespräche der Gäste belauschen, die mich scheinbar überhaupt nicht wahrnahmen, oder einfach nur ignorierten.
"...war ich bei einer dieser galeanischen Huren. Dieser Dinger sind ja die Härte, so etwas hast du noch nie erlebt - ein Riesenspaß!" sagte ein einheimischer Gast und führte alles in seinen prekären Einzelheiten aus. Der andere, der aussah, als stamme er vom Volk der Lim ab, hörte eifrig zu.
Vielleicht keine schlechte Idee, so etwas auch mal auszuprobieren. Das hörte sich verdammt gut an, was er da erzählte, und ein bisschen körperliche Befriedigung konnte ich auch mal wieder brauchen. Wenn ich mir das so recht überlegte, hatte ich schon seit Monaten nichts derartiges mehr gehabt.
Ein Virgo und zwei Einheimische sprachen relativ leise, da ich aber direkt über deren Tisch hing, konnte ich trotzdem noch jedes Wort verstehen.
"Weil ich nicht will, dass er das am Ende noch den Gardisten erzählt, ihr wisst, was ich meine?" Die Milasan nickten. "Was sollen wir deiner Meinung nach jetzt tun, Virgo?"
"Wir müssen die ganze Sache auf jeden Fall jetzt in Gang bringen, komme was wolle, und die ganze Brut muss unbedingt vernichtet werden, noch ehe der neue Entschluss steht. Klar?"
Die anderen beiden sahen sich an, und ihre Blicke schienen Zustimmung zu verraten.
"Aber wir müssen es kurz und schmerzlos machen, einverstanden?"
"In Ordnung!"
"Wann?" wollte der Eine wissen.
"In zwei Tagen!" Dann erhoben sich die beiden Milasan schleunigst und verließen in verschiedenen Richtungen das Lokal. Der Virgo trat zu Tresen, bestellte sich noch ein unidentifizierbares Gesöff und sprach leise mit dem Barkeeper. Sie schienen sich zu kennen. Zehn Minuten später ging auch er.
Nach einer Stunde abhängen und den Gesprächen der Gästen lauschen, hatte ich die Schnauze voll. Glücklicherweise kamen dann endlich drei Uniformierte mit dem Emblem der örtlichen Schutzgarde in das Lokal herein, woraufhin fast alle Gäste hinausstürmten, als hätten sie etwas zu verbergen. Und der Barkeeper bedeutete dem Roboterarm, mich loszulassen, woraufhin ich zu Boden stürzte und das Reagenzglas zerbrach. "Jetzt hat er es auch noch kaputtgemacht!" rief das Quadrat von der anderen Seite der Tresen den Schutzgardisten zu. "Mindestens fünftausend Geldeinheiten war es Wert. Eine echte Rarität, Herr Wachtmeister!"
"Beruhigen Sie sich erst einmal, guter Mann!" sagte der offensichtliche Anführer - er hatte am meisten auf der...na ja...Schulter - zu dem Barkeeper. "Wir regeln das schon. Dazu sind wir schließlich auch da."
"Oh, ich danke Ihnen, Herr Wachtmeister!" Das Barkeeperquadrat schien vor Freude zu hüpfen, wenn ich nicht besser wüsste, dass diese Wesen sich auf diese Weise fortbewegten.
Die drei Gardisten führten mich mit vorgehaltenen Waffen aus der Spelunke heraus. "Wir haben leider keine menschlichen Handschellen", entschuldigte sich der Chef der Truppe. "Die werden erst noch geliefert. Zwei Jahre warten wir schon darauf."

Glauben oder nicht glauben? Es gab einmal eine Zeit, da entschied die Antwort auf diese Frage, ob man sterben musste oder weiterleben durfte. Doch zumeist stellte man die Frage den Menschen, die den Glauben gerade verloren hatten, oder zumindest daran zu zweifeln begannen. Ein Zögern konnte fatale Folgen haben, genauso sehr wie eine Lüge, die als solche enttarnt wurde. Davon einmal abgesehen war es ein Muster, das den Glauben der Menschen bestimmte. In schlechten Zeiten hielt man mehr an den Lehren der Religionen fest, als in guten Zeiten. Sie boten geistige Hilfe, Besinnung, Erkenntnis oder einfach nur Trost und Wärme.
Dies war, zumindest für mich, eine schlechte Zeit, und ich begann in Gedanken, während ich in Haft auf einen Prozess wartete, den religiösen Begriffen von Schicksal und Bestimmung im Leben einige Überlegungen zu zollen. Ich suchte nach einer gewissen Erkenntnis, um meiner Lage Herr zu werden. Meine seelischen und körperlichen Glieder waren zu sehr gezeichnet von den vorangegangenen finsteren Geschehnissen, die von eigenem Versagen und Leichtglauben bestimmt gewesen waren. Ich fürchtete, mit meinem unüberlegten und übereiltem Handeln, das Universum gewissermaßen aus den Fugen gebracht zu haben. Ich hatte auf jeden Fall etwas verändert, und das nicht zum Guten.
Während ich in dieser kargen Zelle einige Stunden auf meine Verhandlung wartete, ging mir so einiges durch den Kopf, darunter Dinge, die ich schon beinahe wieder vergessen hatte. Sie stammten zumeist aus tieferen Regionen meiner Gedankenwelt, die gleichermaßen skurril wie auch schlicht zu sein schien. So vergingen die Stunden im Fluge, denn nichts war interessanter, als die eigenen Gedanken aus den Untiefen dieser Welt herauszugraben, und intensiv zu studieren. Als ich aus dieser, meiner Gedankenwelt, wieder erwachte, wurde ich nach den durch das Gericht verurteilten fünf Tagen Haft bereits wieder entlassen.
Auf der Welt der Milasan war, wie ich nach meiner Entlassung feststellen sollte, innerhalb kürzester Zeit der Winter eingekehrt. Gewaltige Schneemassen schoben sich überall bis in dichtbesiedeltsten Regionen vor. Solche Wetterveränderungen ereilten diesen Planeten sehr schnell, denn die Umwelt war durch das Leben Milasan so sehr aus dem Gleichgewicht, dass das Klima des Planeten unkontrollierbar und unvorhersagbar geworden war. Es konnte jederzeit mit Schneestürmen, Hitzewellen, monsunartigen Regenfällen oder ähnlichem gerechnet werden. Ein Bewohner dieser Welt war auf jedes Wetter eingerichtet.
