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Licht und Schatten

Arida:

Der Himmel schaut auf mich herab. Der dunkle Himmel.
Die grauen Wolken sind dicht und schwer. Sie drängen sich zusammen vor meinen Augen und ihr Schatten legt sich auf die Berge - auf die kalten, schroffen Berge, die meine Ankunft erwarten.
Er ist in ihnen. Er ist mit ihnen.
Sogar jetzt, in dieser Stunde, an einem finsteren Tag wie diesem, ist dort wo ich reite, dort wo ich atme, auf diesen grün und braunen Wiesen, die mit Schlamm vermischt und mit Steinen zersetzt sind, mehr Licht, mehr Leben sogar, als in den kalten, felsigen Höhlen, in denen er haust.
Meine Kinder sind bei mir. Sie folgen mir und sie werden mich nie verlassen. Ich höre ihre schweren Stiefel, das Klirren von Stahl und Rüstung und ihr leises Grollen. Es kommt mir vor, als würden sie singen. Ein wogendes Murmeln, ohne Worte und Sprache. Ein Summen, das ich so lange nicht mehr gehört habe. Sie summen für mich, und sie folgen meinem Banner.
Niemand nennt mich 'Herrin' oder 'Königin', denn ich erlaube es nicht. Aber das ist es, was sie denken und das ist es, was ich bin. Und nach langer Zeit bin ich wieder an der Spitze ihrer Reihen und führe sie, denn sie sollen die Ereignisse sehen und daraus lernen.
Ephren ist ein bleicher Mann. Ich habe ihn damals gesehen. Er ist weder groß noch klein, weder alt noch jung. Seine Rüstung hat wenig an sich, das ihn von den seinen unterscheidet. Die silbernen Platten auf seinen Schultern vielleicht. Aber sein Gesicht ist eingefallen. Seine Wangenknochen zeichnen sich ab. Ich glaube, früher war sein Antlitz rundlicher - so wie bei allen aus seinem Volk. Er hat nicht mehr das Ausdruckslose, das Gleichgültige, das ihnen allen so eigen ist. Vielleicht ist er deshalb ihr Herrscher geworden. Vielleicht ist es sein Blick.
Ich kenne seine Augen - seine traurigen Augen. Die Krieger der Berge, das Felsenvolk, sie alle haben ihm Treue geschworen und ihm ihre Schwerter geweiht. Allein aus diesem Grunde folgen sie ihm ... Mitleid und Trauer. Sie sind für ihn da, sie wollen ihn schützen, denn in ihren Augen ist er ein Großer. Er ist es wert. Sie wollen ihn verstehen und ihm die Bürde abnehmen, die auf ihm lastet. Mitleid und Trauer.
Er kann seine Ketten nicht sprengen. Sie lasten auf ihm, unsichtbar und unerbittlich. Er ist gefangen und er leidet, doch es vergeht kein Tag, an dem er nicht dagegen ankämpft. Das macht ihn stark. Darum folgen sie ihm. Doch ich frage mich, ob er das weiß.
Vielleicht sollte ich es ihm sagen ...


Ephren:

