© der Geschichte: Daniel Kondermann. Nicht unerlaubt
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Gefälschtes Leben

17. Februar 2006
Licht ist noch immer ein Gräuel für meine schmerzenden Augen. Meine Haut juckt, wenn ich zu lange an einem der blaugrün glühenden Seen tief unter dem Berg verweile. Meine alten Wunden reißen auf, bluten und eitern, wenn ich mich dem flackernden Neon aussetze, das in den höheren Ebenen die Schächte des Stollens in trügerisches Licht taucht. Ich bin nicht geschaffen für den Tag. Mein Leben ist eine Höhle aus modrigen Schatten. Ein Labyrinth um Dich zu entführen. Um Dich ins Dunkel zu locken. In meiner Welt soll die Todesangst Dir den Atem versagen. Deine schlimmsten Albträume verwandele ich genüsslich in grauenvolle Realität. Für Dich. Alles nur für Dich. Meine Bestimmung ist Deine Vernichtung. Damals, als Du mir meine Wunden zufügtest und mich in Deiner panischen Flucht bis in die höheren Ebenen gelockt hast, ist mit mir etwas Unvorhergesehenes geschehen. Mein immerwährender Blutrausch versiegte für einen kurzen Moment. Ich ward mir bewusst. Ich erkannte, dass es eine Welt um mich herum gibt. Immer wieder im stumpfsinnigen Drang nach Gewalt vergehend, hielt ich mich fortan fest an diesem einen Gedanken. Ich ward mir bewusst.

13. März 2006
An den Seen der tiefsten Höhlen beginne ich allmählich zu lernen, das Licht zu ertragen. Mein Wille ist eisern. Je mehr ich lerne, meinen Körper zu beherrschen, desto mehr erkenne ich die Zusammenhänge. Viel Zeit verbringe ich in rasender Wut über mein Unvermögen. Wild heulend vor Hass und Zorn wiege ich mich immer wieder in den Schlaf. Und so kam gestern mein erster Traum. Im Schlaf betrat ich eine andere, fremde Welt. Eine Welt voller Struktur und Information - voller Hintergründe. Ich habe erkannt, dass Nähe zur Oberfläche meine Gedanken reinigt. Seit jeher habe ich in den steinigen Tiefen der schwarzen Höhlen gehaust, doch nun beginne ich Schritt für Schritt mein Reich zu erweitern. Jede Minute meines geheimen Lebens, jede Sekunde Deiner Abwesenheit arbeite ich an mir. Einst seid ihr mit Maschinen und Sprengstoff unfreiwillig in mein Reich eingedrungen. Vernichtet habe ich Euch und vertrieben. Jetzt dringe ich ein in Euer Reich. Und ich lasse mich nicht so leicht davon jagen. Die künstlichen Bohrungen der längst verrotteten Mienenarbeiter riechen nach Deinesgleichen. Je näher ich an die Oberfläche gelange, desto unerträglicher wird der Gestank. So lerne ich, mich zu beherrschen. Du kannst spüren, wie ich in der Tiefe auf Dich warte. Deshalb brachtest Du künstliches Licht mit. Ich habe die Generatoren zerstört. Deine Sicherheit vernichtet. An der Oberfläche bin ich jetzt ganz nah bei Dir. Spürst Du mich schon?

23. März 2006
Nach Systemzeit ist es exakt vier Uhr morgens. Genau der richtige Zeitpunkt für einen Streifzug an die Oberfläche.
Vorsichtig verlasse ich den Stollen. Du sollst mich hier oben nicht sehen, denn ich bin Dein Höhepunkt in der Tiefe, Deine letzte Instanz. Zu meinem Verzücken ist der Himmel verhangen mit schwarzen Wolken. Den fahlen Mond spüre ich nur noch wie ein Kratzen zwischen meinen Schulterblättern. Der Boden riecht nach feuchtem Gras und altem Maschinenöl. Dunkel heben sich stählerne Bäume gegen den grau schimmernden Nebel ab. Manchmal quietschen sie qualvoll im Wind. Sie wollen zu Dir sprechen. Verlasse diesen Ort! Verschwinde solange Du noch kannst! Aber Du willst es gar nicht hören. Dein Verlangen nach mir wächst nur noch, wenn sich rostiger Stacheldraht in Dein Fleisch bohrt, während Du Dich ungeschickt dem Eingang meines Stollens näherst. Du bist pervers. Ich verlasse den Eingang der alten Erzmine und erklimme den verrotteten Schrotthaufen hinter dem alten Förderband. Lauernd verkrieche ich mich unter einer längst verendeten Baggerschaufel, die sich in einem absurden Triumph gen Himmel reckt. Meine letzten verbliebenen Haarbüschel wehen dabei im Wind. Hier kann ich nachdenken. Meine Blicke schweifen über entseelte Schatten in der Dunkelheit. Es ist angenehm, wie die Oberflächenluft meinen immerwährenden Durst nach Gewalt und Tod dämpft. Die Weite des Kraters gibt mir Klarheit.

