© der Geschichte: Michael Schnitzenbaumer. Nicht unerlaubt
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Der Gigaraum

In einer der vielen Nächte, die ich schlaflos auf dem Rücken liegend, in meinem Bett verbrachte, erhielt ich Besuch vom Lieben Gott.
Nichts hatte auf diesen hohen Gast hingedeutet. Nur der Vollmond strahlte ungewöhnlich hell, so als wollte er der Dunkelheit ein Geheimnis entlocken. Er schien durch das unverkleidete Fenster und beleuchtete die weißen, sterilen Wände meines Zimmers, gleich einer riesigen Neonröhre. Selbst der kleinen Spinne, die an der hinteren Ecke über ihr Netz krabbelte, gelang es nicht, sich vor meinem Blick zu verbergen. Die Hände zwischen Hinterkopf und Kissen geschoben, beobachtete ich, wie die kleine Weberin einen unvorsichtigen Falter liebevoll umgarnte.
"Noch so hungrig, um diese Zeit, Madame?" fragte ich die Spinne. Natürlich gab mir Madame Spinne keine Antwort, aber ich unterhielt mich gerne, mit jedem Gekräuch und Gefläuch, das mich in meiner spartanisch eingerichteten Behausung besuchte, besonders dann, wenn es solche gelungenen Meisterwerke zu weben verstand. Den Menschen in meinem Umfeld konnte ich nur wenig abgewinnen. Wenn möglich mied ich ihre Gegenwart. Lediglich Richard, mein Bruder, bildete die Ausnahme.
Indessen hatte die Spinne ihre Mahlzeit eingewoben und zog sich zum äußersten Rand des Fadenbaus zurück. Mir fiel auf, wie schön das große Netz im Mondlicht strahlte. Als hätte man silbriges Lametta zwischen Decke und Wände geflochten. Ich bewunderte gerade die zart aneinander geknüpften dünnen Stränge, als er plötzlich, in Gestalt eines Fuchses, vor mir auftauchte.
"Guten Abend", entbot mir der Liebe Gott.
Zumindest vermutete ich, es sei der Liebe Gott, denn welcher Fuchs beherrscht schon die deutsche Sprache, noch dazu akzentfrei. Es war ein sehr schön anzusehender Fuchs, mit rotbraun glänzendem Fell, spitzen langen Ohren und einen buschigen Schwanz, der elegant um den schmalen Fuchskörper herumschlingerte. Der Fuchs trapste zum einzigen Stuhl, der sich in meiner Stube befand - ein einfacher Stuhl aus hellem Holz - und schwang sich mit einem Satz darauf. Dann besah er mich mit seinen dunklen wachsamen Augen.
"Guten Abend habe ich gesagt", bemerkte der Fuchs. "Erwidern Menschen einen höflichen Gruß nicht mehr?"
"Verzeihen Sie, Herr Fuchs. Ich war für den Moment nur sehr erstaunt. Sie müssen wissen, einen sprechenden Fuchs trifft man nicht alle Tage. - Auch ich wünsche einen schönen Abend." Ich hielt es für ratsam, bei der Anrede ‚Herr Fuchs' zu bleiben. Hätte der Liebe Gott gewollt, dass ich ihn mit ‚Lieber Gott' tituliere, hätte er sich sicher nicht in einen Fuchs verwandelt.
"Darf ich mich vorstellen?" fragte ich schüchtern. "Ich heiße ..."
Da unterbrach mich der Fuchs: "Ich weiß, wer du bist. Ich bin nicht gekommen, weil ich dich kennen lernen möchte. Ich bin gekommen, eben, weil ich dich kenne!"
"Sie kennen mich? - Natürlich kennen Sie mich! Doch sagen Sie, was kann ich für Sie tun?"
Darauf schüttelte der Fuchs nur seinen spitzen Kopf. "Frage lieber, was ich für dich tun kann. Es ist nämlich so, dass ich hin und wieder - wenn mir danach ist - bei Menschen vorbeischaue, die ich gut leiden kann, und ihnen eine Frage beantworte. Denn ihr Menschen seid voller Fragen, deren Antworten sich weit hinter der Ergründbarkeit befinden."