Ein fahler Schein umgibt mich. Meine Schritte sind schnell und sicher. Der Felsen unter meinen Füßen, die harten Steine, die ich durch die Stiefel hindurch fühle. Ich halte kurz inne und lege die Hand auf die kalte, graue Wand aus Stein. Das ist mein Zuhause. Mein trautes Heim. Der Schein, der von der Felswand zurückgeworfen wird, er trifft auf die silbernen Platten auf meinen Schultern und reflektiert. Hin und her. Ein endloses Spiel. Dieser Schein ist mein Licht. Er zeigt mir, dass ich lebe. Ohne ihn wäre es dunkel hier unten - so dunkel.
Ich wollte, ich könnte sie jetzt sehen. Ihre Augen - ihre weißen, schimmernden Augen. Niemand sieht den Glanz darin. Den Glanz, den ich darin sehe. Sie sagen, ihr Blick ist düster und trüb geworden, nicht mehr so rein wie früher. Doch für mich ist es das grelle Leuchten ... und selbst der kleinste Funke aus ihren Augen würde reichen, um mein Herz in Flammen zergehen zu lassen.
Seit dem ersten Tag weiß ich, dass es so kommen würde.
Nur ein paar hundert Schritt noch, dann werde ich die Krieger sehen. Sie warten auf mich vor dem großen Tor, vor dem ehernen Gitter, das mein Bergvolk von der Außenwelt trennt. Ich denke an den kalten Stahl an meiner Seite und ich denke an die Krieger - an mein Volk. Warum folgen sie mir? Was erwarten sie? Welche Laune hat mich zu ihrem Herrscher gemacht?
Meine Ziele, meine Absichten - sie können ihnen nichts nützen. Wäre ich jemand anderes, einer von ihnen, ich würde nicht demjenigen folgen, dem sie folgen. Ich würde ihre Worte verlachen, ihre Reden würde ich nicht achten, denn all das, wonach sie streben hat keinen Wert für mich. Ehre und Ruhm, das Wohl des Bergvolkes, die Wahrung von Größe und Herrlichkeit, das alles sind Träume, die uns in Illusionen fangen, das sind Tränke, deren süßes Gift unsere Eingeweide zersetzt. Davon sollen die Einfältigen träumen, davon sollen die Selbstgefälligen trinken.
Doch sie folgen mir und es soll mein Nutzen sein.
Sie aber, Arida, die Herrin aus dem Süden, sie herrscht über Gewalten, die ich selbst nie begreifen könnte. Wenn ihre Stimme befiehlt, dann stehen ihre Diener da wie gebannt und gehorchen. Der Klang ihrer Stimme. Er trägt sie hinweg wie der Wind, der über das Land reist. Wie er an Gräsern und Wiesen, an Sträuchern und Bäumen vorbeizieht. Schnell und schadlos. Er gelangt überall hin - an Felsen und Steine und an Berge, die zum Himmel reichen.
Über all das geht der Wind hinweg und für ihr Gefolge ist sie der Wind. Nichts hält sie auf, nichts wirft sie zurück. Nicht in diesem Leben.
Vorn scheint ein Licht. Die Krieger erwarten mich. Nur wegen ihr bin ich hier - nur wegen ihr sind wir alle hier. Bald werde ich sie sehen.


Der Weise:

Das Siegel von Chanja wurde vor Jahren gestohlen. Es war ein schönes Siegel, ein großes Siegel. Diejenigen, die es sahen, die sprachen mit Begeisterung von seiner leuchtenden Erscheinung. So schön war es, dass niemand fähig war, seine wahre Gestalt mit bloßen Augen zu erfassen, geschweige denn, diesen Glanz mit Worten zu beschreiben.
Das Siegel von Chanja war ein magisches Werk. Es hatte keine Form und keinen Halt in dieser Welt. Ihr, die ihr es nicht sehen könnt - stellt Euch einen großen Platz vor - einen leeren Platz, eben und flächig, wie ein Marktplatz. Ferner einen Sockel, mehrere Schritt im Durchmesser und doppelt so hoch wie ein großer Mann. Mit acht Ecken, und an jeder Ecke eine stattliche Säule. So einen Platz mit so einem Sockel gab es in Chanja und dort war das Siegel. Es heißt so, weil es von weisen und kundigen Männern geschaffen wurde, um die Feinde von den Toren fernzuhalten. Es gab Chanja, der Stadt am Gebirgspaß, Schutz, dass sie als Bollwerk und Grenzstadt dienen und somit den Zugang zu unserem Land schützen konnte.
Das Siegel von Chanja war unsere Verteidigung, denn sein magisches Licht hielt die schrecklichen Wesen aus dem fremden Lande fern.
Dann aber, nach vielen Jahren des Friedens, kam ein Herr des Weges. Ein Herr in dunklem Gewand. Ein Herr mit tief hängender Kapuze. Vor aller Augen stellte er sich auf den Platz und offenbarte seine Macht. Das Siegel, das zwischen den acht Säulen wie ein großes, waberndes Leuchten war, es wurde blass und blasser. Die Farbe ging verloren, alles Licht ging dahin. Der fremde Herr streckte seine Hand aus und eine schwarze Schatulle in seiner Hand verschluckte das Siegel.
Der Fremde ging fort, zurück über den Gebirgspaß. Doch die Menschen wussten, dass sie nun ausgeliefert waren - dass es nur eine Frage der Zeit war, bis eine große Armee unter dem Befehl ihrer Feinde gegen sie ziehen und schließlich vor ihren Toren stehen würde. Das glaubten sie und daher fürchteten sie sich, doch die wahren Absichten des fremden Herrn konnten sie nicht erraten.
In der unsicheren Zeit, die sich über fast drei Wochen hinzog, und in der die Krieger und Soldaten, die über das ganze Land verstreut waren, sich zur Stadt Chanja begaben, um zur Verteidigung bereitzustehen, wurde manch ein Späher geschickt, um die Stadt vor der Ankunft der Feinde zu warnen.
Mein Vater war damals noch ein junger Mann - kein Soldat und kein Krieger. Doch angesichts solcher Gefahr tat er, was ihm als notwendig erschien. Er ging mit den Kundschaftern und er half ihnen. Als er - nur wenige Tage nach dem Erlöschen des Siegels mit zweien der Männer einen Streifzug wagte, der ihn hinter das Gebirge brachte, da sah er merkwürdige Dinge und Ereignisse, die die Menschen der Stadt noch lange Zeit in Furcht und Schrecken versetzen sollten. Die drei Kundschafter drangen ein Stück weit in das fremde Land ein - dort, wo der Himmel sich in Schatten hüllt und die schwarzen Schwaden von Rauch und Pest das Licht ersticken. Vor sich sahen die Männer eine raue Ebene. Weitläufig nach Norden und Süden hin und nur spärlich mit Gras oder Büschen bewachsen. Im Osten konnten sie das Massiv erkennen - einen weiteren Gebirgszug, der ein Hort des Grauens ist.
Das Bergvolk lebte damals dort. Eine finstere Sippe bleicher Gestalten, deren Haut grau und kalt ist wie der Fels, der sie beheimatet. Die Menschen fürchteten sie, denn sie lebten nahe an der nunmehr ungeschützten Grenzstadt und man wusste, dass der Herrscher dieses Volkes ein grausamer und gefühlloser, aber mächtiger Führer war.
Mein Vater sah das Massiv, doch seine Bewohner sah er nicht. Ein großes Tor aus Holz und Eisen war da in den Fels gesetzt. Es war verschlossen.
Die Kundschafter versteckten sich, sobald sie das Tor entdeckten, und sie warteten. Bald geschah etwas. In der Ferne, aus dem Süden her, sahen sie ein Heer erscheinen. Ein großes Heer. Als die Männer es sahen, da schwand ihnen ihr Mut und ein Schatten legte sich auf ihre Herzen. An der Spitze des Heeres ritt eine schreckliche Gestalt - sie hatte die Züge einer menschlichen Frau, doch ihre Augen waren weiß, ohne Tiefe, ohne Seele. Es war die Herrin der Verlorenen, die ihre Kinder aus dem Süden heraufgeführt hatte. Die Menschen fürchteten sie mehr als das seltsame Bergvolk, denn sie hatten gegen sie Kriege geführt, die unser geliebtes Land beinahe ins Verderben gestürzt hatten.
Der Aufmarsch ihrer Armee war schrecklich. Die drei Männer hörten die schweren Stiefel, das Klirren von Stahl und Rüstung und ein leises Grollen, das aus den Kehlen der grausigen Krieger zu kommen schien. Wie willenlose Maschinen stampften diese großen, kräftigen Krieger hinter dem Banner ihrer Herrin her. Als könne ihnen nichts und niemand Einhalt gebieten.
Mit Entsetzen sah mein Vater, wie die Armee vor das Massiv des Bergvolkes zog - auf das große Tor zu. Ihn und seine Begleiter befiel der schreckliche Verdacht: ein Bündnis. Die Feinde würden ihre Streitmächte vereinen und gemeinsam, schier unaufhaltsam, gegen die Stadt Chanja ziehen. Es war gewiss. Es konnte gar nicht anders sein.
Die Herrin hob den Arm und ihre Krieger gehorchten. Die Armee stand vor dem großen Tor. Ein unheimliches Schweigen legte sich auf die gesamte Ebene. Es kroch in die Herzen und in den Verstand der drei Kundschafter und es quälte sie sehr.
Dann brach die Stille. Ein Lärm ertönte, wie von fallenden Steinen, die oftmals von den Bergen herabbrechen können. Doch es kam nicht von einem der Gipfel, es kam aus dem Massiv - als hätte sich im Innern selbst eine Lawine gelöst. Das Tor öffnete sich und eine Gestalt trat heraus, ein Wesen mit dem Gesicht eines Mannes. Der Herr des Bergvolkes.
Sein Gefolge, seine grauen Diener mit einer Haut wie Felsen, sie strömten aus den dunklen Höhlen und nahmen Aufstellung auf der Ebene. Der bleiche Herr, auf dessen Schultern silberne Platten blinkten, trat der Herrin entgegen und sah ihr fest ins Gesicht.