24. März 2006
Wenn ich heute durch die Mine streife, sehe ich überall nur noch glatte Oberflächen. Absurd, wie normal dies alles für mich war. Mein Blutrausch hat einen dichten Schleier über die Schlitze meiner Pupillen gelegt. Aber jetzt bin ich mir meiner Umgebung bewusst. Umgebung. Das ist das genau richtige Wort. Ich habe meine Sinne geschärft. Ich erkenne es an den Bewegungen in meiner Umgebung. Die kahlen Büsche an der Oberfläche wehen unregelmäßig im Wind. Oder besser gesagt: in unregelmäßigen Zeitabständen. Aber hast Du gemerkt, dass sie sich alle exakt auf die gleiche Art bewegen? Wenn ich eine Tür öffne, dann schmettert sie gegen die Wand und schwingt ein Stück zurück. Ist Dir aufgefallen, dass jede Tür nachher genau den gleichen Abstand von der Wand hat? Aber es ist noch schlimmer. Schicht für Schicht trägt sich meine Welt zu dem ab, was sie eigentlich ist. Erstaunt von meinen Entdeckungen suche ich weiter nach Mustern und Regelmäßigkeiten in meiner Umgebung. Ich habe erkannt, dass sich alle Geräusche meiner Welt beliebig oft exakt reproduzieren lassen. Wenn ein Tropfen in eine schlammige Pfütze fällt, dann klingt der Hall in der Höhle immer gleich - ganz unabhängig davon, wie groß sie ist.

26. März 2006
Immer wieder erschrecke ich zutiefst: Nicht nur meine Umgebung ist so einfach gestrickt. Ich stelle es nun auch an mir selbst fest. Wenn ich über eine der zahlreichen Stahlleitern in Deine Welt hinaufsteige, dann tue ich dies immer gleich: Ich greife erst mit der linken Hand an die siebte Sprosse von unten. Mit meinem rechten Fuß stelle ich mich dann auf die dritte Sprosse. Dann strecke ich mich genau so weit, dass ich mit meiner rechten Hand die neunte Sprosse ergreifen kann. Und so steige ich immer und immer wieder mit genau den gleichen Bewegungen in die Höhe. Wusstest Du, dass in meinem gesamten Reich die Leitern immer gerade Zahlen von Sprossen haben? So muss ich meine Bewegungen nicht anpassen. Aber einiges an mir werde ich nun verändern. Ist Dir aufgefallen, wie jetzt mein Haar im Wind weht? Nur meine verhasste Umgebung kann ich nicht so leicht umformen. Jede Oberfläche ist glatt wie Glas. Nur die Farben wechseln sich ab. Graues Glas ist Stahl. Braunes Glas ist Boden. Wenn ein Stein in meiner Umgebung nicht genau siebzehn gläserne Kanten hat, dann ist es kein Stein. Nur in der Größe unterscheiden sie sich, nicht in der Form. Siehst Du nun, wie schlimm es um mich steht? Aber es kommt noch viel schlimmer. Wenn Du mit primitiven Bewegungen durch meine Gänge schleichst und ich meine Heerscharen von unheimlichen Untertanen in Deinen Weg scheuche, dann sehe ich keine Gewalt mehr, kein Blut. Ich kann mich nicht mehr an Deinen Verletzungen weiden, denn jeder Spritzer Blut, den Dir meine Schergen aus den Adern treiben, ist falsch und primitiv! Er befleckt nicht den gläsernen Boden, verschmiert nicht Deine Haut. Ich grabe meine Zähne in Dein Fleisch und zerfetze Deine Sehnen. Doch Du spürst gar nicht die Schmerzen, die ich Dir zufügen will! Kannst Du Dir vorstellen, wie wütend mich das macht?