"Du willst mir eine Frage beantworten?" wiederholte ich überrascht. "Ich fühle mich sehr geehrt, lieber Herr Fuchs. Aber mich beschäftigt zurzeit nur wenig. Welche Frage sollte ich da stellen?"
"Ist das schon deine Frage?" Der Fuchs blinzelte mich listig an.
"NEIN, NEIN!" versicherte ich. "Es ist nur schwer den erloschenen Wissensdrang hurtig anzuheizen, wenn man auf so etwas nicht vorbereitet ist."
"Überlege, welches Arkanum du zu entschlüsseln begehrst."
Ich machte ein angestrengtes Gesicht. Eine Frage, eine Frage! Ich musste mir rasch etwas überlegen, denn eine solche Gelegenheit ergibt sich sicher nicht so schnell wieder. Eine Frage ... JA! Das ist es!
"Ich hab's!" rief ich überglücklich.
Da prustete der Fuchs erleichtert aus. "Na also! Ich hatte schon befürchtet, du wärst der erste Mensch, dem nichts auf der Seele liegen würde."
"Tut mir Leid, dass es ein wenig gedauert hat. Aber nun! Hier meine Frage: Ich möchte wissen, was sich jenseits des Universums befindet! Wartet dort ein unvorstellbarer, gigantischer Ozean, in dem unser Kosmos wie eine Luftblase schwebt, oder gleicht er eher einem im Wind dahintreibenden Blatt, herabgefallen vom großen Baum des Lebens?"
Da weiteten sich die Augen des Fuchses und er verzog sein Maul. "Oje!" klagte der Fuchs. "Ausgerechnet das willst du wissen?"
"Was ist? Können Sie mir die Frage etwa nicht beantworten?"
Der Fuchs wiegte zögerlich sein Haupt. "Doch! Ich kann dir eine Antwort geben, aber ich bin mir nicht sicher, ob du sie wirklich hören solltest. Denn wisse: Manche Geheimnisse dringen besser nicht der Menschen Ohren. Wenn ich dir sage, was du wissen willst, wird sich dein Weltbild und Verstand völlig verändern. - Denke dir lieber eine andere Frage aus."
Ich aber blieb stur. "Nein! Jetzt haben Sie mich erst recht neugierig gemacht. Keine Sorge! Ich verkrafte die Wahrheit schon."
Da seufzte der Fuchs, aber er meinte: "Wie du möchtest. Trotzdem wäre mir lieber gewesen, du hättest um eine andere Erkenntnis gebeten."
Ich wollte schon meine Frage umformulieren, denn der beunruhigte Ton, der in seinen Worten mitschwang, jagte mir erheblichen Schrecken ein. Zu spät! Ehe ich wusste was geschah, verwischte die Stube vor meinen Augen, als würde sie ein nasser Mopp von meinem Sichtfeld putzen.
"Allerdings kann ich die Antwort nicht in Worte fassen", hörte ich den Fuchs noch aus der Ferne. "Ich werde es dir zeigen müssen. - Aber vergiss nicht: Ich habe dich gewarnt!" Seine Stimme wurde leiser und leiser, verlor sich zu einem Wispern, bis sie im Nirgendwo verstummte.
Im selben Augenblick befand ich mich schon inmitten der allumfassenden Weiten. Mein Geist hatte sich von der Erde gelöst und schwebte an den Planeten unseres Sonnensystems vorbei. Ich bestaunte die riesigen Schluchten des Mars, ich schlitterte über Saturns Ringe und ließ mich von Jupiters orkangestaltetem Auge dabei beobachten, wie ich tiefer in den stillen Raum vordrang.
Es war ein erhebendes und beglückendes Gefühl, so schwerelos durchs All zu schweben. Mir kam es vor, als hätte ich mein menschliches Dasein hinter mir gelassen. Ich sah an mir herab und bemerkte, dass sich mein Leib aufgelöst hatte, zugleich schien mein Geist ins Unermessliche zu wachsen. Ein brennender roter Hypergigant, tausendfach größer als unsere Sonne, sah in meinen galaktischen Augen nur einem Kerzenflämmchen gleich.
