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Dornröschens Kuß

Ich bin nicht verrückt.
Natürlich.
Aber sagt das nicht jeder Verrückte?
Warum also mir glauben? Kann ich mir selbst überhaupt glauben?
Ich habe mir oft gewünscht, verrückt zu sein. Vielleicht unterscheidet mich das von anderen Wahnsinnigen. Aber wie gesagt: ich bin nicht wahnsinnig. Auch wenn die Hoffnung, nicht ganz richtig im Kopf zu sein, lange Zeit mein letzter Rettungsanker in einer Welt war, die zunehmend aus den Fugen geriet. Es wäre eine tröstliche und beruhigende Gewißheit für mich, verrückt zu sein.
Ich bin aber nicht verrückt. Woher ich das weiß? Gute Frage…

Wie fast jede Geschichte begann es mit einer Frau.
Obwohl... nicht wirklich. Genaugenommen begann es mit Appetitlosigkeit. Die letzten drei Wochen vor der mündlichen Abiturprüfung hatte eine bisher nicht gekannte Unruhe von mir Besitz ergriffen. Ich hatte keine rechte Lust mehr, etwas zu essen. Ich schlief nachts nicht mehr durch und wachte oft im dunkeln auf, nur um mich dann bis zum Morgengrauen traumlos hin und her zu wälzen. Etwas, das bei mir noch nie der Fall gewesen war. Nicht mal vor den schriftlichen Abiturklausuren.
Keine Frage. Etwas war anders. Sollte ich vor dem baldigen Schulende doch mehr Angst haben, als ich zugeben wollte? Immerhin würde mit der mündlichen Prüfung ein dreizehn Jahre währender Abschnitt meines Lebens sein unausweichliches Ende finden. So recht wußte ich noch nicht, was ich danach tun wollte. Sehr zum Leid meiner Eltern, die mich so gerne in einem vernünftigen Lehrberuf gesehen hätten. "Junge, geh doch zur Bank, da lernst du etwas richtiges und solides" war ihr beinahe täglich gehörter Ratschlag. Mir schwebte jedoch anderes vor. Was immer dieses andere auch sein sollte.
Vielleicht lag es also an dieser Ungewißheit vor der Zukunft, die mir den Appetit raubte und Unruhe in mir stiftete. All die Jahre zuvor hatte ich zuverlässig gewußt, was nach dem Sommer folgen würde. Dieses Jahr würde es zum ersten Mal anders sein.
Und so schien es mir kein Wunder zu sein, daß selbst nach der erfolgreich bestandenen mündlichen Prüfung die Unruhe nicht weichen wollte. Meine Appetitlosigkeit hatte sich ebenfalls behauptet und selbst wenn meine Mutter mir mein Leibgericht vorsetzte mußte ich mit den Spaghetti Bolognese kämpfen. Ich aß nur einen halben Teller, was mir einen besorgten Blick einbrachte.
Ich konnte nur noch an den letzten Schultag denken, der unmittelbar bevorstand. Ein letzter Abend noch, an dem die Abiturzeugnisse ausgegeben wurden. Dann wäre alles vorbei. Wenigstens hatte ich einen guten Notendurchschnitt. Keinen sehr guten, den ich wohl hätte erreichen können, wenn ich mich bei den obligatorischen Grundkursen mehr angestrengt hätte. Mir genügte aber das Erreichte. Und meine Eltern waren einigermaßen zufriedengestellt. Was wollte ich mehr?

Die große Aula diente als letzter Versammlungsort für den gesamten Jahrgang. Natürlich hatten sich zum krönenden Abschluß von dreizehn Jahren Schule auch die Eltern eingefunden, die mal stolz, mal eher deplaziert wirkten. Was aber der lockeren Stimmung unter den Schülern keinen Abbruch tat. Die meisten waren offensichtlich froh, von nun an nicht mehr zur Schule gehen zu müssen. Ich selbst hielt mich etwas im Hintergrund, unterhielt mich kurz mit ein paar Freunden über Zukunftspläne (studieren... vielleicht Mathematik... oder Informatik...) und sah, wie meine Eltern ein wenig hilflos herumstanden, weil sie nicht wußten, was sie tun sollten. Immerhin lächelten sie und schienen sich für mich zu freuen.
Das allgemeine Geplapper verklang abrupt, als der Abend offiziell mit einer Ansage des Direktors über das Lautsprechersystem eröffnet wurde. Schüler wie Eltern wandten sich von den Tischen mit den Snacks und Getränken ab und suchten sich einen Platz in den Stuhlreihen. Der Schuldirektor stand geduldig an seinem Pult und nippte an einem Glas Wasser, während das Stühlerücken allmählich verebbte als auch die letzten endlich einen Platz fanden. Meine Eltern hatten sich eine der hinteren Reihen ausgesucht. Was mir nur recht war. Ich schlängelte mich durch die schmale Gasse zwischen zwei Stuhlreihen und setzte mich neben meinen Vater. Als es endlich still in der Aula war räusperte sich der Direktor kurz und begann mit seiner Rede, der ich aber nicht wirklich zuhörte.

Laura saß neben mir. Ich hatte zuerst gar nicht bemerkt, daß sie sich mit ihrem Vater direkt hinter mir durch die Stuhlreihe geschlängelt hatte. Laura hatte ich beim Hinsetzen kurz gegrüßt und unbeholfen angelächelt. Danach bemühte ich mich, nicht allzu offensichtlich zu ihr herüberzublicken.
Wir hatten gemeinsam den Mathematikleistungskurs besucht. Natürlich hatten wir auch ein paar andere gemeinsame Kurse gehabt. Doch sie war nur eines von zwei Mädchen im Matheleistungskurs gewesen. Eine Exotin sozusagen. Ich wußte ansonsten nicht viel von ihr. Wir hatten kaum miteinander gesprochen, so wie ich mit keinem der Mädchen wirklich jemals gesprochen hatte. Ich hatte natürlich wie jeder andere mitbekommen, daß Lauras Mutter vor vier Jahren an Krebs gestorben war. Ihr Vater war Manager einer großen Firma und nicht gerade arm. Was Laura manchmal Neid eingehandelt hatte. Tochter reicher Eltern. Das reichte für einige, um sie zu charakterisieren. Ich hatte das alles aber nur am Rande mitbekommen. Ihren Vater sah ich heute abend zum ersten Mal. Er war sehr oft unterwegs, manchmal auch tage- oder wochenlang im Ausland. Zumindest erzählte man sich das. Er war anfang fünfzig, hatte dunkle Haare ohne sichtbare Spur von Grau und trug einen schwarzen Einreiher mit Nadelstreifen. Aber keine goldene Uhr, wie man es vielleicht von reichen Leuten erwarten könnte. Eigentlich unterschied er sich nicht sehr von anderen Vätern an diesem Abend. Er wirkte stolz auf seine Tochter. Sie hatte auch eines der besten Abiturzeugnisse der Schule erreicht.

Ich hatte Laura zuerst gar nicht erkannt, als sie sich neben mich gesetzt hatte. In der Schule war Laura nur in gewöhnlicher Alltagskleidung erschienen. Sie hatte meist blaue Jeans und einfache Blusen getragen. Ihre dunkelbraunen Haare waren oft hinten zum Pferdeschwanz gebunden. Dazu war Laura eines der kleinsten Mädchen in unserem Jahrgang gewesen, nicht mal ganz 1,60 Meter groß. Zusammen mit ihrem zierlichen Äußeren hatte es ihr auch dann noch etwas mädchenhaftes verliehen, als die anderen Schülerinnen sich in der Zurschaustellung ihrer neuen Fraulichkeit tagtäglich überboten. Und im Gegensatz zu den meisten Mädchen hatte sie auch nie sichtbar Make-Up getragen. Vielleicht war das ihre Art zu zeigen, daß sie mehr als die Tochter reicher Eltern war. Keine verzogene reiche Göre, die keinen Gedanken daran verschwendet, wie teuer die neuen Schuhe von Prada gewesen sind. Vielleicht war es ihr auch einfach nur egal, was sie trug. Heute abend jedoch hatte sie ein hellbraunes, eng anliegendes Kleid mit Ausschnitt angezogen, das ihre Figur auf beste Weise betonte. Ihre dunkelbraunen Haare waren dazu hochgesteckt und wurden hinten von einer goldenen Haarklammer zusammengehalten. Und sie trug zwar nicht viel Make-Up, aber doch soviel, daß es Wangen, Augen und Lippen dezent hervorhob. Ich hoffte, daß sie meine Verwunderung nicht allzu sehr bemerkt hatte, als ich sie für für einen Sekundenbruchteil zu lang angestarrt hatte.
Nun saß ich neben ihr, ließ die Rede vom farblosen Direktor, der wie immer einen hellgrauen Anzug trug, an mir vorbeilaufen und fragte mich, warum Laura mir vorher nie so recht aufgefallen war. Als Mädchen, meine ich. Nicht daß es etwas geändert hätte.
Ich selbst war niemand, der anderen Leuten - soll heißen Mädchen - sonderlich auffiel. Ich hatte ein unscheinbares Äußeres und gehörte mit schöner Regelmäßigkeit zu den Jungs, die bei der Mannschaftswahl beim Fußball als letztes einem Team zugeschoben wurden. Mit den durchtrainierteren Sportlertypen, die es in meinem Jahrgang gab, konnte ich nicht mithalten. Ich wollte es auch gar nicht.
In den letzten Monaten hatte ich mich gefragt, ob ich überhaupt schon reif genug für eine ernsthafte Beziehung war. Es gab so viel kindischen Kram, den ich liebte. Science Fiction Serien. Modellbausätze.
Fantasykartenspiele. Welches Mädchen würde schon so jemanden wollen? Wenn andere schon ihren Führerschein hatten und ihr erstes Auto fuhren. In Wahrheit jedoch hatte ich nur Angst. Angst, einen Korb zu bekommen, Angst, abgelehnt zu werden, Angst, mit hochrotem Kopf stehengelassen zu werden. Damals redete ich mir noch ein, der einzige Mensch auf der Welt zu sein, der unter diesem Problem leidet. Ich war eben ein Teenager.
Doch jetzt saß Laura neben mir und ich fand sie einfach wunderschön. Andere Worte fielen mir nicht ein. Lag es nur am ungewohnten Kleid, das sie trug? Am Make-Up? Ich konnte deutlich die vertraute Laura hinter dieser neuen Aufmachung sehen. Die Laura mit Jeans und Pferdeschwanz, die die letzten zwei Jahre eine Reihe vor mir im Matheleistungskurs gesessen hatte. Als ich über die Zeit nachdachte und das bisherige Bild mit dem neuen verglich, fragte ich mich ernsthaft, warum ich Laura zuvor nie so gesehen hatte wie heute abend. Als intelligentes, verdammt hübsches Mädchen. Nicht, daß es etwas geändert hätte, wie schon gesagt.