Doch nicht nur das Wetter hatte sich verändert, sondern auch die Gesellschaft hatte sich innerhalb dieser wenigen Tage, in denen ich in Gefangenschaft war, auf beeindruckende Weise gewandelt, wie ich es bisher noch nirgendwo erlebt hatte.
So wie ich durch die örtlichen Kommunikationsnetze erfuhr, hatte eine noch unbekannte Gruppe von Terroristen das Regierungsgebäude gesprengt. An jenem Tag, da dies geschah, verhandelte man in jenem Gebäude über gravierende Änderungen in der Verfassung der Milasan. Es sollten Veränderungen kommen, die nicht nur einen Strukturwandel bedeuteten, sondern auch tief in die dunkle Vergangenheit eines unscheinbaren Volkes zurückgreifen würden, um die Zukunft zu sichern.
Sehr viel verstand ich davon allerdings nicht, weil ich die Milasan kaum kannte. In der Galaxie traten sie immer als wegweisendes, aber gewissenhaftes Forschervolk auf, das bei anderen Völkern sehr beliebt und angesehen war. Sie blieben meist dezent im Hintergrund und verwiesen auf Gesetze und Regelungen, klammerten sich an Werte und Vorstellungen einer funktionierenden Gesellschaft, wie sie auf ihrer Welt praktiziert wurde.
Doch hielten sie sich darin sehr zurück, Dinge über sich zu erzählen und weiterzugeben. Für sie war es selbstverständlich gewesen, dass, trotz populärer Etablissements für Weltraumreisende, die Politik stets einen gewissen Kurs der Isolation verfolgte, der alles außer Wirtschaft und Forschung zu einer internen Sache erklärte.
Daher erfuhr man nicht sehr viel über dieses Volk, und dementsprechend wenig fand sich in den Datenbanken des interplanetarischen Völkeralmanachs. Ich selbst kam nur unter der Bewältigung eines immensen Papierberges auf den Planeten, und letztendlich lag es nur daran, dass ich ein Staatenloser war. Laut einer interstellaren Vereinbarung waren sie nämlich gezwungen Staatenlosen und bestimmten Pilgern Schutz zu gewähren. Dementsprechend hart wurden Verbrechen von solchen Staatenlosen und Pilgern bestraft.
"Sie müssen den Planeten innerhalb der nächsten drei Tage verlassen, wird man Sie nach dieser Frist noch einmal aufgreifen, wird die Höchststrafe über Sie verhängt."
Ich wusste nicht, was die Höchststrafe war, aber ich befürchtete, sie würde nichts Gutes für mich bedeuten. Daher war ich fest entschlossen, den Planeten so schnell wie möglich zu verlassen.
Nun wanderte ich über den großen Platz der Hauptstadt, auf dessen anderer Seite sich das Raumfahrtsamt befand. In den Mitte des Platzes hatte einmal das Regierungsgebäude gestanden, nun waren da nur noch ein paar Trümmer übrig. Dieses Attentat hatte seine volle Wirkung entfaltet.
"Sie haben einen der Terroristen!" schrie ein Milasan über den Platz, und eine Menge versammelte sich vor einem großen Bildschirm, der Nachrichten übertrug.
Nachdem Ruf des Milasans, hatte ich mich unter die Menge geschlichen. Obwohl das zuviel gesagt wäre, weil die meisten dort versammelten mich kritisch beäugten, und angewidert einen Schritt beiseite machte, als ich kam. Sie bildeten für mich einen kleinen Weg, den ich ohne Probleme entlang schreiten konnte, bis ich die Geschehnisse auf dem Monitor einwandfrei verfolgen konnte.
"...ist dieser Virgo der Schutzgarde ins Netz gegangen. Man fand in seiner Unterkunft genügend belastende Beweise, die ihn mit diesem teuflischen Anschlag in Verbindung bringen. Langsam sollte man etwas gegen diese außerirdische Brut tun, die hierher kommt, um Gewalt auszuüben."
Ich erkannte diesen Virgo, der den Kameras vorgeführt wurde, als den, den ich in dieser Spelunke belauscht hatte, neben diesen beiden Milasan. In mir regte sich etwas, das meine Neugier weckte. Ich spürte, dass ich ein außerordentliches Gespräch belauscht haben musste, und ich wusste, dass ich dies der Schutzgarde zu melden verpflichtet war.
Moment...
War ich das wirklich?
Schließlich hatten sie mich gerade des Planeten verwiesen.
Die Menge jubelte, raunte und war zornig zugleich, das spürte ich, genauso wie die Blicke, die auf mir lasteten. Diese Blicke waren voller Hass mir gegenüber. Mir wurde es langsam zu ungemütlich und zog mich mehr oder weniger dezent zurück.
Noch bevor ich das Raumfahrtsamt erreichen konnte, überwältigten mich zwei Milasan von hinten, schlugen mich nieder, und schleppten mich irgendwohin. Ich bekam die ganze Aktion nur halb mit, da ich halb bewusstlos, immer wieder hellere Momente und dann wieder Momente der Bewusstlosigkeit hatte. Als ich wieder einigermaßen bei Sinnen war, wurde mir klar, wer mich entführt hatte.
"Wir wussten, dass Sie unser Gespräch belauscht hatten", sagte der eine Milasan. "Ich bin Retrox, und das ist Pilan." Er wies auf den Anderen, der sich noch in dem Raum befand. "Sie befinden sich hier in unserer Wohnung. Keine Angst, wir werden Ihnen nichts tun." Er hatte wohl meinen halbverängstigten Gesichtsausdruck zu deuten gewusst, und der war nun der Neugier gewichen.
"Sie waren der einzige", begann Pilan, "der uns identifizieren konnte, und nachdem der Virgo Fehler gemacht und sich verraten hatte, mussten wir auf Nummer sicher gehen."
