© der Geschichte: Nina Hernitschek. Nicht unerlaubt
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MASTER

Die Drei Grundregeln der Robotik:

  1. Ein Roboter darf kein menschliches Wesen verletzen oder durch Untätigkeit gestatten, dass einem menschlichen Wesen Schaden zugefügt wird.
  2. Ein Roboter muss dem ihm von einem Menschen gegebenen Befehl gehorchen, es sei denn, ein solcher Befehl würde mit Regel Eins kollidieren.
  3. Ein Roboter muss seine Existenz beschützen, solange dieser Schutz nicht mit Regel Eins oder Zwei kollidiert.

Ich hatte MASTER schon einige Male draußen im strömenden Regen vorgefunden. Der Himmel war bleigrau gewesen und von fern zuckten bereits die ersten Blitze eines nahenden Gewitters.

MASTER war das Geschenk für meine Frau zu ihrem 34. Geburtstag gewesen. Aber eigentlich war er nicht nur ein Geschenk an Melissa, sondern an uns alle gewesen.
MASTER, der Haushaltsroboter, konnte nicht nur bügeln, putzen, abwaschen und sogar kochen. Er war auch ein geduldiger Spielkamerad und Geschichtenerzähler für unsere Zwillinge David und Tina gewesen. Sie hatten sich richtig gut mit MASTER verstanden und waren von Anfang an viel weniger skeptisch gewesen als Melissa.
Aus diesem Grund hatte ich ihnen auch nie davon erzählt. Sie hätten es wohl nicht verkraftet. Und so hatten David und Tina keine Ahnung, dass sich ihr einziger Freund mit schöner Regelmäßigkeit so seltsam benahm.

Ich hatte versucht, mit MASTER darüber zu reden. "MASTER", sagte ich, "es kann passieren, dass Wasser durch die Ritzen in deiner Metallhaut eindringt und deine Schaltkreise beschädigt. Das willst du doch nicht, oder? Und ich möchte gar nicht daran denken, was passiert, wenn du von einem Blitz getroffen wirst. Das wäre dann nämlich auf jeden Fall dein Ende. Du weißt doch, was die Dritte Regel besagt."
MASTER war auf jeden Fall ein vernünftiges Geschöpf gewesen. Ich wusste, dass er mich verstanden hatte. Aber er handelte nicht wie ein vernünftig denkendes Geschöpf.
Anstatt Angst davor zu haben, wirkte er eher so, als würde er sich darüber freuen - als könne er es gar nicht erwarten, im strömenden Regen unter bleigrauem Himmel zu sterben.
Aber ich hoffte dennoch, er würde es einsehen.

Der Sommer war schwül, und drei Tage später verzog sich wieder der Himmel. Im Wetterbericht war von schweren Gewittern die Rede.
Ich wollte nichts riskieren und rief die Firma an, die MASTER hergestellt hatte. Von einem derartigen Fall hätten sie auch noch nie gehört, sagten sie. Aber sie könnten es mit einer Neuprogrammierung versuchen.
Ich entschied mich für die Neuprogrammierung. Als wir MASTER am nächsten Tag zurückbekamen, war er wie ein kleines Kind und musste alles neu lernen.

Einige Nächte später hörte ich seltsame Geräusche. Irgendein Kratzen und Schaben. Aber dann war es vorbei und ich drehte mich wieder um. Sicher waren wieder nur Mäuse unterwegs. Ich hätte schon längst eine Mausefalle besorgen sollen.
Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich erneut wach wurde. Jedenfalls war das kein Schaben und Kratzen, sondern Gewitterdonnern. Gewitter! MASTER! MASTER war bestimmt wieder irgendwo da draußen!
Ich rannte ins Wohnzimmer, wo MASTER normalerweise schlief. Eigentlich hätte ich es schon wissen müssen, bevor ich das Licht angeschaltet hatte - MASTER war nicht da. Ich wollte hinauslaufen um MASTER zu holen. Die Tür wies Einbruchspuren auf. Nein, keine Einbruchspuren. Ausbruchspuren. Die Türklinke war eindeutig von innen ausgehebelt worden. Ich wusste sofort, dass es MASTER gewesen war. Nur: Was zog ihn an Gewittern so sehr an?
Die Wiese draußen war vollkommen aufgeweicht. Der prasselnde Regen hatte jegliche Fußspuren von MASTER verwischt. Ein gewaltiger Blitz schlug ganz in der Nähe ein, vielleicht ein, zwei Häuser entfernt. Der Donner war ohrenbetäubend.
Ich ging nach drinnen, holte mir eine starke Taschenlampe und leuchtete in den Garten hinaus. MASTER war nicht zu sehen. Trotzdem rief ich ihn mehrere Male. Aber ich wusste, auch wenn er auf mich hören wollte, so hätten Regen und Donner doch meine Stimme übertönt.