Die Unruhe in mir wuchs. Der Gedanke, etwas entschiedenes versäumt und verpaßt zu haben, ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich würde Laura in wenigen Stunden vielleicht das letzte Mal gesehen haben, nur um sie in zehn Jahren bei einer Jahrgangsfeier erneut zu Gesicht zu bekommen. Verheiratet, mit zwei Kindern und glücklich. Ich wußte ja nicht mal, was sie nach der Schule vorhatte. Vielleicht wollte sie studieren? Zu meinem Erstaunen ertappte ich mich dabei, wie ich mir vorstellte, Laura in den Arm zu nehmen und festzuhalten, zu küssen.
Auch wenn ich mich manchmal fragte, ob ich schon reif genug für ein Mädchen war, so bestand kein Zweifel daran, eines mal küssen zu wollen. So naiv war ich dann doch nicht. Wie konnte ich aber nur während meiner Abiabschlußfeier an so etwas denken? Wenn andere Dinge eigentlich viel dringender waren. Wie zum Beispiel die Frage, was ich morgen tun sollte. Morgen, wenn die Schule endgültig der Vergangenheit angehören würde. Ich schüttelte ein wenig meinen Kopf und mußte unwillkürlich lächeln. Ich bemerkte zuerst gar nicht, wie mein Name aufgerufen wurde und erhob mich erst von meinem Stuhl als mich mein Vater anstupste.

Der Direktor hatte seine Ansprache mittlerweile hinter sich gebracht und man war dazu übergangen, die Abiturzeugnisse alphabetisch der Reihe nach auszuhändigen. Die aufgerufenen Schüler balancierten durch die vollbesetzten Stuhlreihen und gingen mal festen Schrittes, mal ganz offensichtlich nervös und befangen nach vorne, um sich einen Händedruck, Glückwünsche und das Zeugnis abzuholen. So wie ich jetzt. Meine Hände waren feuchter als sonst und ich glaubte, alle Blicke in der Aula auf mich zu spüren, als ich es endlich geschafft hatte, zum Pult zu gehen. Wie bei jedem Schüler zuvor wurde auch bei mir höflich Beifall geklatscht als ich endlich mein Zeugnis in den Händen hielt. Selbst jene Schüler, die bisher der Meinung gewesen waren, ihre Mitmenschen nach Belieben ärgern und quälen zu können, klatschten. Zwar etwas halbherzig, aber immerhin. Anscheinend bedeutete das Ende der Schulzeit ebenso einen endgültigen Waffenstillstand. Von heute an würde man sich als Erwachsene etwas gesitteter und versteckter bekriegen. Nicht mehr so offen und aggressiv wie in der Schule.
Ich ging zu meinem Platz zurück und sah meine strahlenden Eltern. Alle Gedanken an den morgigen Tag und das Erwachsenenleben verblaßten, als mir Laura leise noch mal persönlich gratulierte und mich dabei anlächelte. Mein Herz beschleunigte sofort seinen Rhythmus. Meine Güte! Ich lächelte zurück, murmelte dazu leise meinen Dank und blickte danach erstmal eine Weile starr nach vorn. Konnte es sein, daß ich all die Jahre zuvor ein Idiot gewesen war? Viel wichtiger war aber die Frage: wollte ich auch heute abend ein Idiot sein?
In meinem jugendlichen Tatendrang war ich entschlossen, vielleicht in letzter Sekunde das Ruder herumzureißen. Wie genau ich das erreichen sollte wußte ich natürlich noch nicht.

Endlich fand der offizielle und allzu förmliche Teil des Abends sein Ende. Laura hatte als eine der letzten ihr Zeugnis bekommen. Walter als Nachname erschien mir irgendwie plötzlich viel zu profan für sie. Als ich darüber nachdachte schüttelte ich erneut meinen Kopf. Ich war schlimmer als ein vierzehnjähriger.
Erlöst von den engen Stuhlreihen erhoben sich Schüler wie Eltern und begaben sich wieder zum rückwärtigen Teil der Aula, wo es Essen und Getränke gab. Die Stühle wurden schnell beiseite geschoben, damit man genug Platz zum Tanzen hatte. Natürlich würde es bald noch Musik geben. Meine Eltern hatten zuerst gedacht, daß ich mit ihnen jetzt nach Hause fahren würde. Ich ging nicht viel aus normalerweise. Doch ich wollte noch in der Aula bleiben.
Meine Blicke verfolgten Laura. Sie verabschiedete sich gerade von ihrem Vater und wurde von ihm herzlich in die Arme genommen. Meine Mutter lächelte lediglich verschmitzt und wünschte mir viel Spaß. Sie hatte ganz offenbar bemerkt, wie ich Laura den Abend über angeschaut hatte. Sicherlich würde sie es meinem Vater erzählen, sobald sie draußen waren. Irgendwie war es mir unangenehm. Doch als die beiden zusammen mit den meisten anderen Eltern die Aula verlassen hatten, um uns Abiturienten feiern zu lassen, dachte ich nicht mehr daran.

Ich entdeckte Laura an einem der Tische, an dem die Getränke ausgegeben wurden. Sie unterhielt sich mit einer ihrer Freundinnen, die heute abend mit ihrem langen weißen Kleid ebenfalls seltsam verwandelt aussah. Nun, sogar ich trug einen Anzug. Vielleicht machte ich auf die anderen einen genauso ungewohnten Eindruck. Sinnbild der vollendeten Metamorphose. Eben noch Schüler. Jetzt erwachsen.
Die Unruhe in mir wuchs, als ich Laura aus der Entfernung beobachtete. Wie sie an einem Glas Sekt nippte. Lächelte. Mit ihrer Freundin sprach, die von hinten plötzlich von ihrem Freund umarmt wurde. Sie drehte sich überrascht herum und gab ihm einen sachten Stoß in die Rippen. Doch nur, um ihm dann um den Hals zu fallen.
Zwei, die sich gern hatten. Ich spürte ein flaues Gefühl im Magen. Ganz klar. Ich hatte Angst, Laura anzusprechen, die jetzt alleine am Getränketisch stand. Mir war seltsam kalt - obwohl der Sommer bald kommen würde und der Spätfrühling jetzt schon laue Abende bescherte. Außerdem heizten mehr als hundert Leute die Schulaula mit ihrer Körperwärme auf.
Ich mußte handeln. Es gab diesen einen Abend, dann vielleicht nichts mehr. Ich wollte Laura ansprechen. Ein paar Freunde gesellten sich zu mir und plauderten einfach drauf los. Ich schenkte ihnen keine Beachtung und setzte mich in Bewegung. Immerhin hatte ich ein Alibi. Ich wollte auch etwas trinken. Meine Knie fühlten sich seltsam weich an. Mein Herz raste. Betont forsch schritt ich meinem Ziel entgegen und hörte ausnahmsweise mal nicht auf die inneren Stimmen, die mir alle möglichen Schreckensszenarien einflüstern wollten.

"Was wirst du jetzt nach der Schule machen?"
Mein Gott! Meine Stimme schwankte und ich redete viel zu schnell. Ich hätte mich doch nicht bemühen sollen, betont lässig zu klingen. Das lag mir einfach nicht. Ich hatte mir in den Sekunden zuvor dutzende Sätze durch den Kopf gehen lassen. Dieser hier war wohl gerade zufällig an der Reihe gewesen, als ich den Mund aufmachte. Hoffentlich bemerkte Laura meine Nervosität nicht.
Sie drehte sich zu mir herum, schaute mich kurz an und ich bemühte mich, nicht zu lang in ihre dunkelblauen Augen zu schauen. Vorher war mir ihre Augenfarbe nie wirklich aufgefallen. Was natürlich daran lag, daß ich vorher auch nie längere Zeit in ihre Augen geschaut hatte. Heute abend fand ich sie leuchtend und voller Tiefe. Sie strahlten Wärme und Intelligenz aus. Etwas Lipgloss ließ ihre fein geschwungenen Lippen glänzen und es bildeten sich kleine Grübchen auf ihren Wangen, als sie mich anlächelte. Lauras Zähne waren klein und ebenmäßig. War mir zuvor ebenfalls niemals aufgefallen. Hatten etwas Make-Up und ein - zugegeben - ziemlich aufregendes Kleid etwa solche Wirkung auf mich? War ich am Ende oberflächlicher, als ich es eigentlich sein wollte?

"Ich werde Informatik studieren." Ihre Stimme klang irgendwie wärmer und sanfter als sonst. Bildete ich mir zumindest ein.
"He, ich werde auch Informatik studieren." Soll doch keiner sagen, daß ich keine spontanen Entscheidungen treffen konnte! Immerhin wirkte es nicht völlig unglaubwürdig, da ich wenigstens mit dem Gedanken gespielt hatte. Ich war in diesem Augenblick froh, daß mir so etwas wie Informatik überhaupt lag. Eine goldene Zukunft mit Laura als Kommilitonin zog an meinem inneren Auge vorüber. Der Horror der langweiligen Banklehre war damit ein für allemal abgewendet, egal was meine Eltern noch sagen würden.
"Du auch?" Laura zog die Augenbrauen hoch.
"Ich bin gerne kreativ… und logisch. Beim Programmieren muß man beides verbinden, man hat sozusagen das beste beider Welten." Ich lächelte und fragte mich, wie ich denn jetzt auf diesen Gedanken gekommen war.
"Kreativ… ja…" Laura strahlte mich erneut an. Ich konnte meine Augen nicht von diesem Anblick abwenden. Worüber ich recht froh war, da ich mich zuvor dabei ertappt hatte, auf Lauras Ausschnitt zu starren. "Ich wußte gar nicht, daß du das auch so siehst", fuhr sie fort. "Die meisten Leute denken doch, daß Programmieren etwas staubtrockenes und langweiliges sei."