Arida:

Seine Augen sind ... traurig. Er sieht mich an, er steht vor mir. Seine Stirn zeigt Falten, seine Lider sind verkniffen und ich merke, dass er versucht, entschlossen zu wirken. Würdevoll. Groß.
Doch das ist er nicht. Ich kann seine Schwäche sehen, seine Angst. Ich sehe es so deutlich, als würde er hier vor allen Kriegern - vor seinem Volk, vor meinen Kindern - zittern. Als würden seine Glieder beben und er selbst zu Boden sinken. All das erkenne ich in seinem Blick. Denn er ist bloß Fassade und ich sehe durch ihn hindurch.
Er ist der Schwächste von allen. Er hat das Abkommen nicht eingehalten, er hat die Regeln gebrochen ohne Respekt für meine Welt, für mich oder für meine Kinder. Er versteht es nicht. Es kümmert ihn nicht. Die Welt kümmert ihn nicht. Und doch ist sie seine ewige Last ... Mitleid und Trauer.
Er ist zu weit gegangen. Er nahm das Siegel von den Menschen für seine Zwecke. Was immer auch sein Plan war - ich weiß es nicht. Doch er nahm es und brachte Unheil über uns. wusste er nicht, dass er dadurch ihren Zorn erwecken würde?
Die Menschen sind unsere Feinde. Ihre Soldaten werden kommen und ihre Horden werden uns niedermetzeln. Und meine Diener, meine Kinder, werden als Erste fallen, meine Macht werden sie als erstes zu brechen suchen. Er steht dort und ich warte nur darauf, dass er mich herausfordert. Doch seine Gründe, seine Absichten, kenne ich nicht. Tut er es aus Furcht? Aus Neid?
Da! Ich sehe wie er zittert. Sag es mir! Sag mir, dass Du es aus tiefem Haß heraus tust!
Siehst Du die Krieger hinter mir? Die Verlorenen! Sie sind meine Kinder. Sie sind mein Leben. Ihr Wohl ist meine Freiheit und Du raubst mir meine Freiheit! Alles was ich wollte.
Das Siegel ist zerstört, er hat keine Rücksicht genommen. Doch bevor ich untergehe wird er sterben. Durch meine Hand.