Zuerst fragte Tina nach MASTER. Sonst hatte er nämlich immer die beiden aufgeweckt und dann das Frühstück für uns alle gemacht. An diesem Tag aber kam niemand, der sie weckte.
"Ich weiß nicht, wo er ist", musste ich gestehen. "Vielleicht ist er hinausgegangen, zum Einkaufen." Ich wusste, dass Tina mir ansah, dass ich log. "Er kommt sicher bald wieder." Tina tat so, als würde sie mir glauben - mir zuliebe. Sie wusste, dass ich mir Sorgen machte.
Die Zwillinge wirkten so sehr verändert. Melissa bot ihnen an, ihnen eine Gute-Nacht- Geschichte vorzulesen, aber sie sagten nur, MASTER konnte das besser. Und als ich sagte, wir könnten doch zum Angeln fahren, so sagte David sofort, MASTER hatte immer mehr Fische gefangen als wir alle zusammen.

Es vergingen Stunden und Tage, doch MASTER kam nicht zurück. Ehrlich gesagt, ich hätte auch nicht damit gerechnet. Melissa musste wieder die ganze Hausarbeit allein erledigen. Sie sagte zu mir, erst jetzt würde sie merken, welche Arbeit ihr der Roboter bisher abgenommen hatte.

MASTER hatte sich seinen sehnlichsten Wunsch erfüllt. Polizeibeamte fanden ihn zufällig auf einer nahen Wiese. Sein Innenleben war komplett verschmort, die Kabel und Platinen geschmolzen. Der Blitz musste ihn um 0.30 Uhr getroffen haben, das ließ sich noch feststellen. Es kann sein, dass es der Blitz war, den ich gesehen hatte.

Ich erzählte es Melissa. Und irgendwann erzählte ich es auch den Kindern. Ich sagte ihnen, es sei ein Unfall gewesen. Davon, dass ich ihn immer wieder gerade noch retten konnte, sagte ich nichts.
Die Versicherung bezahlte den Schaden. Wir kauften uns nie wieder einen Haushaltsroboter.

Ja, und fast hätte ich das Wichtigste vergessen. Vor ein paar Tagen fand ich ein Blatt Papier, das jemand mühsam aus Tinas großem Zeichenblock herausgerissen hatte. Es war mit ungelenken, großen Buchstaben bekritzelt.

Liebe Mrs Johnson, lieber Mr Johnson,
ich möchte mich bei Ihnen für all die Unannehmlichkeiten entschuldigen, die durch mich entstanden sind. Aber es musste sein. Ich habe Melissa und Ihnen immer sehr geholfen und ich hoffe, Sie waren mit meiner Arbeit zufrieden. Ich war Tina und David ein guter Freund und ich weiß, dass sie mich sehr vermissen werden. Aber es musste gerade deswegen sein - wegen den Kindern. Ich war ihr Freund, wie Sie wissen. Ich war ihr einziger Freund. Ich konnte nicht anders handeln. Ich weiß, was die Dritte Regel besagt. 'Ein Roboter muss seine Existenz beschützen, solange dieser Schutz nicht mit Regel Eins oder Zwei kollidiert.' Und die Erste Regel besagt, dass ein Roboter kein menschliches Wesen verletzen darf und es ihm auch nicht erlaubt ist, durch Untätigkeit zu gestatten, dass einem menschlichen Wesen Schaden zugefügt wird. Das war der Grund, warum ich sterben musste.
Ich habe nämlich nicht nur einem Menschen Schaden zugefügt, sondern gleich zwei Menschen: David und Tina. Sie haben mir erzählt, dass sie früher viele Freunde gehabt hatten. "Aber keiner von ihnen war so gut wie du, MASTER", hatten sie gesagt. Und deswegen war ich ihr einziger Freund gewesen. Es gab keinen Andy mehr und keine Betty, kein Chris und keine Sandra. Es gab nur noch mich, weil ich besser war. Ich bin ein Roboter und kein Mensch. Ich weiß, dass kein Mensch so gut wie ich immer und immer wieder die gleichen Comicfiguren zeichnen kann. Ich weiß, dass kein Mensch beim Fußball einen besseren Torwart abgeben könnte - jedenfalls nicht unter Kindern. Und ich weiß auch, dass ich besser kaputte Spielsachen reparieren kann als Andy, Betty, Chris oder Sandra.
David und Tina aber sind Menschen, keine Roboter. Ich habe gespürt, dass sie in Wirklichkeit immer sehr einsam waren.
Ich bin gegangen, weil ich David und Tina liebe.
Ich hoffe, sie werden Freunde finden - Menschenfreunde.
MASTER.

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