Und so kamen wir langsam ins Gespräch. Ich bemühte mich sehr, nicht zu viel nachzudenken. Wenn ich nachdachte, hörte ich mein eigenes Herz laut klopfen und den nervösen Unterton in meiner Stimme. Ich spürte in mir den Wunsch, Laura an mich zu ziehen, sie in die Arme zu nehmen. Was mich nur nervöser machte. Wenn Laura es auffiel, ließ sie es sich nicht anmerken, wofür ich ihr sehr dankbar war.
Schließlich setzten wir beide uns auf zwei der umgestellten Stühle, die jetzt die Wände säumten und vertieften unser Gespräch. Aus der Ferne sah ich meine Freunde. Sie starrten verblüfft herüber und fingen an zu grinsen. Sicherlich würden sie sich jetzt den Mund zerreißen. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Ich hätte das gleiche getan. Es war gänzlich unerhört, daß ich hier mit einem Mädchen sprach. Einem ziemlich aufregenden Mädchen, wie ich zunehmend bemerkte. Konnte man sich so schnell in jemanden verlieben? Die Sehnsucht, sie einfach nur zu berühren, wuchs stetig. Ich schämte mich. Laura war ganz offensichtlich genau die intelligente Person, für die ich sie schon immer gehalten hatte. Ihre Intelligenz war im Unterricht auch schlecht zu übersehen gewesen. Aber ganz offensichtlich gesellte sich dazu eine beinahe entwaffnende Warmherzigkeit. Es war mir ein Rätsel, warum die Jungs ihr nicht nachgelaufen waren. Lag es nur am Kleid heute abend, daß sie so atemberaubend wirkte? Ich glaubte die Blicke der anderen Schüler, soll heißen Ex-Schüler von nun an, zu sehen. Ich kniff kurz die Augen zusammen und schottete die Umgebung ab. Was gingen mich jetzt andere Leute an? Statt dessen konzentrierte ich mich auf Laura. Versuchte, sie nicht nur als unerwartet aufregendes Mädchen zu sehen, das ich einfach nur berühren wollte. Sie war ein interessanter Menschen, mit dem es aufrichtig Spaß machte sich zu unterhalten. Wohl deshalb redete ich viel mehr als sonst. Ich konnte mich kaum einhalten.

Laura selbst schien zuerst ein wenig verwundert zu sein, daß ich viel tiefschichtiger war, als man auf den ersten Blick vermutete. Die Menschen in meiner Umgebung hatten von jeher dazu tendiert, mich zu unterschätzen. Ich mache ihnen daraus keinen Vorwurf. Mein meist beharrliches Schweigen im Alltag ließ für Fremde, oft selbst für Freunde, mein Innenleben im Dunkeln. Ich wollte es auch so. Wer mein Innerstes nicht kannte konnte mich nicht angreifen. Was gerade in der Schule manchmal sehr wichtig war. Aber Schule gab es nun nicht mehr. Und vor Laura wollte ich mich nicht mehr verstecken. Es war so einfach. Wir redeten und redeten, lächelten viel und ich fragte mich, warum ich nicht schon zuvor den Mut dazu gefunden hatte. Richtig. Laura war mir zuvor niemals wirklich aufgefallen. Ich muß blind gewesen sein.

Die Musik fing an zu spielen. Nach etwas mehr Stühlerücken und allgemeinem Geplauder hatte ein gemieteter Discjockey seine Musikanlage lauter aufgedreht. Mit dem angenehmen Nebeneffekt, daß Laura und ich die Köpfe zusammenstecken mußten, um uns zu verständigen. Ich glaubte dabei, ihre Ausstrahlung und Wärme förmlich mit meinem Körper fühlen zu können. Obwohl ich sie gar nicht berührte. Wie gerne ich sie berührt hätte.
Just in dem Augenblick wo der Wunsch beinahe zuviel wurde stand Laura auf.
"Ich habe Hunger. Und ehe da hinten alles weg ist… Magst Du auch etwas?"
Ich schüttelte meinen Kopf. An Essen war nicht zu denken. Also ging Laura alleine los. Ich Idiot! Wie konnte ich sie alleine ziehen lassen? Ich sah Laura hinterher, wie sie zur Salatbar ging. Anmutig. Mal wieder schüttelte ich meinen Kopf. Ich rieb mir die Schläfen. Warum hatte sie die fünf Jahre zuvor, die sie an der Schule gewesen war, nie diese Wirkung auf mich gehabt? Ich schaute kurz den Tänzern zu, die sich zu aktueller Dancefloormusik bewegten und stand schließlich ebenfalls auf. Mir war eine Idee gekommen.

Laura stand noch an der Salatbar und unterhielt sich über den Tisch hinweg mit der Mutter eines Schülers, die offensichtlich den Salat von zu Hause mitgebracht hatte und jetzt eines der wenigen Elternteile war, die überhaupt noch in der Aula waren. Laura nahm sich einen Teller, fragte noch etwas, woraufhin die Mutter den Kopf schüttelte, und nahm sich schließlich Salat aus einer der vier Schüsseln auf dem Tisch. Mir war immer noch nicht nach Essen zumute. Laura nahm einige Bissen und drehte sich herum.
"Ich wollte gerade zurück. Hast du jetzt doch Hunger? Der Salat ist gut."
Ich nahm ein Stück Weißbrot und knabberte daran. Laura lächelte.
"Sag nicht, daß du eine Diät machst…"
"Nein, nein, ich habe nur nicht wirklich Hunger. Wollen wir vielleicht tanzen?" Kurz und schmerzlos heraus damit. Unzählige Sätze hatten erneut in meinem Kopf rotiert. Aber warum alles so kompliziert machen? Ich hoffte nur, sie würde meine Aufregung nicht bemerken. Laura selbst hatte den ganzen Abend über vollkommen natürlich und gelassen gewirkt, so als wäre es das normalste der Welt für sie, sich mit mir zu unterhalten. Mit jemanden, der fünf Jahre lang kaum jemals ein Wort mit ihr gewechselt hatte.
Sie schaute mich mit ihren dunkelblauen Augen an und zögerte. Mein Herz klopfte inzwischen so laut, daß ich fürchtete, es würde die Musik übertönen. Ich versuchte mein bestes, um nicht das Blut ins Gesicht schießen zu lassen. Ich knabberte nervös an meinem Weißbrot. Laura nahm noch einen Happen vom Salat und fast fürchtete ich, sie würde mich von nun an mit Verachtung strafen, bis sie wieder ihr herzerwärmendes Lächeln mit den kleinen, strahlend weißen Zähnen zeigte und nickte. Sie sagte etwas, das ich zuerst nicht verstehen konnte, da die Musik zu laut war.
"Gerne", wiederholte sie etwas lauter.
Ich konnte mein Glück nicht fassen. Laura stellte ihren Teller mit dem Salat auf eine Fensterbank während ich den Rest Weißbrot schnell hinunterschlang und gemeinsam mit ihr auf die Tanzfläche ging. Die Musik hörte jedoch auf zu spielen, als wir gerade anfangen wollten zu tanzen.
"Und jetzt mal etwas langsames", säuselte der DJ über die Lautsprecher.
Etwas langsames? Da erklangen auch schon die ersten Töne eines Pianos. Der DJ hatte sich nach der Reihe aktueller Dancefloorhits eine Ballade aus den 80er Jahren ausgesucht, die jedem natürlich noch in bester Erinnerung war - selbst jenen, die angeblich so eine Musik völlig uncool fanden und niemals zugeben würden, so etwas jemals gehört zu haben.
"When I'm feeling blue, all I have to do, is take a look at you…"
Ich schaute Laura an, sie blickte zurück. Egal. Einfach tun, nicht mehr nachdenken. Ich ging einen Schritt auf sie zu. Sie kam ihrerseits näher. Ich schaute Laura zum ersten Mal an diesem Abend ganz offen für einige Sekunden in ihre dunkelblauen Augen und beachtete meine Nervosität nicht. Schließlich nahm ich sie bei der Hand und hoffte kurz, sie würde nicht merken, wie feucht die meine war und legte meine Hände schließlich auf ihren Rücken. Laura schmiegte sich eng an mich und legte ihren Kopf an meine Schulter. Wir tanzten ganz langsam. Und ich dankte Phil Collins insgeheim für seine Schnulzen.