Ephren:

Ihre Augen sind ... kalt.
Ihr Herz ist kalt, ich weiß es. Sie lebt unter dem Licht der Sonne und sie ist schön auf eine Weise, die ich in meinem Volke niemals finden werde. Doch selbst ihr Licht ist kalt und was es nach sich zieht, das ist der Schatten. Die Schwärze, die Finsternis der Verdammten, das Nichts der Verlorenen.
Sie war die Stärkste unter den Herrschern. Sie war stets allein. Sie brauchte niemanden neben sich. Ihr Ziel war die Freiheit. Nur ich hatte die Gelegenheit, auf sie zuzugehen. Nur ich habe Worte mit ihr gewechselt. Nur Worte. Und sie hat mich angehört. Seitdem kenne ich ihren Traum, ihren großen Traum von Freiheit. Ich habe sie dafür bewundert und verehrt. Ich habe geredet, habe versucht, meine Gefühle auszudrücken und ihr näher zu kommen, doch Kälte umgibt sie und in ihren weißen Augen - ohne Tiefe, ohne Seele - schimmern keine Emotionen.
Als ich zu ihr sprach, da blieb sie reglos und das Einzige, was ich sah, das war ein verzerrtes Bild meiner selbst, so wie im Spiegel. Doch mit jedem Wort aus meinem Munde wurde mein Bild befremdlicher und hässlicher. Mit jedem weiteren Wort sah ich die Verzweiflung wachsen, erkannte ich den Wahn, die Entstelltheit der bedauernswerten Gestalt, die sich in ihren Augen spiegelte. Sie hat nichts verstanden. Sie hat keine Gefühle. Ihr Traum von Freiheit beherrscht sie. Es ist ein Verlangen, eine Gier, und es wird sie zugrunde richten.
Vor ein paar Tagen erst, da tat ich es für sie. Ich nahm etwas, das ihr ein Licht zeigen sollte. Ein anderes Licht. Das Siegel aus Chanja. Doch es ist zerfallen, es ist vergangen in einer schwarzen Schatulle, die ich so sicher wähnte wie das Innerste meines Herzens. Der Schein, den ich ihr schenken wollte - er ist dahin und ich weiß nicht warum.
Ich habe versagt. Ich habe zuviel gewollt, zu hoch gegriffen und nun bleiben mir nur noch Ungewissheit und die Zweifel an ihrem Empfinden. Es bricht meinen Körper. Es bricht mir das Herz. Ich versage an Zweifeln und nun ist sie hier.
Sie kommt hierher mit Kriegern und Waffen, mit Spießen und Schwertern und will mich töten.
Soll ich ihr diese Gelegenheit geben? Soll sie diese Chance haben? Bin ich stark genug dafür? ... Nein, ich werde nicht zu Dir sprechen. Ich warte hier, vor all den Leuten - vor meinem Volk, vor Deinen Kindern - denn sie sind alle unwichtig, Sie begreifen es nicht. Ich warte darauf, dass Du den ersten Zug machst.
Vielleicht ist das alles nur ein Missverständnis, vielleicht ist das alles nur lächerlich. Aber mein Spiel ist aus. Ich gebe es auf. Wenn sie kommt und mich bekämpfen will ... wenn sie kommt und mich töten will, dann soll sie es tun. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt.
Ihr schwarzes Haar schimmert und glänzt. Es weht im rauen Winde. Ihre Lippen zeigen ein Lächeln. Sie hat mich nicht verstanden. Sie ist hier und sie bedroht mich mit ihrer Gier nach Freiheit. Sie hat mich verraten.
Diesen letzten Funken schenkst Du meinem Herzen.
Du sollst sterben! Du sollst es büßen!


Der Weise:

Das Licht war fort. Das Licht der Sonne.
Die grauen Kreaturen, das Bergvolk aus dem Massiv - es stand dort mit Speeren und Lanzen, mit Keulen und Knüppeln, deren Spitze und Schaft mit rostigen Eisenstücken beschlagen waren. Sie standen da im offenen Halbkreis hinter ihrem Herrn. Sie standen da im Schatten der Berge und es waren ihrer viele.
Die verlorenen Krieger, die Kinder der kalten Herrin - sie standen dort mit Spießen, in Rüstung, mit Schilden und Schwertern, die sie gegeneinander schlugen. Sie standen da in Reih' und Glied hinter ihrer Herrin. Sie standen da im Schatten, den der schwer verhangene Himmel auf die Ebene schickte.
Als der Herr des Bergvolks aus dem großen Tor hervorgetreten war, da hatten die Späher ihn erkannt als den fremden Mann in schwarzem Umhang, der das Siegel aus Chanja gestohlen hatte. Sie fürchteten sich, denn seine Macht war groß.
Nun aber stand er da, das Gesicht zur Herrin, zu der Armee gewandt, die sie heraufgeführt hatte.
Die Herrin selbst saß immer noch auf ihrem Schlachtroß, hoch und erhaben, und die beiden seltsamen Wesen starrten sich an. Eine lange Zeit.
Mein Vater und seine Begleiter warteten, doch es beunruhigte sie, denn sie konnten sich die Sache nicht erklären. Was immer sich hier abspielte - würde es zum Bündnis dieser beiden gewaltigen Armeen führen? Was sie aber schließlich dort sahen, das traf sie tief und es brannte sich in ihren Verstand.
Der Herr brach die Reglosigkeit seiner Haltung als erster. Sein Kopf sank herab - ganz leicht und fast unmerklich. Sein Ausdruck veränderte sich, seine Züge veränderten sich. Er verzog den Mund zu einem hämischen Grinsen. Was mochte er denken? Und war es diese Bewegung oder war es etwas anderes, das die Herrin dazu veranlasste, nun ihrerseits die Handlungen zu beginnen?
Aus der Sattelhalterung zog sie ein Schwert, ein grausam funkelndes. Ein Schrei drang aus ihrer Kehle und sie schlug die Zügel. Es gab kein lautes Wort. Keinen Gruß und kein Gerede. Keine Drohung, keine Herausforderung.
Das Roß der Herrin hielt auf den Herrn zu, der im letzten Moment erst beiseite springen konnte. Als hätte er überlegen müssen. Die Flanke des Pferdes schlug hart gegen seine Schulter, dass er im Sprung gedreht wurde und zu Boden fiel. Die Herrin wendete das Roß und gab ihm die Sporen, den Herrn unter den stählernen Hufen zu zertreten. Das Pferd kam heran, doch der graue Widersacher sprang auf, zog die Klinge und schlug mit Gewalt dem Tier in das Fleisch der Beine, dass es klagend wieherte. Es tat zwei Schritt noch vorwärts, dann knickten die Beine und der Rumpf fiel nieder.
Zu Boden lag die Herrin, halb begraben unter dem Körper ihres gefallenen Rosses. Sie wand sich und kroch vor, heraus aus der Fessel.
Als sie zum Gegner sah, da war es fast zu spät. Der Herr war auf sie zugerannt, hatte den Sprung ausgeführt und das Schwert in die Höhe gerissen. Er kam herab wie Blei, das vom Himmel fällt und ein grausiges Geräusch erklang, als sein Stahl durch ihre linke Schulter fuhr. Im selben Moment zog er die Klinge wieder heraus - teils aus eigenem Willen, doch auch hinweg gestoßen von der Herrin, die aufsprang und wütend auf ihn losging.
Die Klingen kreuzten sich, ihr Feuer leuchtete in Funken auf, und die Herrin der Verlorenen drängte den Herrn mit jedem Schlag einen Schritt zurück. Dann hielt sie inne, wich dem Streich des Gegners aus und hieb dem Herrn ihren Stahl in die Seite, oberhalb der Hüfte, dass dieser taumelte und in die Knie ging. Das Schwert der Herrin stak in seinem Fleisch, sie hatte es aus der Hand gleiten lassen, doch auch dem grauen Herrn entfiel die Klinge.
Doch sie hörten nicht auf. Von Blut überströmt und von Schmerzen gepeinigt gingen sie aufeinander los und rangen mit bloßen Händen - halb im Knien, halb im Stehen - miteinander.