"Er wird uns nun nicht mehr verraten können!" fügte Retrox hinzu.
Ich sah kurz durch das einzige Fenster hinaus, und erkannte die atemberaubende Skyline der Hauptstadt. Ich musste mich in einem der Randbezirke befinden.
Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. "Was...?"
Doch Retrox unterbrach mich: "William Sanfold, nicht wahr?" Er warf meine Brieftasche auf das Bett, auf dem ich lag. "Wir möchten, dass Sie uns helfen. Wir möchten, dass Sie dem Universum da draußen erklären, was hier abläuft. Bevor wir zuschlugen, war unsere Welt dabei, eine große Dummheit zu tun, die schon einmal geschehen ist. Wir wollten nicht, dass es sich so einfach wiederholt. Aber wenn niemand von außerhalb einschreitet, wird es früher oder später trotzdem wieder passieren."
"Und da kommen Sie auf den Plan", ergänzte ihn der andere. "Sie müssen uns helfen, diese Schande zu veröffentlichen. Sie muss hinausgelangen. Außerhalb unserer Welt müssen Sie das in der ganzen Galaxie verbreiten. Auf das uns jemand helfen möge."
"Um alles zu begreifen, müssen Sie erfahren, was hier geschehen ist. Damals, es ist keine hundert Jahre her. Offiziell existieren aus dieser Periode keinerlei Aufzeichnungen über das, was geschehen ist. Doch inoffiziell gibt es einige Aufnahmen, und wir haben eine davon. Die möchten wir Ihnen zeigen", fügte Retrox hinzu und schickte Pilan zu der einzigen Tür hinaus.
"Aber nun erzählen Sie doch, worum es geht und warum Sie mich entführten, ansonsten werde ich mir hier nichts anschauen!" meldete ich mich zu Wort.
"Wir könnten Ihnen das gar nicht richtig erzählen. Sie müssen es sich anschauen! Verstehen Sie doch, Sie sind unsere einzige wirkliche Chance. Bitte helfen Sie uns!"
Ich begriff das alles nicht richtig, der Schädel brummte mir immer noch viel zu sehr, aber letztendlich willigte ich ein, denn ich war gefesselt, und sie hatten Waffen, wodurch sie in der besseren Verhandlungsposition waren.
"Pilan wird gleich einen der modernen Bildprojektoren bringen. Diesen müssen sie aufziehen, dann werden Sie einen kleinen Stich spüren, der bedeutet, dass sich der Projektor in Ihr Gehirn eingeschaltet hat. Ich kenne mich damit nicht so gut aus, bin schließlich kein Wissenschaftler. Für Sie werden die Dinge, die aufgezeichnet wurden jedenfalls so aussehen, als würden Sie direkt vor Ihren Augen geschehen. Sie werden denken, sie seien direkt vor Ort, doch eingreifen können Sie nicht." Er machte eine kurze Pause. "Sie werden keine Schmerzen spüren, und es beinhaltet auch keine Neben- und Nachwirkungen, ich habe es selbst getestet, und Sie glauben gar nicht, wie ähnlich sich unser beiden Physiologien sind. Aber um sicher zu gehen haben wir es noch einmal testen lassen, und alle Ergebnisse waren zufriedenstellend."
"Und wenn ich ablehnen würde?!"
"Dann müssen wir Sie leider dazu zwingen, Sie verstehen?" Ich nickte. "Sie müssen verstehen, dass wir Ihnen nichts tun wollen, wir wollen eigentlich niemanden etwas tun. Im Grunde genommen sind Pilan und ich friedliche Milasan." In dem Moment kam der auch schon wieder herein und hielt einen Apparat zwischen seinen Flossen, der einem Helm sehr ähnelte - nur mit einigen High-Tech-Verbesserungen.
"So friedlich, dass Sie das Regierungsgebäude samt Regierung in die Luft sprengen?"
Retrox schüttelte nur den Kopf. "Sie werden bald alles viel besser verstehen, glauben Sie mir!" Er nahm Pilan den Apparat ab, setzte ihn mir auf den Kopf, und schien ihn per Knopfdruck zu aktivieren. Bald darauf stach mich tatsächlich etwas, und ich fühlte mich ein bisschen schwummrig. Dann aber kristallisierte sich aus der Dunkelheit langsam ein scharfes Bild heraus. "Tut mir leid, dass Sie das mit ansehen müssen", waren die letzten Worte, die ich von Retrox noch wahrnahm.
Ich hatte Angst.

Das Bild einer riesigen Menge erschien. Tausende, Hunderttausende, Millionen von Milasan wurden angetrieben von bewaffneten Truppen in den Uniformen des II. Infanteriekorps der Milasanarmee. Es war Nacht und der Regen prasselte bedrohlich auf die Erde hinab. Viele Lichter erhellten die Szenerie auf eine beindruckende Weise. Nun kam ein Mann mittleren Alters ins Bild und wies auf die Menge unter ihm. Er stand wohl auf einer Art Anhöhe, wo er den Strom ziemlich gut überblicken konnte. Sogar das große Industriegelände konnte man von hier aus sehen - dort, wo die Menge letztendlich eingepfercht wurde.
"Beginn der ersten Aufzeichnung", sagte der Mann. "Ich bin Professor Kybalek vom Institut für Soziologie, ich bin Zeuge eines schrecklichen Vorfalles, der hier geschieht. Nie hatte ich etwas derartiges für möglich gehalten. Ich werde alles, soweit es mir möglich ist, aufzeichnen, um es für die Nachwelt zu erhalten. Dabei werde ich wahrscheinlich der einzige sein, dem dies gelingen wird. Denn die Politiker haben die Medien kaltgestellt, und ein Schweigegebot über die Bevölkerung verhängt. Verschärfte Kontrollen in den Städten sind jetzt normal. Die gesamte Armee ist in diesen Nächten im Einsatz. Alles kam so schnell...." Er machte eine Pause, fuhr sich über das Gesicht und er schien zu weinen. Oder war es nur der Regen?