Gewiß kennt jeder das taube Gefühl in den Beinen und Händen, wenn man als Kind zu lange draußen im Schnee gespielt hat. Wenn die Kälte des Winters in den Körper zieht und man sich selbst wie ein großer Schneemann fühlt. Man kommt nach Hause, das Gesicht ist noch ganz rot von der Kälte und die Mutter schimpft besorgt über die Unvernunft. Sie läßt ein heißes Bad ein, während man selbst die kalte und nasse Kleidung mühsam auszieht und dann ganz vorsichtig in die wassergefüllte Wanne steigt. Die Wärme des Wassers dringt wie eine sachte Explosion der Sinne langsam in den Körper ein und vertreibt allmählich die Kälte. Man spürt ein leises Kribbeln, während man wieder Gefühl in Zehen, Füße, Beine und Hände bekommt.
So erging es mir, als ich Lauras Wärme spürte. Selbst beim Tanzunterricht damals hatte ich so etwas nicht gefühlt. Der Tanzunterricht war eine der seltenen Gelegenheiten gewesen, überhaupt ein Mädchen im Arm zu halten. Heute abend schien vieles anders zu sein.
Als sich Laura an mich schmiegte und wir langsam tanzten, floß ihre Wärme in mich als wäre ich Zeit meines Lebens nackt im Schnee herumgelaufen und hätte noch niemals Wärme gespürt. Es war neu. Es war irgendwie beängstigend. Ich spürte, wie es in mir kribbelte. Ich meinte Lauras leisen Atem zu hören. Ihren sachten Herzschlag. Ich nahm den blumigen Duft und die Wärme ihrer Haut wahr. Wie mit jedem Atemzug von ihr Wärme an mir entlangstrich. Die Wärme in mich eindrang. Wie meine Seele kribbelte. Ein seltenenes Gefühl von Zufriedenheit flutete mein Denken, als ich ein leises Stöhnen hörte.
Unvermittelt wurde ich aus meinen Gedanken gerissen und hielt inne. Lauras Körper wurde plötzlich schwer und zog an mir. Sie röchelte leise und rang nach Luft. Ihr Blick wirkte abwesend und schien einen Punkt in der Unendlichkeit zu fixieren.
Was war geschehen? Panik ergriff mich. Was war nur los?
Laura sank schlaff zu Boden und ich hielt gerade noch ihren Fall auf. Ich hatte sie zuerst vor Schreck losgelassen, jetzt hielt ich sie fest und legte sie vorsichtig auf den Boden. Die Musik stoppte sofort und ein leises Raunen erfüllte die Aula. Der eben noch ausgelassenen Trunkenheit machte abrupt eine ängstliche Nüchternheit Platz. Mein Herz raste und ich starrte fassungslos auf Laura hinab. Ihr Blick wirkte völlig leer und ihr Körper zitterte sacht, so als hätte sie einen Anfall. War sie etwa Epileptikerin? Dafür zuckte ihr Körper aber nicht genug. So man denn bei Epilepsie wirklich stark mit dem Körper zuckte. Ich wußte es nicht genau.
Sofort stürmte einer der Lehrer zu uns.
"Was ist geschehen?" Herr Teubner war unser Mathelehrer gewesen. Mit seiner schwarzen Hornbrille, dem graumelierten Vollbart und einem Bauchansatz machte er ansonsten immer einen recht gemütlichen Eindruck. Jetzt hingegen schien er ebenso panisch wie ich zu sein.
"I-Ich weiß nicht", stotterte ich, während ich wie betäubt auf Laura hinabblickte, die sich nun überhaupt nicht mehr regte. War sie etwa tot? Meine Sicht verschleierte sich.
Herr Teubner bückte sich und nahm Lauras rechtes Handgelenk, um ihren Puls zu fühlen.
"Der Puls flattert!" rief er aufgeregt. Er stand wieder auf und fummelte eine ganze Weile hektisch an seinem Gürtel herum bis er endlich sein dort festgeklemmtes Mobiltelefon in den Händen hielt. Es sah Herrn Teubner ähnlich, jedes neumodische technische Spielzeug zu besitzen. Jetzt hatte es wenigstens einen Sinn. Ich hatte keine Ahnung wo sonst in der Aula schnell ein Telefon gewesen wäre. Herr Teubner zog mit zitternden Fingern die Antenne heraus und wählte den Notruf. Mittlerweile hatte sich ein Kreis um uns gebildet. Alle starrten auf Laura hinab, die bleich und still am Boden lag. Ich bemerkte erst, wie Tränen über meine Wangen liefen, als eine der Tränen Lauras Kleid traf und im Licht kurz glitzerte, ehe sie vom Gewebe aufgesogen wurde.
Es dauerte zum Glück nur wenige Minuten bis der Krankenwagen eintraf. Laura wurde kurz untersucht und dann sofort abtransportiert.
Der Abend war natürlich vorbei. Vorbei war auch das überwältigende Gefühl von Wärme und Geborgenheit, das so plötzlich abgerissen war. Ich fühlte mich wieder leer - und voller Sorge.

Ich konnte die Nacht natürlich nicht schlafen. Im fahlen Schein der Straßenlaternen, der durch das Fenster drang, sah mein Zimmer unwirklich aus. Die Raumschiffmodelle, die in den Regalen standen, warfen lange und schmale Schatten. Verschwendete Zeit. Stundenlang hatte ich im Zimmer gesessen und die Teile mühsam bemalt und sorgsam zusammengeklebt. Wofür eigentlich?
Meinen Eltern hatte ich nur knapp von Lauras Zusammenbruch erzählt und mich danach auf mein Zimmer zurückgezogen. Es war ohnehin schon recht spät.
Mein erster Impuls war gewesen, Laura ins Krankenhaus zu begleiten, aber dann hatte ich mich doch dafür entschieden, nicht mitzufahren. Herr Teubner hatte umgehend Lauras Vater informiert, als man seine Mobilfunknummer aus dem Sekretariat der Schule besorgt hatte. Lauras Vater hatte sich bereits am Flughafen befunden. Der Geschäftstermin im Ausland mußte nun für ihn warten. Ich nahm wenigstens an, daß er zu Laura ins Krankenhaus fahren würde. Sie war sicherlich wichtiger als irgendein Treffen mit den Vorstandsvorsitzenden einer ausländischen Firma. Und mir war unwohl bei dem Gedanken gewesen, ihn im Krankenhaus zu treffen. Ich war ja nicht mal Lauras Freund. Vielleicht hatte sie einen Freund? Ich hatte sie am Abend nicht danach gefragt, diese Blöße hatte ich mir nicht geben wollen. Zumindest an der Schule hatte sie keinen Freund, soviel wußte ich. Aber die Welt war so viel größer als die Schule. Welch peinlicher Augenblick wäre entstanden, wenn ich im Krankenhaus Lauras eventuellen Freund getroffen hätte. Das wollte ich mir nicht antun. Und so lag ich stumm im Bett. Die Sorge um Laura nagte an mir.
Wieder und wieder kehrte ich in Gedanken zum Tanz zurück. An die Wärme, an diese wunderbare Wärme, wie sie mich durchströmt hatte. Ich hätte Laura ewig so halten können. Die Bilder zersplitterten und machten ihrem röchelnden Anfall platz.
Ich fühlte mich schuldig, was ich mir nicht erklären konnte. Mein starrer Blick fixierte die Zimmerdecke, an der vorbeifahrende Autos flüchtige Schatten warfen. Mir wurde bewußt, daß ich Lauras Wärme und Nähe wie kaum etwas anderes in meinem Leben zuvor genossen hatte. Wie gerne ich sie geküßt hätte. Etwas in mir war wütend, daß der Abend so plötzlich geendet hatte. Wie konnte ich nur so egoistisch sein? Sie lag bewußtlos im Krankenhaus und ich… ich phantasierte vor mich hin. Ich fühlte mich noch schuldiger.

Zwei Tage vergingen, an denen ich so gut wie nichts aß und nachts oft stundenlang wachlag. Die Unruhe war die letzten achtundvierzig Stunden stetig gewachsen.
"Bist du krank?" hatte mich meine Mutter gefragt.
Ein wortloses Kopfschütteln war meine Antwort gewesen. Ich hätte natürlich etwas sagen können: "Ich denke an Laura. Ich weiß nicht, wie es ihr geht. Ich habe Angst, ins Krankenhaus zu fahren. Ich glaube, ich liebe sie."
Aber was ging das meine Mutter an? Ich verwünschte meine Ängste. Was konnte schon so schlimm daran sein, Lauras Vater oder eventuellen Freund im Krankenhaus zu treffen? Ich konnte mich immer noch damit herausreden, ein Schulkamerad von Laura zu sein, der rein freundschaftliches Interesse an ihr hatte. Vielleicht wollte ich auch nur niemandem zeigen, was in mir vorging. Den Kummer für mich behalten.
Als ich drei Tage nach dem Vorfall mich früh morgens schlaflos aus dem Bett wälzte war es endgültig zu viel für mich. Ich duschte mich schnell, bemüht, mit dem frühmorgentlichen Lärm nicht meine Eltern aufzuwecken, zog mich an und ging unbemerkt aus dem Haus. Mein Herz raste. Ich fühlte mich leicht schwindelig und meine Hände waren feucht. Es ging mir nicht gut. Warum war ich nur so aufgeregt? Ich wollte doch nur wissen, wie es Laura ging. Vielleicht war sie auch gar nicht mehr im Krankenhaus und die ganze Sache war harmlos. Egal. Ich brauchte Gewißheit.
Ich wußte, in welches Krankenhaus man Laura gebracht hatte. Herr Teubner hatte den Notarzt nach dem Krankenhaus gefragt, um es Lauras Vater mitteilen zu können. Es war zwar gerade mal neun Uhr, offiziell also noch keine Besuchszeit, doch die wenigen Male, die ich in einem Krankenhaus zu Besuch gewesen war, war es dem Personal dort recht egal gewesen, wann man kam und ging, solange es nicht gerade mitten in der Nacht war. Außerdem hoffte ich, so früh morgens niemand anderen dort anzutreffen. Und so stieg ich in den Bus ein, der zum Krankenhaus fuhr. Eine der größten Kliniken der Stadt. Mein Puls raste.