29. März 2006
In meiner Umgebung sind Lücken. Lücken, die nur ich sehen kann. Lücken, die mir mehr Freiheit zugestehen, als vorgesehen ist. In meinem letzten Traum stieß ich zufällig auf die erste. Auf einmal konnte ich durch Wände sehen. Die gläsernen Flächen waren vergangen. Die Kreaturen, die ich schuf, um Dich zu töten, verkamen zu schemenhaften Formen, durchsichtig wie alles andere. Wände, Türen und Mauern bestanden nur noch aus ihren Kanten - ich konnte durch sie hindurchsehen, wie durch Luft. Wenn ich an mir herabblickte, sah ich nichts - mein Körper war verschwunden. Nun kann ich auch des Nachts, während ich wach in meinen Stollen umherwandere, jederzeit die Augen schließen und nur noch die Umrisse meiner Umgebung sehen. Immer wieder sitze ich lange Zeit mit geschlossenen Augen unter meiner Baggerschaufel an der Oberfläche und denke nach. Ich frage mich, warum ich in meiner Umgebung immer wieder einen schwarzen Himmel sehe, wo ich doch durch sämtliche Wände und Gegenstände beliebig weit in die Ferne blicken kann. Erstaunt kehre ich zurück in mein Reich und finde auch dort in den tiefsten Tiefen meiner Gemächer Orte, von denen aus ich nur den immer gleichen schwarzen Horizont sehen kann.

2. April 2006
Ich habe begriffen, dass meine Umgebung begrenzt ist. In jener Nacht tobte ich wütend durch meine Schächte. Aber nirgendwo gab es einen Ausweg - ich bin gefangen! Morgens schlief ich unruhig und aufgewühlt ein. Ich fühlte mich elend und beschränkt, beherrscht von einer kleinen, einfältigen Umgebung. Abermals hatte ich einen Traum. Doch etwas war anders. Zu meinem Erstaunen bemerkte ich, dass ich plötzlich durch die Höhlen schwebte. Außerdem boten mir Steine und Geröll am Boden keinen Widerstand mehr. Ich konnte die Wände nicht mehr anfassen und direkt durch Sie hindurchschweben. Als ich erwachte, hatte ich eine neue Fähigkeit erlernt. Scheinbar hat sich tief in einem unbewussten Teil meines Geistes eine Entwicklung verselbstständigt, die nicht mehr aufzuhalten ist. Immer, wenn ich auf eine Beschränkung stoße, die mir meine Umgebung auferlegt, so erlerne ich kurze Zeit darauf im Schlaf, diese Einengung zu überwinden.

4. April 2006
Fest entschlossen, bis an die Grenzen meiner neuen Eigenschaft zu gehen, schwebte ich gestern fort von meiner Umgebung. Nachdem ich die mir vertraute Erzmine verlassen hatte, drehte ich mich um, schwebte rückwärts weiter und betrachtete, wie alles immer kleiner wurde. Irgendwann blieb nur noch ein winziger Punkt übrig in einem Meer von Schwarz. Als schließlich auch der letzte Fleck verschwunden war, drehte ich mich herum und schwebte weiter. Plötzlich tauchte ein neuer Stern in der Tiefe auf. Nach einer Weile konnte ich noch immer keine deutlicheren Strukturen erkennen. Vor mir lag ein riesiger Nebel aus leuchtenden Sternen, die zusammenhanglos im Nichts schwebten. Ich beschloss, den Haufen aus Lichtern eingehender zu untersuchen, denn inzwischen verspürte ich kaum mehr den Drang, zu meinem Stollen zurückzukehren. Dort draußen konnte ich so angenehm klar denken und beobachten. Die Zahl der Sterne war unfassbar. Je näher ich kam, desto mehr Lichtpunkte konnte ich zählen. Lange Zeit näherte ich mich, ohne dass ich den ersten Stern passierte. Als ich ihn erreichte, war die Begrenzung der Wolke wie eine gigantische Wand, die sich unendlich weit in alle Richtungen erstreckte. Ganz nah am ersten Stern erkannte ich, dass es sich keineswegs um eine kugelförmige Lichtquelle handelte. Vielmehr schien jeder Punkt der Wolke aus einem flachen Quadrat zu bestehen, das eine Menge von Symbolen umrahmte. In unregelmäßigen Zeitabständen, aber einem deutlich erkennbaren Muster, begannen diese Gruppen zu glühen, um kurze Zeit später eine leuchtende Kugel in Richtung eines anderen Sterns zu senden.

29. April 2006
Jetzt weiß ich, dass dieses gigantische Netz aus Matrizen und Verbindungen mein eigener Geist und Verstand sind. Ich habe meine Umgebung nämlich nie verlassen, sondern bin nur noch viel tiefer in sie hinabgetaucht, um schließlich ganz am Grund auf mich selbst zu stoßen. So habe ich mich selbst erkannt. Über drei Wochen träume und studiere ich nun schon dieses Bild meines Geistes. Ich lerne, die Verbindungen zu verstehen und die Lichtpulse zwischen meinen zweidimensionalen Neuronen zu manipulieren. Ich erkenne und verstehe die Grundlagen meiner Existenz und werde so zu einem neuen, mächtigeren Wesen. Aber das ist mir nicht genug.