Planetare Nebel, dereinst aus sterbenden Sternen entstanden und über viele Lichtjahre gedehnt, erschienen mir, wie feine bunte Seidenwolken in denen ein Gewittersturm tobte.
Ich wuchs und wuchs und verabschiedete mich von unserer Milchstraße, deren Spiralarme mich für einen kurzen Augenblick verzweifelt zu halten versuchten. Ich entschlüpfte den mächtigen Tentakeln, gebildet aus Sternen, Gasen und Staub, und schon bald war es mir möglich über ganze Galaxien hinwegzublicken, die wie schillernde Blumen durch die schwarze Schwerelosigkeit trieben. Auch die Galaxien schienen zu schrumpfen, bis sie nur noch einem entfernten Feuerwerk gleich sahen, und meine Blicke drangen weiter in die Tiefen vor. Ich hoffte das Zentrum des Kosmos zu sehen. Hell und strahlend! Leuchtend in tausend mir unbekannten Farben, so stellte ich es mir vor. Doch da war nichts! Stattdessen verschwammen Galaxien und Galaxienhaufen zu feinen, hellen Strängen, verschmolzen zu einem weißlichen Fluss, vereinten sich zu den Adern des Universums.
Plötzlich geschah es! Schnell und unerwartet! Etwas zerrte an mir, riss mich mit unglaublicher Geschwindigkeit in die Höhe. Gleißendes Licht blitzte durch die Dunkelheit des Raumes und brannte meinen geisterhaften Augen. Das All begann sich um mich herum zu drehen. Schwindel und Übelkeit befielen mich. Für den Sekundenbruchteil, in dem es blitzte, erkannte ich mit verschwommenem Blick, wie gigantische, unruhig zitternde Atomkerne an mir vorüberzogen. Die Grenze zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos zersplitterte in interdimensionale Scherben und katapultierte die Urmassen wie Kanonenkugeln in unsere Welt. Ich versuchte zu schreien ...
Dann! - Alles vorbei. Als mein Sichtfeld sich klärte, stand ich wieder in meinem Zimmer. Ich erkannte mein Bett mit dem vergitterten Gestell und meinen Stuhl, auf dem das scheinbar allwissende Wesen in Gestalt eines Fuchses Platz genommen hatte, und an der oberen Ecke lauerte immer noch die Spinne in ihrem Netz. Ich rang mit meiner Enttäuschung. Alles beim Alten! Alles? ...Was? ... Nein!
Ich suchte meine Hände, versuchte an mir herabzublicken. NEIN! Mein Körper! Er war nach wie vor verschwunden. ‚Aber, wenn mein Körper noch auf der Erde ist ... dann ... dann ist hier nicht mein Heim!', dachte ich mit panischem Entsetzen. Aber eine innere Stimme verriet mir die schreckliche Wahrheit: ‚Falsch! Dies ist der Ort, den du dein Zuhause nennst. Dies ist der Raum, in dem du unzählige schlaflose Nächte verbracht hast. - Derselbe Raum! Dein Raum!'
Während mein Instinkt mir dieses Faktum anvertraute, konzentrierte ich mich auf das Netz der Spinne. Bei näherer Betrachtung schien es zu glühen. Ich schwebte heran und erkannte mit einem Blick, so scharf, dass ich einzelne Moleküle hätte zählen können, winzige Sonnen in miliaren Galaxien, eingesponnen in kosmisches Gewebe. ‚Unmöglich! Das kann nicht sein! Das widerspricht allen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen! Niemals!'
Mein Leugnen half mir nicht weiter. Ich musste mich mit der Tatsache vertraut machen, dass ich mich außerhalb des Universums befand, jenseits allen Vorstellbaren, in einem gewaltigen Gigaraum, dessen Größe mit menschlichen Masseinheiten nicht mehr zu berechnen war. Mein Zimmer, dieses Staubkorn im Universum, beherbergte das Universum zugleich, so als hätte es sich selbst verschlungen. Ich schauderte.