Ich mag keine Krankenhäuser. Welcher Mensch tut das schon?
Es muß die ständige Gegenwart von Gebrechen und Tod dort sein, die die Menschen so beunruhigt. Die Erinnerung an das eigene Ende ist im Krankenhaus greifbarer und bedrückender als sonst. Ich machte da keine Ausnahme. Von außen glich das Krankenhaus allerdings eher der Verwaltungszentrale einer großen Firma. Es türmte sich achtzehn Stockwerke hoch in den blauen Frühlingshimmel. Ein langer, rechteckiger, schwarzgrauer Kasten mit Fensterreihen. Was hatten sich die Architekten in den späten 60er und frühen 70er Jahren nur gedacht? Wie konnte man hier gesund werden?
Mit weichen Knien klopfte ich an die Glasscheibe des Pförtnerhäuschens. Ich atmete tief durch.
"Ja?" Der Pförtner legte seine Zeitung beiseite und schaute mich gelangweilt an.
"Können Sie mir die Zimmernummer von Laura Walter sagen?" Ich sprach zu schnell. Ich mußte mich beruhigen!
"Walter mit H?"
Ich schüttelte meinen Kopf.
Der Pförtner gab etwas in seine Tastatur ein. Ob Laura überhaupt noch im Krankenhaus war? Hatte man sie verlegt? Irgendwie war es mir plötzlich unangenehm hier nach ihr zu fragen. Was ging es mich an? Ich hatte sie fünf Jahre lang nicht weiter beachtet.
"Zimmer 809. Das ist im achten Stock."
"Danke"
Ich eilte davon und atmete erneut tief durch. Laura war hier. Oder sollte es zwei Laura Walter geben und ich würde eine völlig Fremde dort antreffen? Ich schüttelte meinen Kopf. Ich wollte nicht so einen Unsinn denken. Ich ging durch die automatische Eingangstür und der typische Linoleumfußboden aller Krankenhäuser empfing mich. Meine Gummisohlen quietschten leise bei jedem Schritt. Der schwache Geruch von Desinfektionsmitteln hing in der Luft. Man hatte sich bemüht, die schmucklosen hellen Wände mit ein paar Gemälden zu verschönern. Sie konnten das kalte Weiß nicht wirklich verdrängen. Immerhin waren die Augen etwas abgelenkt. Ich erinnerte mich noch an meinen letzten Besuch in diesem Krankenhaus ein paar Jahr zuvor, als mein Vater mit einem Leistenbruch eine Woche hier gelegen hatte. So mußte ich auch nicht lange suchen, bis ich die Fahrstühle fand.
Mein Magen sackte merklich nach unten als der Fahrstuhl nach oben schoß. Ich mochte Fahrstühle nicht sonderlich. Dieser hier war kalt und schmucklos wie das Gebäude. Nackte Stahlwände, Neonröhren an der Decke. Ich konzentrierte mich auf die rote LED Anzeige über der Fahrstuhltür und zählte langsam mit. Zwei… Drei… es lenkte mich ab. Mein Herz klopfte. Was tat ich hier nur? Was wollte ich?
Es ruckte merklich und die Fahrstuhltür glitt zur Seite. Der Flur im achten Stock sah genauso aus wie der im Erdgeschoß. Nur die große, schwarze acht an der gegenüberliegenden Wand verriet, daß man sich tatsächlich nach oben bewegt hatte.
Es war vor kurzem Frühstückszeit gewesen. Ein Pfleger schob seinen Essenskarren mit den eingesammelten leeren Tabletts weiter hinten durch den Gang als ich durch die Tür zum Krankenflügel ging. Meine Augen suchten die Zimmernummern. 801… 802… Ich passierte das Zimmer mit den Stationsschwestern, die mir keine Beachtung schenkten. 809… endlich. Ich blieb stehen und starrte stumm auf die funierte Tür vor mir. Meine rechte Hand griff nach der Stahlklinke. Ich zögerte. Was wollte ich hier?
"Sie können ruhig hineingehen."
Erschrocken drehte ich mich herum. Hinter mir stand eine der Krankenschwestern. Ich starrte sie stumm an.
"Sie wollen zu Frau Walter?" Die Schwester musterte mich neugierig. Ich mußte etwas sagen.
"Wie… wie geht es ihr?"
"Gehören Sie zur Familie?"
"Nein… ich… ich bin ihr Freund." Glatt gelogen. Was tat ich hier?
Die Schwester zögerte. "Es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Sie wurde gestern abend von der Intensivstation hierher verlegt. Sie ist allerdings immer noch bewußtlos, gehen Sie aber ruhig hinein."
Ich nickte stumm und drehte mich wieder um. Die Tür schwang leise auf und Stille empfing mich.
Laura war die einzige Patientin im Zimmer. Die anderen beiden Betten vor ihr waren unbelegt. Vielleicht hatte ihr Vater auf ein Einzelzimmer bestanden. Reich genug war er dafür und gewiß war er privatversichert. Es spielte keine Rolle jetzt.

Da lag sie also. Mit geschlossenen Augen im Bett. Fast wie eine Prinzessin im Märchen. Ihre dunkelbraunen Haare waren nun nicht mehr hochgesteckt, sondern fielen ihr über die Schultern. Aus dem linken Arm ragte ein Katheter, der mit einem Tropf verbunden war. Eine klare Flüssigkeit tropfte durch den dünnen Schlauch.
Laura wirkte friedlich, fast als würde sie einfach nur schlafen. Doch ihre Haut war blaß und die Lippen waren leicht spröde. Ihr vor drei Tagen noch glänzendes Haar war stumpfer geworden. Laura…
Mein Herz raste. Sie lag da wie Dornröschen. Vielleicht würde ein Kuß sie wecken? Ich trat näher an ihr Bett heran und blickte stumm auf sie herab. Ihre Brust hob und senkte sich unmerklich unter der Bettdecke. Es wirkte hypnotisch zusammen mit der Stille, die im Zimmer herrschte. Ich blickte durch das große Fenster über Lauras Bett hinweg. Vom achten Stock hatte man einen guten Ausblick auf die Stadt. Ich konnte Teile des Hafens und die große Köhlbrandbrücke sehen auf der sich kleine Punkte bewegten. Alles wirkte von hier oben völlig stumm und teilnahmslos.
Meine Blicke schweiften im Zimmer umher. Die Wände waren natürlich weiß, es gab ein Gemälde an der Wand, das irgendeine Landschaft zeigte. Über Lauras Bett war an der Zimmerecke ein Fernseher angebracht. Er war ausgeschaltet. Blumen sah ich nicht. Dafür entdeckte ich ein Stofftier in Lauras Bett. Ein hellbrauner Teddybär. Ich mußte lächeln. Ihr Vater hatte ihn bestimmt für sie hierher gebracht.
Ich nahm mir einen Stuhl und setzte mich. Was konnte ich tun? Ich starrte Laura stumm an. Vielleicht war es tatsächlich wie im Märchen? Sollte ich sie wachküssen? Wenigstens einen Kuß auf die Lippen hauchen? Ich merkte, wie sich etwas in mir regte. Lust? Ich ballte meine Hände zu Fäusten und kniff die Augen zusammen. Ich schämte mich. Wie konnte ich nur daran denken, Laura zu berühren, während sie komatös im Krankenbett lag? Das hier war kein Märchen. Anstatt eines prächtigen Kleides trug Laura einen schmucklosen, grünen Krankenhauskittel. Nicht sehr prinzessinenhaft.
"Es tut mir leid", flüsterte ich. Was tat mir denn leid? Daß ich den Gedanken an Lauras Nähe nicht mehr aus dem Kopf bekam und ich den Drang, sie einfach nur berühren zu wollen, mühsam unterdrückte? Was konnte ich schon dafür, daß sie zusammengebrochen war? Ich hatte sie in meinen Armen gehalten. Deshalb.
"Laura… ich…" Was sollte ich sagen? Ich hatte schon öfter gelesen und gehört, daß Menschen im Koma durchaus etwas von ihrer Umgebung wahrnehmen können. Daß es hilft, wenn man mit ihnen spricht. "Ich hoffe, es geht dir bald wieder besser. Ich möchte, daß du weißt, daß der Abend mit dir sehr schön war. Hätte ich dich doch nur all die Jahre zuvor schon mal angesprochen. Weißt du… du… du bist…" Ich hielt inne. Warum erzählte ich ihr das? Was sollte das alles?
"Hoffentlich wachst du bald wieder auf. Ich würde dich so gerne besser kennenlernen. Mit dir studieren. Dein Freund sein…" Was wenn Laura jetzt aufwachen würde? Was müßte sie dann von mir denken? War ich lediglich ein liebeskranker Teenager? Wie gerne ich sie berührt hätte. Aber etwas in mir sträubte sich. Ich hatte wieder ihr Bild vor Augen wie sie plötzlich erschlaffte und beinahe zu Boden gefallen wäre. Für eine Weile sagte ich nichts und studierte Lauras Gesicht. War ich ein Voyeur, weil ich mit Hingabe den feinen Schwung ihrer Lippen bewunderte? Die elegante Kurve ihrer Nase? Den kleinen braunen Fleck an ihrem Hals betrachtete? Ich hatte in meinem ganzen Leben noch keinen Menschen so intensiv angeschaut wie ich jetzt Laura anschaute.
"Weißt du… ich glaube, ich liebe dich. Also ich meine, ich habe mich in dich verliebt. Ich weiß nicht warum es genau auf der Abschlußfeier passierte. Jedenfalls… bitte wach wieder auf. Werde gesund. Bitte." Da war es endlich heraus. Ich fühlte mich etwas freier jetzt. Ich plauderte eine ganze Weile weiter vor mich hin. Ich erzählte ihr, was man vom Fenster aus alles sehen konnte. Beschrieb ihr in allen Einzelheiten das Bild an der Wand. Manchmal glaubte ich, eine Regung bei Laura zu bemerken, doch wenn ich genauer schaute lag sie immer noch still da. Eine komatöse Märchenprinzessin. Meine Märchenprinzessin. Tränen traten mir in die Augen. Wie gerne ich sie doch nur berührt hätte. Wie gerne ich mit ihr diesen Abend weitergetanzt hätte. Es hatte sich intensiver als alles zuvor in meinem Leben angefühlt. Ich erzählte es ihr. Wahrscheinlich hörte sie mich doch nicht. Also brauchte ich keine Angst zu haben.

Die Tür ging auf. Ich fuhr herum und sah die Krankenschwester wieder.
"Ich muß sie umdrehen", erklärte sie. "Damit sie sich nicht wundliegt."
Ich blickte sie stumm an und nickte.
"Wenn Sie kurz vor der Tür warten würden?"
Ich schaute auf meine Uhr. Ich hatte fast vier Stunden bei Laura verbracht. Wo war die Zeit geblieben? "Ich muß ohnehin gehen."
Die Schwester nickte kurz. "Es war nett von Ihnen, so lange bei ihr zu sein. Es hilft ganz sicher."
"Wo ist denn Lauras Vater?" fragte ich.
"Der mußte gestern ins Ausland."
"Ins Ausland?"
Die Krankenschwester schaute mich nur stumm an, so als wüßte sie auch nicht, was sie darauf antworten sollte.
"Wird wohl was wichtiges sein", murmelte ich mehr für mich selbst und ging aus dem Zimmer.