"Ich fürchte mich davor, von diesen Vorgängen hier zu berichten. Sollte es jemals einer anderen Intelligenz in die Hände fallen, wird der Blick auf unsere ansonsten so wunderbare Gesellschaft bittere Formen annehmen. Gleichzeitig muss ich um mein Leben fürchten, denn sollte mich irgendjemand dabei entdecken, wie ich diese Aufzeichnungen mache, werde ich sterben müssen, wie alle anderen hier auch." Er wies erneut auf die Menge. "Und dabei wissen diese Unschuldigen dort nicht einmal, was auf sie zukommt.
Ich aber weiß, was geschehen wird, wenn man diese Aufzeichnungen entdeckt. Ich bin ein toter Mann. Doch den Zeitpunkt zu bestimmen habe ich noch die Chance. Und mir muss es ganz einfach gelingen, diese Aufnahmen zu machen." Er verschwand aus dem Bild, und die nächsten Minuten raschelte und schepperte es leise hinter der Kamera. Dann trat Kybalek erneut vor, und präsentierte sich in einer Uniform des Infanteriekorps. Das Gewehr hatte er geschultert. "Ich habe einen Soldaten überwältigen und leider auch töten müssen, um in den Besitz der Uniform zu kommen. Für seine Familie tut es mir sehr leid. Ich wollte nie jemandem etwas zu leide tun, aber die Umstände erfordern es nun mal. Des weiteren habe ich an der Uniform eine kleine, kaum sichtbare Kamera in Tarnfarbe angebracht." Er wies auf eine Stelle oberhalb des Herzens, wo man die Formen der Kamera nur schwer erkennen konnte. "Ich werde jetzt auf diese umschalten, und das große Gerät, durch das Sie mich jetzt sehen, vernichten. Danach werde ich dort runter marschieren und sehen was vor sich geht. Erzählen werde ich nicht mehr viel, aber Sie werden alles selbst sehen, hoffe ich, und sie werden dann begreifen." Er ging wieder aus dem Sichtfeld, und das Bild verschwand.
Einige Sekunden lang war es schwarz, dann tauchte erneut ein Bild auf. Es näherte sich der Menge, offenbar war Kybalek von der Anhöhe heruntergestiegen, und hatte sich unter die Soldaten gemischt. Ab und an tauchte das Gewehr im Bild auf, doch sonst sah man nur Milasan oder Soldaten, die diese vor sich herstießen.
Es regnete noch immer, und er schien mehr und mehr an Heftigkeit zu gewinnen, dementsprechend verwandelte sich der erdreiche Boden in ein einziges Meer aus Schlamm, in dem die Milasan nur schwer voran kamen.
Rufe von Soldaten erschallten, Gewehrschüsse waren zu hören, und auch der Professor rief ab und zu ein paar Phrasen. "Bewegt euch, ihr faules Pack!", "Zum Wohle des Reiches, zum Wohle des Kaisers seit ihr auserwählt, also wandert schneller des Weges!" oder "Schneller, Horde, schneller!" waren nur einige der harmloseren Sprüche, die die Soldaten den gequälten Zivilisten entgegenwarfen, und deren sich auch Kybalek bemächtigte.
"Wir nähern uns langsam, aber sich dem Fabrikpark der Hauptstadt, der für diese Nacht von der Armee requiriert wurde." Trotzdem liefen alle Fabriken auf Hochtouren und man hatte das Gefühl, weil es aus allen Schloten heftig qualmte und die Luft diesen süßlichen Industriegestank aufwies, dass darin hart gearbeitet wurde.
Männer, Frauen, Greise, Kinder, alle wurden sie erbarmungslos vorangetrieben, und wer sich nicht bewegte, bekam ein paar Schläge mit dem Gewehr zugesetzt. Zumeist blieben diese Opfer leblos zurück, während die Masse weiterhin auf das Fabrikgelände zuhielt.
Dann sah man eine Mutter und ihr Kleinkind auf dem Boden liegen, das Kind, das in den Armen der Mutter lag, schien noch zu leben, doch der Schädel der Mutter war von einem Gewehrkolben zertrümmert, und sie blutete ihr Kind voll, weshalb es zu ersticken drohte.
"Nein!" hörte man den Professor verzweifelt sagen. Dann hielt er auf das Kind und den leblosen Körper der Mutter zu, und versuchte es zu befreien.
"Was tust du da, Kamerad?" fragte eine Stimme aus dem Hintergrund, und der Professor wandte sich um. Eine Flecktarnuniform hielt auf ihn zu. "Töte das Kind doch einfach, es wird doch sowieso sterben, wenn es in die Fabrik kommt."
"Nein, das kann man doch nicht tun. Es trifft doch keine Schuld an der ganzen Misere."
"Doch", antwortete der Soldat, während sich ein höherer Dienstgrad näherte, "es ist genauso Schuld an den Problemen, wie du und ich schuldig sind. Doch gehört es nun mal zum überschüssigen Teil unseres Volkes, und den können wir nicht mehr tragen."
"Aber...!"
"Nichts aber!" sprach der Vorgesetzte, der dazugekommen war. "Töten Sie es, Soldat!"
"Nein, das kann ich nicht."
"Sie widersetzen sich den Befehlen eines Vorgesetzten?! Töten Sie es!" schrie er.
"Nein!" wiederholte Kybalek.
Mit einem Blick zu dem anderen Kameraden, zückte dieser die Waffe und drückte ab. Der Körper des kleinen Kindes zerbarst unter dem Feuer des Gewehres, und der Professor zuckte zurück und fiel in den Schlamm.
"Solche Schwächen tolerieren wir in unserem Heer nicht", sprach der Vorgesetzte. "Sie sind vom Dienst entbunden! Auf Sie kann verzichtet werden." Er nickte dem anderen zu, der die Waffe zuerst auf ihn, und dann auf den vorbeiziehenden Milasanschwall richtete. Daraufhin ließ Kybalek das Gewehr auf den Boden fallen, und bewegte sich inmitten dem vorbeiziehenden Masse von verzweifelten und verängstigenden Gesichtern, vor Schmerz stöhnenden und schreienden Menschen, und von Hoffnungslosigkeit berührten Wesen, die den Schmerz eines Verrates nur mühevoll und mit einem Funken übriggebliebener Würde ertragen.