‚Unsinn! Der Kosmos ist nach jüngsten Schätzungen fünfzehn Milliarden Jahre alt. Dieses Netz aber ist erst vor wenigen Wochen entstanden. - Moment! Was ergibt ‚wenige Wochen' nach kosmischer Zeit? Kann es nicht sein, dass, außerhalb des Universums, Äonen wie Tage verstreichen?'
Meine Gedanken rasten und verstrickten sich im Labyrinth wirrer Theorien: ‚Wollte ich das Netz zerstören, hätte ich dies in einem winzigen Augenblick vollbracht. Doch welche Zeitspanne würde vergehen, bis die Auswirkung meines Handels innerhalb des Kosmos zu spüren wäre? Gleite ich in mein Zimmer auf der Erde zurück und verwüste dort das Netz, müsste das, über kurz oder lang, eine Auswirkung auf den Kosmos haben. Schließlich ist der Kosmos das Netz! Zugleich würde ich auch den Gigaraum vernichten, da sich mein Zimmer, also der Gigaraum selbst, innerhalb des Kosmos befindet ... aber der Gigaraum existiert doch ... doch ... außerhalb des Kosmos ... und kann somit nicht ... und die Spinne? ... Ein kleines Insekt unser aller Mutter und sich dessen nicht einmal bewusst? ...'
Der Fuchs hatte mich zu Recht gemahnt. Manches Wissen sollte den Menschen verschlossen bleiben. Meine Gedanken entglitten. Vor meinen Augen tanzten schwarze Flecken, bis mich eine erlösende Ohnmacht umfing.
Als ich das Bewusstsein wieder erlangte, bemerkte ich, wie ich auf einen Stuhl kauerte. Mein Geist war in meinen steifen, schmerzenden Körper zurückgeglitten. Allerdings befand ich mich nicht mehr in dem Zimmer, von dem aus ich die sonderbare Reise angetreten hatte. Kaltes, künstliches Licht strömte von der Decke. Die Wände waren mit weißen Fliesen übersät, der Boden machte einen keimfrei sauberen Eindruck. Ich vernahm Stimmen.
Jemand unterhielt sich über mich.
"... Verfassung ihres Bruders sehr Besorgnis erregend. Seine Wahnvorstellungen gewinnen in letzter Zeit die Oberhand."
"Wie lange befindet er sich schon in diesem desolaten Zustand, Doktor Müller?"
"In der Nacht auf letzten Dienstag hat es angefangen."
Jetzt schlenderten die beiden in mein Sichtfeld. Sie blieben vor mir stehen und betrachteten mich mit mitleidvollen, besorgten Mienen.
"Er isst, schläft, wandelt herum, aber trotzdem scheint es, als wäre er an einem fremden Ort. Ich glaube nicht, dass er Sie erkennt."
Doktor Müller hatte unrecht. Ich erkannte meinen Bruder Richard. Aber wer, bei allen Heiligen, ist Doktor Müller?
"Glauben Sie, er wird wieder gesund?" fragte Richard bedrückt.
"Schwer zu sagen. Wir müssen noch die letzten Untersuchungsergebnisse abwarten."
Was sprachen die Zwei für Unsinn? Glaubten sie etwa ich wäre verrückt? Oh nein! Ich war nicht verrückt! Noch nie hatte ich eine klarere Vorstellung von dem, was uns umgibt.
‚Aber! Wenn sie doch recht hatten? Ist der Gigaraum nur meinem Irrsinn entsprungen? Oder hat mich die Erkenntnis über den Gigaraum irrsinnig gemacht?' Es gab nur eine Möglichkeit das herauszufinden. Ich musste auf mein Zimmer zurück. Ich musste das verdammte Netz herunterreißen. ‚Dann werde ich warten', sagte ich mir. ‚Ich will warten und sehen, was passiert."

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