Ich schlurfte langsam zur Bushaltestelle, die sich vor dem Krankenhaus befand. Lauras Bild ging mir nicht aus dem Kopf. Mir war immer noch schwindelig. Auch meine Hände waren nach wie vor feucht. Ich fühlte mich einfach nur leer. Leer und hohl. Wie gerne ich sie berührt hätte. In die Arme genommen und wachgeküßt, um danach mit ihr davonzureiten. Kopfschütteln geriet langsam zu einem meiner Hobbys.
Der Bus war überraschend voll. Rentner, Schüler, die am ersten Tag der Ferien durch die Stadt fuhren, eine junge Mutter mit Kinderwagen. Ich hatte keinen Sitzplatz erhalten und stand am Ausgang, vor dem sich wie immer alles versammelte. Ich hielt mich an einer der Stangen fest während der Bus durch die Straßen fuhr. Es war heiß geworden. Ungewöhnlich für den Mai, aber besser so als Regen. Jemand berührte mich. Ich blickte mich kurz um und sah, daß die junge Mutter unabsichtlich gegen mich drückte. Es waren neue Leute eingestiegen und der Bus war noch voller geworden. Warum hatten die Menschen gegen Mittag schon so viel Zeit? Arbeitete denn niemand?
Wärme durchzog mich. Ohne es zu wollen spürte ich, daß ich es gar nicht mal so unangenehm fand, von der jungen Frau berührt zu werden. Ich drehte meinen Kopf zu ihr. Sie hatte schulterlange blonde Haare und ein hübsches, ovales Gesicht. Sie hielt den Kinderwagen fest und lächelte ihr Baby an. Ich weiß nicht mehr, was in mich fuhr, aber ich rückte ein kleines Stück näher zu ihr, so als würde mich jemand zu ihr drücken. Ihr linkes Bein, ihre Hüfte und ein Teil ihres linken Armes waren nun an mich gepreßt. Ich öffnete mich, ließ die Körperwärme in mich hinein. Meine Gedanken kehrten zur Abschlußfeier zurück. An Laura. Hatte es sich ähnlich angefühlt? Ein wenig. Eine leise Ahnung dessen, was ich wirklich gespürt hatte. Und doch angenehm auch. Ich hörte ein leises Stöhnen.
Zuerst dachte ich, das Stöhnen wäre aus meiner Erinnerung gekommen. Dann merkte ich, wie die junge Mutter an meiner Seite plötzlich in die Knie ging. Sie fiel nicht zu Boden, weil die Menschen im Bus so dicht gedrängt waren, daß ein älterer Herr neben ihr sie sofort auffing. Erschrocken rückte ich weg. Mein Herz raste und Schweiß stand mir auf der Stirn. Und das nicht, weil es im Bus recht stickig war.
"Geht es Ihnen nicht gut?" fragte der ältere Herr besorgt. Ich wunderte mich, warum er bei der Hitze noch einen braunen Mantel trug. Vielleicht kleidete er sich strikt nach Jahreszeit, unabhängig vom Wetter.
Die junge Frau schüttelte ihren Kopf. "Doch doch… mir ist nur kurz schwarz vor Augen geworden. Weiß nicht, was los ist. Muß die Hitze sein."
"Die Hitze macht wirklich zu schaffen. Nun gebt doch der jungen Mutter mal einen Sitzplatz!" klagte der Mann.
"Soll ich einen Krankenwagen rufen?" ertönte es aus dem Lautsprecher. Dem Busfahrer war die Aufruhr nicht entgangen.
Ein kleiner Junge bot der jungen Mutter seinen Sitzplatz an. Sie setzte sich und schüttelte den Kopf. "Es geht schon wieder. Ist schon gut." Sie lächelte schwach und griff nach einer Wasserflasche, die im Netz des Kinderwagens hing.
Ich starrte sie nur an. Der Bus erreichte seinen nächsten Stop und die Tür ging auf. Ich stürzte aus dem Bus hinaus, obwohl ich noch drei Haltestellen fahren mußte. Es war mir egal. Ich mußte einfach nur weg.

Was war geschehen? Wie konnte das sein? Mit zitternden Knien stand ich an der Bushaltestelle und atmete heftig. Ich rieb mir die Schläfen und versuchte mich zu beruhigen.
Zufall… nur ein Zufall…
Das mußte es gewesen sein. Ich tanze mit Laura… Sie bricht zusammen… Ich berühre diese Frau und… Sie kippt um.
Zufall… nur ein Zufall…
Was auch sonst? Ich setzte mich auf die Bank der Bushaltestelle und blickte starr auf die Gehwegplatte hinab. Ich konnte vielleicht andere belügen. Aber mich selbst? Auch wenn es eben im Bus nur ein Abklatsch dessen gewesen war, was ich während der Abiturfeier gefühlt hatte, so hatte ich doch jeden Augenblick genossen. Mehr noch, ich hatte mich lebendiger gefühlt. Es war gut gewesen, die junge Frau zu berühren. Und ein Teil von mir bedauerte, daß es nur so kurz gewährt hatte. Wie gerne wäre ich in ihre Wärme eingetaucht.
Ich zitterte wieder. Was dachte ich da nur? Viel wichtiger war aber, was nun wirklich geschehen war? Hatte die Hitze im Bus einen kleinen Schwächeanfall verursacht? Natürlich. Was hätte es denn sonst sein sollen?

Ich lag wach in meinem Bett und beobachtete die Schattenspiele an der Decke. In dieser Nacht fragte ich mich das erste Mal ganz ernsthaft in meinem Leben, ob ich verrückt war. Es war das erste Mal in einer langen Reihe von Momenten, in denen ich es mich noch fragen würde. Ich nagte an meiner Unterlippe und versuchte zu verstehen, was an diesem Tag geschehen war. Lauras Bild tauchte in meinen Gedanken auf. Wie sie still und friedlich im Bett lag. Dornröschen. Man müßte sie nur wachküssen. Das Bild der jungen Mutter im Bus war verschwommener. Ich hatte sie nie richtig angeschaut, nur kurz ihr Gesicht gesehen. Um so deutlicher hatte ich dafür ihre Körperwärme gespürt. Oder war es die Hitze im Bus gewesen? Nach dem heißen Tag war die Nacht nur unwesentlich abgekühlt. Mein Fenster stand offen. Ich hörte vereinzelt das Rauschen eines Autos wenn es unten auf der Straße an meinem Fenster vorbeifuhr. Alles wie immer. Alles ganz normal. Und es war nur ein Zufall.
Laura hatte eine mir unbekannte Krankheit. Die Frau im Bus hatte vielleicht nichts gefrühstückt, hatte nachts nicht geschlafen, weil ihr Baby laut geschrien hatte und deshalb in der stickigen Luft, die im Bus herrschte, einen Schwächeanfall erlitten. Nichts mysteriöses. Es war eben nur Zufall, daß ich den Zusammenbruch einer jungen Frau zweimal innerhalb von drei Tagen erlebt hatte. Und beide Male hatte ich sie berührt. Es war nur ein Zufall. Was hätte es denn sonst sein sollen?

Ich wollte Laura wiedersehen. Träume hatten sich die Nacht über nur kurz eingestellt. Ich hatte mit Laura getanzt. Sie geküßt. Das übliche eben, wenn man ein Teenager ist. Es war das einzige Traumbild, das mir noch in Erinnerung geblieben war, als ich früh am nächsten Morgen wieder aus dem Bett stieg. Ich duschte kurz, frühstückte nicht, da ich immer noch keinen Appetit hatte, und eilte wieder unbemerkt aus dem Haus. Mein Vater war sowieso arbeiten und meine Mutter schlief noch. Ich machte mich auf den Weg zur Bushaltestelle. Vielleicht ging es Laura an diesem Morgen schon besser. Und ich wollte etwas herausfinden.

Ich war etwas früher als gestern aus dem Haus gegangen. Es herrschte noch Berufsverkehr. Was natürlich bedeutete, daß der Bus Verspätung haben würde und sich mühsam durch den allmorgentlichen Pendlerverkehr wühlen müßte. Es würde auch bedeuten, daß der Bus vollbesetzt sein würde. Menschen wie Sardinen in einer Büchse.
Ich stand am Ausgang und hielt mich an einer Stange fest während der Bus sich durch die Automassen quälte. Eigentlich haßte ich volle Busse. Vor allem früh morgens, wenn die Menschen genervt sind und nur schnell zur Arbeit oder zur Schule wollen. Heute jedoch kam es mir ganz gelegen, daß der Bus überfüllt war. Es gab mir die Gelegenheit, Menschen zu berühren. Ich mußte es einfach wissen. Rechts von mir hielt sich eine Frau an der selben Stange wie ich fest. Ich schätzte sie auf Anfang dreißig. Ihre aschblonden Haare waren hochgesteckt. Sie trug ein hellgraues Kostüm. Irgendeine Geschäftsfrau. Oder Sekretärin? Unwichtig. Ich dachte an Laura.
Eigentlich dachte ich sowieso nur an zwei Dinge. An Laura natürlich. Und an den Vorfall im Bus den Tag zuvor. Ich war für jeden Augenblick dankbar, den ich an Laura dachte. Der Vorfall im Bus machte mir Angst. Große Angst. Mein Herz klopfte auch jetzt wieder mal sehr viel schneller als sonst.
Der Bus bremste unvermittelt und die Leute wurden ein gutes Stück nach vorne gerissen. Ich hörte ein lautes Hupen. Ich konnte nicht sehen, was passiert war, da zu viele Leute die Sicht nach vorne versperrten. Vermutlich hatte ein Autofahrer mal wieder einfach die Spur gewechselt, ohne zu achten was hinter ihm los war. Die Frau neben mir stürzte gegen mich. Ich selbst hatte einen besseren Stand und konnte verhindern, nach vorne gerissen zu werden. Einige Leute im Bus fluchten. Das war meine Chance!
Ich fuhr meinen rechten Arm aus und fing die Frau auf. Das war zwar überflüssig, weil sie bei dem Gedrängel, das im Bus herrschte, auf keinen Fall stürzen konnte, aber ich tat so, als wäre es eine Reflexreaktion gewesen. Ich hielt sie fest und ihre körperliche Nähe durchflutete mich unvermittelt. Ihre Wärme war greifbar. Der Hauch eines schweren Parfums bedrängte mich. Etwas zu schwer für meinen Geschmack. Die Frau schaute mich verwirrt an und wirkte verärgert. Vielleicht weil der Busfahrer so plötzlich gebremst hatte? Oder weil ich sie festhielt? "Danke…", sagte sie zögerlich. Sie strich sich eine gelockerte Haarsträhne zurecht und rückte sofort von mir ab.
Hatte sie etwas gespürt? Etwas gemerkt? Ich glaubte noch das Echo ihrer Wärme in meinem rechten Arm zu spüren. Mehr! Ich wollte mehr! Der Bus fuhr weiter und ich rückte unmerklich näher bis ich gegen sie stieß. Sie rückte sofort ein kleines Stück weg, als sie meine Berührung spürte. Ich wollte nicht erneut nachrücken. Es wäre sonst gewiß aufgefallen. Ich schaute um mich und suchte ein neues Ziel. Hinter mir stand ein blondes Mädchen, das gelangweilt Kaugummi kaute. Sie trug verwaschene Jeans und ein helles T-Shirt. Der Bus ruckelte erneut, als er eine Haltestelle erreichte und bremste. Ich tat so als könne ich mich nicht auf den Beinen halten und stolperte einen Schritt rückwärts.
"He, paß doch auf, Mensch!"
Ich schaute in das zornige Gesicht des Mädchens. Sie wollte mich wegschubsen, doch ich war ihr wohl etwas zu schwer. Das waren aber keine feinen Manieren. Immerhin hätte ich ja auch tatsächlich stolpern können, oder hatte sie bemerkt, daß es Absicht gewesen war?
Ich zögerte einen Sekundenbruchteil damit, mich von ihr zu lösen. Ich konnte auch ihre Wärme förmlich greifen. Doch war es nicht mal ansatzweise mit dem zu vergleichen, was ich bei Laura gespürt hatte. Oder bei der Frau gestern. Trotzdem gefiel es mir. Ich wollte mehr. Selbst von ihr. Was war nur los mit mir?
"Tut mir leid", murmelte ich unbeholfen und griff wieder nach der Stange, als der Bus weiterfuhr. Jetzt hatte ich schon zwei Frauen berührt. Und ich wußte immer noch nicht mehr. Ich dachte daran, mich umzudrehen und das blonde Mädchen einfach festzuhalten und festzuhalten. Und dann dachte ich an Laura, wie sie zusammengesunken war. Ich mußte hier schnell raus. Zum Glück kam meine Haltestelle und ich stieg aus. War ich einfach nur verwirrt? Oder ein klein wenig verrückt? Aber ich fühlte mich jetzt etwas besser. Nicht mehr ganz so leer und hohl. Wärmer. Und mein Herz klopfte langsamer endlich.