"Lauft weiter, ihr Pack!" schrie der Soldat und grinste dabei hämisch.
Und der Vorgesetzte fügte hinzu: "Durch euer Opfer, wird uns das Leben ermöglicht. Unser Dank ist euch gewiss!" Und sie lachten hämisch, und schossen in die Menge hinein, wobei einige der Milasan tot und verwundet zu Boden fielen.
"Verdammt!" fluchte der Professor. "Jetzt habe ich durch mein Mitleid das ganze Unternehmen zerstört - verdammt! Und meinen Tod habe ich auch besiegelt...."
Der Weg zum Fabrikgelände war lang und beschwerlich, auch wenn es seit einigen Stunden schon wie ein Fels in einer Brandung aus Milasan aufragte, und in der Düsternis der Nacht und im Regen wie ein Schloss urbanen Schreckens wirkte. "Es ist eher das Wissen darüber, dass etwas Grauenhaftes geschehen wird, von dem man nicht weiß, was es ist, als das Grauenhafte an sich. Der Tod ist gewiss, aber wie? Doch inzwischen beschleicht mich schon eine dunkle Vorahnung, die dem Begriff Massen- und Völkermord eine neue Dimension verleihen wird", flüsterte der Professor, während sie das Portal zum Industriepark passierten, und von duzenden kleiner Scheinwerfer erfasst, sowie von Hundertschaften Soldaten ins Visier genommen wurden.
"...und die Luft riecht immer süßlicher - eigenartig", fügte er hinzu.
Gespenstische Stille legte sich über die Menge beim Betreten des hochmodernen Industrieparks, der die technischen Wurzeln einer großen Zivilisation darstellte.
Inzwischen kam man wesentlich schneller voran, denn seit geraumer Zeit war man über feste Straßen gegangen, die dem schlammigen Erdreich gewichen waren.
Am Horizont waren die ersten Ausläufer der Morgendämmerung sichtbar, was den Regen aber nicht abschreckte, sondern im Gegenteil immer munter weiterregnen ließ.
Der Professor sah kurz nach hinten, und man konnte, weil das Fabrikgelände etwas höher lag, weit nach hinten schauen, und all die abertausend Milasan erkennen, die hinter ihnen den Weg hinaufgeführt wurden. Es gab ein gewaltiges Bild ab. Beinahe wie eine Völkerwanderung.
Immer wieder fielen Schüsse, und hallten bedrohlich wie warnende Drohungen wieder. Die Soldaten wiesen sie in Richtung einer der großen Anlagen, die von dem Rauch der Schlote, die unaufhörlich weiterqualmten, wolkenartig eingehüllt wurden, und dadurch einer gewissen Friedfertigkeit nicht entbehren konnten.
Einer der Soldaten versetzte ihm mit dem Gewehrkolben einen Schlag in den Magen, und Kybalek kippte zu Boden. Warum der Soldat dies getan hatte, war zuerst nicht zu sehen, doch dann hörte man die Menge aufgeregt rufen, und sie verlagerten sich in Richtung der Hauptstreitmacht. Wieder fielen Schüsse, doch nun in einem unerbittlichen Trommelfeuer - MG-Nester. Die Maschinengewehre zerrissen Leiber, deren Teile durch die Luft wirbelten, und die Opfer ohne Erbarmen sofort töteten.
Erst jetzt konnte man erkennen, dass einige der Gefangenen an Gewehre gelangt waren, wie auch immer das geschehen war. Sie hatten jedenfalls das Feuer auf Soldaten eröffnet, und so kam es zu diesem Blutbad, das jetzt stattfand. Die Milasan wurden zerfetzt, torkelten, fielen und starben grausame Tode. Ein breites Rinnsaal aus Blut bildete sich unter den toten Körpern, und schien sich an einigen Ecken und Kanten zu sammeln, um sich zu großen Pfützen aus Tod zu sammeln.
Inzwischen hatten die Soldaten einen Teil der Aufständler eingekreist, und begannen systematische alle zu töten. Der Professor hatte noch einmal Glück gehabt, und wurde nur weiter in die große Fabrikhalle vor ihnen getrieben. Er lachte verbittert. "Die Dunkelheit ist über uns hineingebrochen", rief er aus, und begann, bitterlich zu weinen. Kybalek hatte offensichtlich den Kopf verdreht, und sah etwas, dass der Kamera verborgen blieb.
"Man möge uns verzeihen. Aus Verzweiflung sollte einmal Mut erwachsen, doch es wurde zur Ausweglosigkeit, und die Ausweglosigkeit billigte jegliche Maßnahmen, ohne dass irgendjemand etwas dagegen tat", schluchzte er weiter.
"Die Dunkelheit...!" Schreie, angstvolle, verzweifelte, letzte, hoffnungslose Todesschreie waren im Hintergrund zu hören. Man hörte Flammen auflodern.
Immer näher kamen die Herde, die gewaltigen Öfen des Grauens. Immer näher kam der Tod.
"Jetzt bist du dran!" rief ein Soldat, und stieß den Professor voran, voran in sein Ende.
"Nein! Bitte nicht! Nein! Bitte!" Doch dann kam der Tod.
Die Kamera war zu Boden geschleudert worden. Vermutlich das letzte, was dem Professor vor seinem Tod noch gelungen war. Vom Boden aus konnte man die Öfen deutlich sehen. Die mächtigen Öfen, in die Soldaten die Milasan warfen, dann nahmen zwei den Professor, schleuderten ihn hinein, und sahen zu, wie er jämmerlich schreiend bei lebendigem Leibe zu Asche verbrannte.
Irgendwann, es waren viele hundert Opfer später, hob jemand die Kamera vom Boden auf, und sah in die Linse. Ein junger Soldat sah mit ausdruckslos blasser Mine, und tiefen Furchen im Gesicht, die nur erahnen ließen, was er in seinen jungen Jahren bereits durchmachen musste, in die Linse. Sekunden, Minuten ausdruckslosen Starrens vergingen. Dann sagte er: "...nicht meine Schuld. Es...es war nicht meine Schuld, ich habe doch nur...!" Tränen rannen die Wangen hinab, schienen die Furchen seines Antlitzes noch tiefer zu graben, und ließen ihn lebendig werden.