Die kalten Finger des Bergherrschers würgten die Herrin und ihre eigenen Hände, in silbernen Handschuhen, zerdrückten die Kehle des Gegners. Nur kurze Zeit konnten beide dies ertragen, dann erstarb ihr Atem, dann erstarb ihr Röcheln, dann schlugen sie beide zur Erde und ließen ihr Leben.
Als das Blut der beiden Herrscher die Ebene tränkte, da brach das Licht durch die Wolken. Wie lange, dürre Finger reichten die Strahlen vom Himmel auf die Erde herab. Doch ihr Scheinen blieb vergebens.
Mein Vater, der all das mitangesehen, er war am Rande des Wahnsinns. Es war nicht allein der schreckliche Tod der beiden Widersacher, nicht allein ihr grausamer, erbarmungsloser Kampf - noch nicht einmal ihr brennender und verzehrender Haß, der auf ihn eindrang, der sich in sein Bewusstsein fraß und ihn in ein Meer aus Angst und Leiden stürzte. Die drängende, lodernde Erkenntnis war es vielmehr, die seinen gequälten Geist erfasst hatte, dass nämlich alles, was man ihm gesagt hatte, alles, was man ihn gelehrt hatte, falsch und oberflächlich gewesen war.
Wir sind die Guten. Die Menschen sind gut. Denn sie haben Gefühle - die Liebe aber auch den Haß - die sie menschlich und manchmal bemitleidenswert machen. Jene aber, die im fremden Land dort wohnen, in kargen Wäldern, in toten Felsen ... jene sind böse. Es sind die Feinde. Denn ganz den Menschen fremd sind sie, ohne Gefühle und ohne Empfinden. Sie sind böse aus ihrer Natur und den Tod verdienen sie mehr als alles andere.
Mein Vater stand am Scheideweg, denn er spürte, dass sein Herz ihn mitleidig machen wollte. Mitleidig für diese Kreaturen, die mit solch starken Emotionen gerungen hatten und am Ende ihnen unterlegen waren. Denn das hatte er nun verstanden und seine Welt drohte, auseinanderzufallen.
Er zitterte heftig am ganzen Körper und dann griff er mit seiner Linken den Arm des einen Spähers, der da vor ihm hockte. Er bat sie beide, die Sache abzubrechen, die Erkundung zu beenden und so schnell als möglich zur Stadt zurückzukehren. Sie aber, seine Begleiter, sie waren geblendet, sie waren gebannt.
Sie sahen, wie die Krieger sich regten, wie das Bergvolk laut aufheulte. Rufe von Pein und Trauer, und sie wollten bleiben, um zu sehen, was nun noch geschehen würde.
Als die Heere sich in die Schlacht stürzten, als die fremden Wesen von links und von rechts aufeinander zu liefen und ihre kalten Waffen das warme Blut des Gegners forderten, da drang der Lärm und das Geschrei, die Angst und die Wut, der Zorn und der ungezügelte Haß über die Ebene und ergriff die drei Männer.
Mein Vater sprang auf, hielt sich den Kopf und rannte so schnell seine Füße ihn tragen konnten weg von dem grausigen Geschehen. Als er sich auf dem ersten Hügel ein letztes Mal umdrehte, da sah er seine Begleiter dort hinter den Büschen liegen. Sie wanden sich und sie schrien lauthals. Sie krallten ihre bloßen Hände in die schwarze Erde und zitterten am ganzen Körper. Als ihre Glieder auseinandergingen, drehte sich mein Vater wieder um - mit Tränen in den Augen.
Er gelangte jedoch zu den Toren von Chanja, verstört und furchtsam. Und er warnte die Menschen dort vor dem tödlichen Schrecken, der über sie kommen würde. Er rief es am Eingang den Wachen schon zu und er rannte zum Marktplatz und erzählte es in fiebernden Worten der Menge.
Die Stadt war bereit und die Soldaten besetzten die Wehr. Sie warteten Tage und Nächte lang für mehrere Wochen. Der tödliche Schrecken, die grausamen Bösen aus dem fremden Lande aber - sie kamen nicht, sie blieben fern. Und so warteten die Menschen vergebens.

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