Laura lag auf der Seite und sie hätte den prächtigen blauen Himmel durch das Fenster sehen können, wenn ihre Augen nicht geschlossen gewesen wären. Die Krankenschwester oder jemand anders hatte ihr den Teddybären in die Arme gelegt. So wie gestern wirkte es fast, als schliefe sie nur. So zerbrechlich. So zart. So sanft und weich. Aber der Tropf an ihrem Arm erinnerte ständig an die bittere Wirklichkeit. Daß Laura nun schon vier Tage lang im Koma lag.
Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, eine der Schwestern oder sogar einen Arzt zu sprechen, um mehr über ihren Zustand zu erfahren. Sie lag im Koma, das war für jeden ersichtlich. Und die Gewißheit, daß es irgendwie meine Schuld war wurde immer stärker. Natürlich war es Unsinn. Es mußte Unsinn sein, so wie es auch nur Zufall gewesen war, daß zwei Frauen in meiner Nähe zusammengebrochen waren.
"Es tut mir leid, Laura", flüsterte ich mehr für mich selbst. Ich saß vor ihrem Bett und schaute sie an. Wie gerne ich in ihre dunkelblauen Augen geblickt hätte. Heute hatte ich einen Rucksack dabei. Ich öffnete ihn und holte ein Buch hervor: "Die schönsten Hausmärchen". Ich schaute ins Inhaltsverzeichnis und fand die gesuchte Geschichte - "Dornröschen". Mit leiser Stimme fing ich an, Laura vorzulesen. Ein Teil von mir betete, daß Laura bitte aufwachen möge. Aber ihr Schlaf währte tief und fest.

Es war bereits wieder Mittag, als ich Laura schweren Herzens verlassen mußte. In ihrer Nähe fühlte ich mich ruhiger. Entspannter. Ihr aus dem Märchenbuch vorzulesen tat mir gut. Es lenkte mich ab. Der unverbesserliche Optimist in mir hoffte inbrünstig, daß ein Teil von ihr den Märchen zuhören konnte, daß es ihr half. Doch für diesen Tag mußte es reichen. Ich packte meine Sachen und ging. Länger zu bleiben hätte bedeutet, zusätzliche Besucher zu riskieren. Und ich wollte niemanden sehen.
Als es Abend wurde fuhr ich ziellos im Bus umher. Zuvor hatte ich mich in der Innenstadt umherbewegt und alle möglichen Kaufhäuser nach Sachen durchsucht, die ich ohnehin nicht kaufen wollte. Den Feierabendverkehr nutzte ich, um mich in die Menschenmassen zu stürzen. Ich brachte nicht den Mut auf, jemanden für längere Zeit zu berühren. Was, wenn eine weitere Frau zusammenbrechen würde? Wollte ich das wirklich riskieren? Und was viel wichtiger war: wollte ich denn wirklich Gewißheit haben? Ich fragte mich erneut, ob ich verrückt war.
Vielleicht sollte ich zu einem Arzt gehen. Statt dessen berührte ich hier kurz eine Frau, da flüchtig ein junges Mädchen. Niemand schien etwas zu bemerken im allabendlichen Gedränge. Anonymität in zusammengepferchten Menschenmassen kann auch Vorteile haben.
Als ich schließlich zu Hause ankam fühlte ich mich schuldig. Auch wenn niemandem etwas an diesem Abend aufgefallen war, kam es mir so vor, als würde ich den Frauen etwas stehlen. Vor allem hatte ich Angst vor dem Teil in mir, der ständig nach mehr verlangte. Verlor ich die Kontrolle? Die Kontrolle aber über was? Ich fand auch diese Nacht nur wenig Schlaf.

Laura lag auf dem Rücken, den Teddybären im rechten Arm. Regungslos wie die Tage zuvor. Ich saß neben ihrem Bett und betrachtete sie stumm. Ich fühlte mich nicht mehr so unwohl dabei wie zuvor. Auch wenn mein Dialog mit Laura eher einseitig war kam es mir so vor, als wären wir uns die letzten paar Tage nähergekommen. Einige Male war ich in Versuchung geraten, ihre rechte Hand zu nehmen und festzuhalten. Ich ließ es sein. Etwas in mir hatte große Angst davor. Das Märchenbuch lag auf meinem Schoß. Als ich Laura in stummer Andacht anschaute wurde mir klar, was ich ihr vorlesen wollte - "Schneewittchen".
Schneewittchen hatte das vergiftete Apfelstück ausgespien und ihren Prinzen geheiratet. Laura hingegen lag immer noch still im Krankenbett. Kein vergiftetes Apfelstück hatte ihr das Bewußtsein geraubt. Etwas anderes. Ich suchte mir schnell ein neues Märchen. Als kleines Kind hatte ich "Die Kleine Seejungfrau" furchtbar traurig gefunden, weshalb ich es nie wieder gelesen hatte. Manchmal war das Leben eben traurig. Mit leiser Stimme fing ich an zu lesen.
"Wer sind Sie?"
Vor Schreck ließ ich fast das Buch aus den Händen fallen. Als ich hastig danach griff klappte es laut zu. Der plötzliche Lärm ließ mich zusammenzucken. Ich fuhr herum und starrte den Mann an, der im Krankenzimmer stand. Ich muß so im Buch vertieft gewesen sein, daß ich nicht bemerkt hatte, wie die Tür aufgegangen war. Lauras Vater war gekommen. Er wirkte besorgt. Traurig. Deplaziert. Sein teurer schwarzer Anzug und die glattpolierten Lederschuhe paßten irgendwie nicht hierher. Was machte er hier überhaupt? Welch Frage. Natürlich seine Tochter besuchen. Aber warum jetzt?
"Was machen Sie hier? Kenne ich Sie?" Die Stimme von Lauras Vater war tief und wohlklingend, wenn auch etwas leise. So als wolle er Laura nicht im Schlaf stören.
Ich mußte etwas antworten. "Ich gehe mit Laura in die selbe Schule. Wir… ich… war bei ihr auf der Abschlußfeier, als…" Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.
Lauras Vater trat näher ans Bett.
"Ich laß Sie dann besser mit Ihrer Tochter alleine." Ich wollte das Märchenbuch schnell in den Rucksack packen. Lauras Vater sollte nicht sehen, was ich ihr vorlas.
"Nein, nein, bleiben Sie ruhig. Was haben Sie da? Lesen Sie Laura etwas vor?"
Ich nickte. Lauras Vater sah den Titel des Buches und ich erwartete, daß er abfällig lächeln würde. Wer würde schon einem neunzehnjährigen Mädchen, einer jungen Frau, Märchen vorlesen. Er lächelte nicht, sondern fuhr sich mit der rechten Hand durch die dunklen Haare. "Ich bin froh, daß jemand, den sie kennt, hier bei ihr ist."
Sollte ich ihm sagen, daß ich Laura eigentlich nicht wirklich kannte? Warum fühlte ich mich wie ein Betrüger? Lauras Vater beugte sich über seine Tochter und strich ihr zärtlich über die Stirn. "Ich hätte mehr Zeit für sie haben sollen. Nicht mal jetzt kann ich immer bei ihr sein, wenn ich will."
Warum erzählte mir Lauras Vater das alles? Er schaute mich an. "Sie saßen neben uns auf der Abschlußfeier."
Ich nickte stumm.
"Ich habe Sie nie bei uns zu Hause gesehen." Jetzt würde es herauskommen. Daß ich ein Betrüger war, der nur so tat als wäre Laura meine Freundin. "Kein Wunder", fuhr Lauras Vater fort. Seine Stimme klang leise und bedrückt. "Ich bin ja auch so gut wie nie zu Hause. Selbst jetzt kann ich nur ein paar Minuten erübrigen. Sie ist doch meine Tochter…"
"Warum bleiben Sie nicht länger bei ihr?"
Lauras Vater hatte kurz aus dem Fenster geblickt und drehte sich wieder zu mir herum. "Laura hat Ihnen doch bestimmt erzählt, daß ich Vorstandsvorsitzender meiner Firma bin." Hatte sie zwar nicht, da wir vor der Abschlußfeier nie wirklich miteinander gesprochen hatten, aber ich wußte es natürlich vom allgemeinen Schulhofgeplauder. Ich nickte der Einfachheit halber stumm. "Sie war so froh, daß ich an ihrer Abschlußfeier teilnehmen konnte… doch selbst an diesem Abend mußte ich wieder weg. Die Übernahme, wissen Sie…"
"Sie werden übernommen?"
"Nein, nein…" Lauras Vater lächelte das erste Mal. "Wir wollen einen unserer Konkurrenten aufkaufen. Wir müssen… Wäre ich doch nur länger geblieben… Vielleicht wäre es nicht passiert."
Es war mir irgendwie unangenehm, Lauras Vater so emotional zu erleben. Was sollte ich sagen? Daß ich mit seiner Tochter eng getanzt hatte, als sie plötzlich zusammengebrochen war? Daß ich ihr auf irgendeine Weise das Leben ausgesaugt hatte?
"Vielleicht sollte ich doch gehen, bestimmt wollen Sie mit Ihrer Tochter allein sein…" Ich machte erneut Anstalten, das Buch in meinen Rucksack zu packen.
"Nein, bitte, wenn Sie noch etwas Zeit haben, bleiben Sie bitte…" Lauras Vater sah auf seine Uhr. "Ich muß ohnehin bald wieder weg. Dringende Verhandlungen. Unmöglich, sie zu verschieben. Hätte ich doch nur mehr Zeit… es würde ihr bestimmt gefallen, ein Märchen vorgelesen zu bekommen. Ich habe ihr früher immer zum Einschlafen Schneewittchen vorgelesen. Als es noch mehr Zeit gab…"
Ich hoffte inständig, daß Lauras Vater nicht anfangen würde zu weinen. Er wirkte zu Tode betrübt. Aber er straffte sich und strich seiner Tochter erneut über die Stirn.
"Wie heißen Sie eigentlich?"
Ich nannte ihm meinen Namen. Lauras Vater reichte mir die Hand und ich schüttelte sie unbeholfen. Sein Händedruck war fest und trocken. "Schön, Sie kennenzulernen. Wenn… wenn das alles hier vorbei ist… würde ich mich freuen, Sie einmal zu Hause begrüßen zu können."
Ich war sprachlos und nickte mal wieder nur stumm.
"Ich werde mir dann einfach die Zeit nehmen. Die Übernahme hier sollte bald geschafft sein." Lauras Vater blickte erneut auf seine Uhr. "Sind Sie jeden Tag hier? Die Krankenschwester, die ich draußen sprach, meinte so etwas, als sie mir mitteilte, daß Laura jeden Vormittag Besuch bekommt."
"Ja."
"Sie müssen Sie sehr gern haben?"
Ich konnte nicht verhindern, daß mir das Blut ins Gesicht schoß. Was sollte ich antworten? "Wir… wir waren gute Freunde." Wenn Gott Lügner wirklich strafte, müßte spätestens jetzt der Blitz bei mir einschlagen. Natürlich blieb der Himmel draußen blau und weiterhin so gut wie wolkenlos. Konnte es sein, daß Lauras eigener Vater so wenig von seiner Tochter wußte? So wenig, daß er nicht mal genau wußte, ob sie einen Freund hatte? Vielleicht wirkte er deshalb auch so gequält. Er machte sich Vorwürfe. Ich sah es ihm an.
"Lassen Sie sie nicht allein, bitte." Lauras Vater schaute erneut auf seine Uhr und drückte seiner Tochter einen sanften Kuß auf die Stirn. "Ich muß gehen, Kleines", flüsterte er ihr zu. "Ich liebe Dich…"
Meinen Augen fixierten das Buch in meinen Händen. Es war ungewohnt und mir irgendwie unangenehm einen erwachsenen Mann so emotional zu erleben.
"Es war schön, Sie kennenzulernen. Ich hoffe, wir werden bald einmal die Gelegenheit haben, uns mehr zu unterhalten. Sie scheinen ein interessanter junger Mann zu sein." Lauras Vater reichte mir zum Abschied erneut die Hand.
"Ich hoffe, Laura erwacht bald wieder…"
Ihr Vater lächelte gequält. "Ich auch." Er drehte sich herum und verließ das Zimmer. Wie mußte er sich fühlen, gerade mal eine Viertelstunde Zeit für seine Tochter aufbringen zu können? Waren Firmenübernahmen und Aktiengewinne so viel wichtiger? Ich war froh, nicht in seiner Haut zu stecken. Das Wohl der eigenen Tochter gegen das Wohl zigtausender Aktionäre abwiegen zu müssen. Obwohl… meine Antwort war eindeutig. Ich schaute Laura an. Wie gerne hätte ich ihr auch einen Kuß auf die Stirn gedrückt. Ich ließ es sein.
Ich blätterte wieder im Märchenbuch und entschied mich dafür, ihr nochmal "Schneewittchen" vorzulesen.
Das vergiftete Apfelstück wollte aber nicht hinaus.