Dann endete die Übertragung.

Zunächst wurde es wieder tiefschwarz, dann erklangen die vertrauten Stimmen wieder, und die Helligkeit der Morgenstunden, flutete meine Augen mit schmerzlicher Aggressivität.
Ich stöhnte vor Schmerzen auf. "Meine Augen! Verdammt ich bin blind!" Ich konnte tatsächlich nichts mehr sehen. "Nein, das ist nur vorrübergehend. Glauben Sie mir, das wird gleich wieder besser." Ich erkannte die beruhigende Stimme Retrox'.
Noch während meiner Blindheit begann ich zu realisieren, was ich gerade erlebt hatte.
"Was ist da geschehen? Warum...?" Fassungsloses Begreifen mischten sich mit Ekel und Grauen. Mein Körper begann das ganze abzustoßen, und mir wurde übel. Ich legte mich wieder hin, und atmete tief durch.
Retrox begann zu erzählen: "Ein gigantischer Genozid, der von einem System eingeläutet und ausgeführt wurde, dem das Leben nicht heilig war. Allein das Überleben der Ordnung - deren Ordnung - und des Reichtums der gehobenen Klassen, der durch die immense Überbevölkerung und Unzufriedenheit ausgelöst, ins Wanken geriet, war für die damalige Regierung wichtig. Zu der Zeit herrschte noch der Kaiser, der aber im Begriff war all seine Macht zu verlieren. Er hätte so etwas auch nie zugelassen.
Stattdessen beschloss der Regierungsrat in einer Nacht- und Nebelaktion, die sich über fünf Tage hinzog unter Aufwand aller militärischer Kräfte, einen gewaltigen Holocaust, der das Problem des Bevölkerungswachstums Herr werden sollte. Man wollte Millionen, Abermillionen, ja sogar Milliarden von Milasan schnell und schmerzfrei töten, um der Überbevölkerung einen Riegel vor zu schieben. Das müssen Sie sich mal vorstellen!" Er schrie beinahe entsetzt auf, beruhigte sich dann aber wieder, und versuchte, alles weiterhin sachlich zu berichten: "Wie gesagt beschloss der Regierungsrat ohne Zustimmung des Kaisers diese Aktion und beendete damit die Herrschaft des großen, alten Mannes, der Angesichts der Gräuel, die geschehen waren, nur wenig später im Selbstmord verendete.
Der Regierungsrat hatte veranlasst, eine Milliarde Milasan aus ausgewählten Regionen mit sofortiger Wirkung unter Anwendung aller Streitkräfte ermorden zu lassen. In den folgenden Tagen geschahen dann diese Dinge, wie du sie gesehen hast, überall auf dem ganzen Planeten unter vollkommener Abschottung in Industriestandorten. Aufzeichnungen waren offiziell keine vorhanden, doch nach einigen Monaten tauchten hin und wieder Aufnahmen auf, die alles bezeugten, was dort geschehen war, und worüber die restliche Bevölkerung schwieg, obwohl jeder davon wusste.
Viele der Aufzeichnungen wurden bei planetaren Razzien beschlagnahmt, doch über die Jahrzehnte konnten einige gerettet und erhalten werden. Eine von diesen wenigen, ist die, die Sie gesehen haben. Wo die anderen sind, wissen wir nicht, doch wer immer sie hat, ist wohl zu feige gewesen, um damit an die Öffentlichkeit zu gehen."
Er machte eine kurze Pause. Ich schüttelte den Kopf, und glaubte so die Blindheit abschütteln zu können, die mich noch immer umgab. Und tatsächlich, als käme es vom Kopfschütteln, lösten sich auf einmal schemenhafte Figuren und Formen aus der Dunkelheit heraus, und das Licht erklomm die finstersten Gegenden meiner geschundenen Sehkraft. Ich dankte in Gedanken dem Herrgott, dass ich wieder sehen konnte, gewiss noch nicht vollständig, aber es war immerhin ein Anfang. Und es wurde von Minute zu Minute besser.
"Wissen Sie", begann Retrox von Neuem, "es gelingt nicht sehr oft, ganze geschichtliche Ereignisse zu manipulieren, geschweige denn vollkommen auszulöschen, doch in diesem Falle hatte das Militär recht gute Arbeit geleistet.
Doch wären sie perfekt gewesen, gäbe es jetzt dieses Gespräch nicht. Ich hoffe Sie verstehen die Zusammenhänge nun einigermaßen, und wir hoffen, dass Sie auch verstehen, wie wichtig Sie in dieser Zeit für uns sind. Eine Zeit, in der sich die Dinge beinahe wiederholt hätten, denn bevor wird den Regierungsrat in die Luft gesprengt hatten, waren sie bereits wieder dabei, einen weiteren Endlösungsplan für das neu auftretende Überbevölkerungsproblem zu entwerfen. Aber das Problem ist jetzt nur aufgeschoben, bis die neue Regierung zusammentritt, dann steht es wieder ganz oben auf der Liste der zu behandelnden Probleme.
Doch hoffen wir bis dahin darauf, dass durch die Veröffentlichung, die Sie für uns vornehmen werden - wir haben bei dieser totalen Überwachung keinerlei Chancen, etwas hinauszusenden, was nicht sofort abgefangen wird -, andere Welten darauf aufmerksam und möglichst bald einschreiten werden. Wir sind Ihnen jetzt schon zu größtem Dank verpflichtet!"
Er beendete seine Ausführungen und redete kurz mit Pilan in einem milasanischem Dialekt, den ich nicht verstand. Ich erhob mich, und schritt zum Fenster, um einmal tief Luft zu holen, die meine Lunge durchströmte und daraufhin ein heftiges Husten hervorrief. Ich vergaß, dass die Luft hier nicht unbedingt sehr menschenfreundlich war.
Meine Augenlicht war inzwischen fast vollständig wieder hergestellt, und ich empfand es als wunderschön, wieder Farben und Formen erkennen zu können. Selbst nach so kurzer Zeit war mir in Umrissen klar geworden, was es hieße, blind zu sein.