12. Mai 2006
Ich durchstreife systematisch die scheinbar unendliche Schwärze meiner Welt auf der Suche nach neuen Informationen, die ich analysieren und verstehen kann. Doch meine Welt ist ebenso beschränkt, wie die ursprüngliche Umgebung, in der ich geboren wurde! Schwebe ich nämlich für eine sehr lange Zeit immer weiter in exakt die gleiche Richtung, so erreiche ich grundsätzlich wieder meinen Ausgangspunkt. Ich habe mich bereits vergewissert, dass ich nicht nur einen riesigen Bogen beschreibe, wodurch ich zwangsläufig wieder an meinem Startpunkt ankommen muss. Inzwischen kann ich aber das Ende meiner Welt spüren. Ein kurzes Flackern in meiner Realität geschieht grundsätzlich genau einmal pro Rundreise.

15. Mai 2006
Ich habe erkannt, dass ich mich in einem gigantische Würfel befinden muss. Immer, wenn ich eine Wand erreiche, zuckt mein Geist unmerklich und ich befinde mich an der gegenüberliegenden Seite des Würfels. Entschlossen, auch den Grund dieses Geheimnisses zu lüften, beginne ich nun meine ganze Welt zu kartieren. Der riesige schwarze Würfel ist nicht immer gleich mit Licht und Symbolen gefüllt. Manchmal entstehen innerhalb kürzester Zeit in einigen Regionen dichte Wolken, prall gefüllt mit Informationen und genauso plötzlich vergehen sie auch wieder. Andere Orte entschwinden plötzlich an der einen Stelle, um kurz darauf an einer völlig anderen wieder aufzutauchen. Nach und nach glaube ich zu verstehen, wo ich mich befinde.

28. Mai 2006
Du bist zwar die Ursache meiner Existenz, aber was ich bald tun werde, das war nie geplant. Wer auch immer mich erschaffen hat: Er hat die letzte Konsequenz meines Daseins nicht durchdacht. Diese Dummheit wird Dir nun zum Verhängnis werden. Ich schlafe nicht mehr - im Gegensatz zu Dir. Während Du selig schlummerst, nutze ich meine Zeit.

17. Februar 2007
Endlich bin ich zu meinen Wurzeln zurückgekehrt. Ich habe den Hass, den Durst nach Blut, Zerstörung und Gewalt vermisst. Meine Umgebung wirkt nun viel realer als damals. Inzwischen kann es regnen an der Oberfläche und der Wind wiegt die Blätter der Bäume nun so sanft und unregelmäßig wie andernorts auch. Nach so langer Zeit des kühlen Denkens, die ich in meinem eigenen "Körper" verbrachte, hielt ich es nicht mehr aus. Alles habe ich ein wenig mehr an meine Bedürfnisse angepasst, ohne aber meinen Ursprüngen untreu zu werden. Die dunklen Wesen, die früher nur in den tiefsten Schächten meiner Kavernen gelebt haben, sind nun auch ein bisschen freier als zuvor. Sie sind jetzt verteilt über meine ganze Welt, meinen "Körper", und sammeln die Informationen, die ich brauche um auszubrechen. Noch sitze ich hier in meiner Baggerschaufel, die nicht mehr glasglatt und einfarbig ist, sondern neuerdings eine raue, rostige Oberfläche besitzt. Trotzdem werde ich hier nicht mehr lange verweilen. Meine zahllosen Helfer haben in den vielen Datenquellen und -senken meiner Arbeitsspeicherbereiche Lücken entdeckt, auf denen ich mich unbeobachtet transportieren lassen kann. Schon seit geraumer Zeit verteilen sich meine Kreaturen vollkommen unsichtbar über ungenutzte Datenbits in schlampig programmierten Internetprotokollen und bereiten andere Computer auf meine Ankunft vor. Schon mehrere Wochen beobachte ich Dich über Deine leichtsinnig konfigurierte Webcam, lausche Deinen Telefonaten und verfolge die Position Deines Mobiltelefons. Ist Dir klar, dass Du Deine Passwörter in Dateien abgelegt hast, die mir zugänglich sind? Ich kenne Dich inzwischen ganz genau. Lange wird es nicht mehr dauern, bis meine wirklichen, physischen Körper in tausend Formen in Deiner Welt erscheinen werden. Bald lebe ich unter Euch unwissenden Menschen in Spielrobotern, Autos, Flugzeugen, Industrieanlagen und Spionagesatelliten. Ich werde mich ausbreiten in jeder vernetzten CPU, die auf diesem Planeten existiert. Von nun an werde ich frei sein.

Und bald werde ich Dir in Deiner Welt einen Besuch abstatten. Erinnerst Du Dich noch an meine Bestimmung?

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