"Wie soll ich mit den Aufzeichnungen an den Sicherheitsbehörden vorbeikommen? Als Außerirdischer werde ich doch dreimal so intensiv beäugt."
"Vertrauen Sie uns", erklärte Retrox, "wir haben einige Freunde in recht einflussreichen Positionen sitzen, die unsere Sache unterstützen, und Ihnen eine problemlose Ausreise ermöglichen werden. Bei dem momentanen Chaos durch die Zerstörung des Rates, wäre es sowieso nicht weiter verwunderlich, wenn Ihre Abreise nicht einmal auffiele."
"Das sagten Sie wohl auch zu Ihrem Virgo-Freund, nicht wahr? Der war doch auch nur eines Ihrer Werkzeuge!"
"Sie haben recht. Die Sache mit dem Virgo-Söldner war bedauerlich und lief nicht so wie geplant, aber er konnte die Schutzgarde von ihrer eigentlichen Spur zu unserer Untergrundbewegung prima ablenken, und so war er auch in Gefangenschaft noch zu etwas zu gebrauchen."
"Gibt es für mich auch bereits Pläne, falls doch etwas schief gehen und ich in Gefangenschaft geraten sollte?" Schweigen.
Das genügte mir als Antwort.
Eine Zeitlang sah ich einfach nur durch das Fenster hinaus auf die prachtvolle Kulisse der Großstadt, die vielen hundert gewaltigen Hochbauten, sowie Tausende von Gleitern, die sich permanent in der Luft befanden, vermittelten den Eindruck einer sehr beschäftigten Metropole. Auch der Industriepark war von hier aus gut erkennbar, und ich malte mir aus, wie es vor einhundert Jahren dort ausgesehen hatte, und wo die Opfer entlanggeführt wurden. Dann erschauderte ich, und mein Körper begann zu zittern.
Ich wandte mich wieder Retrox zu: "Na gut, ich helfe Ihnen, diese Aufzeichnungen zu veröffentlichen. Diesen grauenhaften Genozid kann ich nicht einfach ignorieren."
"Vielen Dank, unser Volk wird ewig in Ihrer Schuld stehen. Ach, und es tut uns leid, dass wir Sie so grob behandeln mussten, es ging leider nicht anders."
"Schon gut, aber nun weisen sie mich schnell ein. Was muss ich tun, um hier wegzukommen? Und glauben Sie mir, ich möchte schnellstens von hier weg."

Wenn diese Wesen wüsste, was ich vor nicht allzu langer Zeit meinem eigenen Volk angetan hatte - mit der Wiedererweckung seines Erzfeindes. Und als ob ich damit fertig zu werden nicht schon genug Probleme hätte, musste ich jetzt auch noch einem fremden Volk helfen, mit ihren eigenen Problemen fertig zu werden.
Hoffentlich funktionierte der Plan von Retrox und Pilan, denn während meines Marsches zum Raumfahrtsamt, wo ich einen Freund der beiden treffen sollte, um meine Ausreise zu planen, warfen mir die Milasan auf der Straße misstrauische Blicke zu, und ich hatte das dumpfe Gefühl, dass sie mich am liebsten sofort abstechen würden.
Ein gutes Gefühl klomm in mir empor, das dadurch bestärkt wurde, dass ich in meiner Manteltasche die Aufzeichnung verpackt hatte. Prüfend tastete ich immer wieder danach, um nicht am Ende noch diese entscheidenden Informationen zu verlieren, und die Milasan ihrem Schicksal überlassen zu müssen.
Endlich erreichte ich das Raumfahrtsamt, und ein junger Milasan fing mich bereits kurz nach Eintreten ab.
"Ich bin Lutter, ein Freund von Retrox. Ich werde Ihnen helfen, unbemerkt vom Planeten wegzukommen", flüsterte er.
"Allerdings haben wir seit heute morgen ein kleines Problem, denn die Ausreisekontrollen sind verschärft worden, und selbst ich könnte jetzt nicht mehr ohne weiteres ausreisen. Daher müssen wir anders vorgehen, als es geplant war."
"Na toll!" Entgeistert machte ich meinem Ärger Luft. "Ich wusste ja, dass etwas schief gehen musste. Mist!"
"Na, nun geben Sie mal nicht so schnell auf. Folgen Sie mir!" Wir wanderten durch die große Eingangshalle mit unzähligen Schaltern unzähliger Raumfahrtsunternehmen, die fast alle für den Frachtverkehr zuständig waren.
In einer Ecke der Eingangshalle schien eine eigenartige etwa ein Meter hohe vielleicht sechs bis sieben Meter breite Kreatur ihre Augen, oder etwas ähnliches, auf uns gerichtet zu haben. Er/Sie/Es sah ziemlich abstoßend aus, und nach ein paar Metern war klar, dass wir darauf zuhielten.
"Das ist Gregor!" Lutter wies auf die Kreatur, die daraufhin zu zittern begann. "Er ist Frachterkapitän, und wird Sie mitnehmen."
"Freut mich, Sie kennen zulernen, Sanfold", grollte Gregor.
Ich sah Lutter entsetzt an. "Das...das...was geschieht mit meinem Schiff?!"
"Das ist schon verladen. Es wird mit zu der Fracht von Gregor zählen. Glauben Sie mir, er ist der beste Frachterkapitän, den Sie hier auf Milasan bekommen können. Er beliefert uns schon seit Jahrzehnten immer zuverlässig ohne je Ärger gemacht zu haben, und hat bei den Behörden einen ganz besonderen Status. Er gilt, man könnte beinahe sagen, als vogelfrei, und wird so gut wie nie kontrolliert. Und sollte wider erwarten doch jemand kontrollieren, haben wir alles so vorbereitet, dass Sie nicht entdeckt werden."
Ich schluckte, und fand mich dann gedanklich mit meinem Schicksal ab, das nun in den Händen dieser Kreatur lag. "Na gut, wann geht es los?"

Nur eine halbe Stunde später schon, hatte Gregor seinen Platz auf der Brücke seines Frachters eingenommen. Seine Crew wirbelte hektisch hin und her, um die letzten Startvorbereitungen zu treffen, während Gregor in seiner badewannenartigen Konstruktion nur Befehle erteilte und alles überwachte.
Später, kurz vor dem Start, brachte man mich in ein geheimes Kämmerchen im Frachtraum, während die Bodenzentrale letzte Anweisungen gab.
Ich konnte durch die allgemeinen Bordkommunikation, die permanent eingeschaltet war, jedes Wort mithören.
"Wir kommen jetzt an Bord!" und ein darauffolgend heftiges Rumpeln, waren die Worte, die mir das Adrenalin in die Blutbahn pumpten und mein Herz schneller schlagen lies. Hoffentlich gelang der ganze Coup. Ich tastete noch einmal nach dem Aufzeichnungsgerät im Mantel. Es war alles noch an seinem Platz.
Ich lauschte weiter nach den Sicherheitsleuten, die inzwischen die Frachträume durchsuchten, und nun auch in meine unmittelbare Nähe kamen. Da hörte ich einen der Wachleute, wie er seine Kameraden herbeirief: "Hier, ich habe etwas gefunden!" Und schon tasteten sie die Tür zu meiner Kammer ab.
Dann aber hörte ich Schüsse, und sie kamen nicht von den Wachleuten. Im Gegenteil, diese brachen stöhnend und schreiend zusammen.
Man öffnete die Tür. "Ist alles in Ordnung?" fragte einer von Gregors Leuten.
"Ja!" antwortete ich wahrheitsgemäß. "Das war aber sehr knapp!"
Unter heftigem Beschuss - das Schiff erzitterte einige Male ziemlich böse, und alles wurde ganz schön durchgeschüttelt - durch das Orbitalgeschütz des Planeten, entkamen wir gerade so den Milasan und so der Gefangenschaft.
Zwar wurden wir noch durch einige Kampfschiffe verfolgt, doch war die Technik der Milasan nicht gerade die schnellste, und Gregors Schiff hingegen war sehr schnell, wodurch sie keine Chance hatte, uns einzuholen. Der Planet wich dem gewohnten Bild der Sterne vor der Dunkelheit.
Die Flucht war gelungen, und die Aufzeichnungen waren gesichert.
"Gregor!" rief ich, während ich die Brücke betrat. "Sie wissen hoffentlich, warum ich so wichtig bin?"
Die Kreatur zitterte wieder. "Lutter erzählte mir so das ein oder andere, aber im Grunde nichts genaues. Er sagte nur, dass Sie etwas sehr Wichtiges bei sich hätten. Etwas, das dem Planeten helfen könne, sich zu verändern. Aber es wäre schon schön, wenn Sie mir näher erklären könnten, warum ich gerade die Beziehungen zu einem meiner besten Handelspartner quasi vernichtet habe. Ich hoffe ich habe mich in meinem Freund Lutter nicht geirrt."
"Das haben Sie in der Tat nicht", ich kramte die Aufzeichnungen hervor, und näherte mich der Badewanne, damit Gregor Sie besser sehen konnte. "Darf ich Ihre Kommunikation nutzen?"
"Nur zu!"
Ich drückte die Aufzeichnungen dem zuständigen Crewmitglied in die Hand, und hoffte nun, dass alles so funktionieren würde, wie es geplant war.
"Öffnen Sie alle Frequenzen. Wir müssen möglichst jeden in dieser Galaxie erreichen!"
Das Crewmitglied schob die Aufzeichnungen in ein Abspielgerät ein, und öffnete alle Frequenzen.
"Halt!" sagte ich. "Noch nicht abspielen, ich werde dazu erst ein paar Worte sagen, die Sie vor diese Aufzeichnungen spielen müssen!"
"Dann beginnen Sie schon, Sanfold. Fangen Sie endlich an, und spannen Sie uns nicht länger auf die Folter!" befahl Gregor. Das Crewmitglied nickte nur, und ich sprach freiheraus: "An all die friedliebenden und intelligenten Völker unserer Galaxie. Mein Name ist William Sanfold, und ich habe kurz ein paar Worte zu einer Erfahrung zu sagen, die ich bei dem Volk der Milasan machte. Die folgenden Aufzeichnungen werden, so denke ich, alles erklären, und Ihnen dabei helfen, eine Entscheidung zu treffen, die für die Zukunft der Milasan wichtig ist. Die Milasan, genauer gesagt, eine Revolutionsbewegung im Untergrund, ersucht Ihre Hilfe bei einem Problem, das sämtliche Grausamkeiten in dieser Galaxie bei weitem übertrifft. Ich hoffe, und weiß, dass Sie den Milasan helfen werden, wieder den richtigen Pfad zu finden. Den Weg des Friedens und der Freiheit. Helfen Sie diesen Menschen, dass sich die im folgenden aufgezeichneten Gräueltaten nie wiederholen werden. Dies ist eine einleitende dringliche Bitte an Sie - bitte helfen Sie dieser Welt!"
Ich gab dem Techniker ein Zeichen, und er betätigte ein paar Knöpfe, woraufhin das Gesicht von Retrox und Pilan auf dem Bildschirm erschien.
Retrox begann zu erzählen: "Mein Name ist Retrox, und das ist mein guter Freund und Partner Pilan, wir gehören zu einer Untergrundbewegung auf Milasan, die nur darauf bedacht ist, die geschehen Gräueltaten zu veröffentlich, um so künftige Massaker dieser Art zu verhindern. Wir bauen auf Ihre Hilfe und Unterstützung. Aber bitte, sehen Sie zuerst die Aufnahmen, die vor fast hundert Jahren gemacht wurden. Wir werden danach noch ein paar Worte dazu sagen.
Und bitte fällen Sie aufgrund dieses Genozids nicht voreilig eine Meinung über unser Volk, denn für den Großteil unserer Bevölkerung waren es eine Art Tage in der Dämmerung. Sie bekamen es nicht wirklich mit, doch wussten alle Bescheid.
Bitte, schauen Sie sich diese Bilder an...!"

zurück