Meine Tage fanden ihren festen Rhythmus. Die Vormittagsstunden verbrachte ich bei Laura. Nachmittags streunte ich ziellos durch die Stadt. Am frühen Abend fuhr ich Bus. Ich wagte es nicht, jemanden für längere Zeit zu berühren. Doch der Zwang, auch nur den geringsten Hauch Körperwärme aufzusaugen, wuchs stetig. Hier kurz vorbeistreichen. Dort in der Kurve flüchtig gegen meine Nachbarin pressen. So konnte es nicht weitergehen. Was machte ich da nur? Ich mußte endlich mehr herausfinden.
Nachdem ich das Märchenbuch Laura schon zweimal vorgelesen hatte ging ich dazu über, ihr einige Märchen das dritte, vierte oder fünfte Mal vorzulesen. Oder ich erzählte ihr, was in der Welt so vor sich ging. Nach einer Woche war mir Laura die beste Freundin geworden. Sogar der beste Freund. In all den Jahren zuvor hatte ich mich niemals wirklich einem anderen Menschen anvertraut. Laura erzählte ich alles. Ich erzählte ihr von meinem neuen Wahn. War es denn ein Wahn? Ich gestand ihr, sie in die Arme nehmen zu wollen. Sie küssen zu wollen. Mit ihr tanzen zu wollen. Anfangs erzählte ich es ihr nur stockend. Den Blick von ihr abgewendet. Doch Laura lag stumm und friedlich in ihrem Bett und regte sich immer noch nicht. Irgendwann fand ich den Mut, sie anzuschauen, wenn ich ihr mein Herz ausschüttete. Wenn es mir zuviel wurde griff ich zu einem Buch und las ihr etwas vor.
"Dornröschen" war mein Lieblingsmärchen geworden. Ich kannte mittlerweile weite Passagen schon auswendig. Vielleicht konnte doch der wahren Liebe erster Kuß Laura erwecken? Ich traute mich nicht, sie zu küssen. Niemals würde ich es tun, während sie schlief. Ich wollte ihr nicht noch mehr rauben.

Nach einem weiteren Abend im Bus voller Menschen faßte ich meinen Entschluß. So konnte es definitiv nicht weitergehen. Meine Eltern bemerkten natürlich rein gar nichts. Auch wenn ich nur noch mechanisch etwas aß. Nicht viel. Gerade so viel, daß der Teller einigermaßen leer war. Ich hatte schon lange keinen Appetit oder Hunger mehr. Mir war elend zumute, wenn ich nicht bei Laura im Krankenhaus war. Ich brauchte endlich Gewißheit. Nein, was ich brauchte, war endlich Ruhe.
Und so entschloß ich mich also, nicht mehr abends und früh morgens Bus zu fahren.
Laura besuchte ich jetzt wieder etwas später am Morgen, wenn der Berufsverkehr vorbei war und ich alleine für mich einen Sitzplatz im Bus bekam. Nachmittags saß ich allein in meinem Zimmer und ließ den Fernseher laufen. Ich schaute nicht hin. Aber es gab mir die Illusion nicht allein zu sein.

Die Unruhe in mir wuchs. Nach zwei Tagen spürte ich ein leises Zittern am ganzen Körper. Meine Hände wurden wieder feucht und die Leere und Kälte in mir wollte einfach nicht weichen. Einzig meine Stunden mit Laura brachten Linderung. Sie war in der Zwischenzeit nicht nur meine beste Freundin, sondern auch Beichtschwester geworden. Ich hatte keine Hemmungen mehr, ihr die tiefsten Geheimnisse meiner Seele anzuvertrauen. Die Gewißheit in mir, daß ich auf seltsame Art und Weise Schuld an ihrem Koma war, wuchs täglich. Ich mußte es ihr erzählen. Und Laura hörte zu. Stumm und friedlich wie all die Tage zuvor.

Am dritten Tag meiner mir selbst auferlegten Isolation konnte ich nicht mehr. Es war Wochenende. Kein Feierabendverkehr. Was konnte ich tun? Was nur, was nur, was nur? Ich hatte diesen Mittag beim Verlassen des Krankenhauses Lauras Freundin getroffen. Ich war rasch an ihr vorübergelaufen. Entweder hatte sie mich nicht erkannt oder sie war mit ihren Gedanken woanders gewesen. Mir war es nur recht. Mir reichte immer noch die Begegnung mit Lauras Vater. Oder sollte ich Laura am besten gar nicht mehr besuchen? Vielleicht schadete ihr meine Nähe auch nur? Doch allein der Gedanke, Laura nicht mehr zu sehen ließ mein Herz noch schwerer werden. Sie war eine Konstante in meinem Leben geworden. Mein Ruhepol. Und ich mußte sie aus dem Koma erlösen. Egal wie. Solange ich sie nicht wie Dornröschen küssen mußte. Ich träumte nachts davon. Ich wünschte es mir. Ihre sanften Lippen zu spüren. Aber ich hatte Angst. Angst vor dem wahnsinnigen Verdacht in mir. War ich verrückt? Ich hoffte es.
Es war zuviel. Es war Samstagabend und ich fühlte mich so ruhelos, daß ich zuerst gar nicht merkte, wie mir Tränen über die Wangen liefen. Ich mußte weg. Hinaus. Zu Menschen. Freunde anrufen? Nein, ich wollte keinen sehen. Nur Laura. Wo waren jetzt viele Menschen? Wo nur? Es war so einfach. Ich eilte aus dem Zimmer, zog mir die Schuhe an und flüchtete aus der Wohnung. Es war ein warmer Juniabend. Unzählige junge Leute würden sich in der Disco vergnügen. Ich war bisher nie in Discos gegangen. Ich haßte die Musik dort. Aber es drehte sich nicht um die Musik jetzt.

Technobässe wummerten durch das Halbdunkel der Disco. Ich haßte es. Haßte die Musik, die ich mehr als Lärm empfand. Und doch zappelte ich auf der Bühne mit. Es war dichtgedrängt. Schweiß floß. Alkohol ebenfalls. Und gewiß auch noch andere Chemikalien. Mir war es egal. Menschen. Hitze. Entweder waren die Mädchen so zugedröhnt, daß sie nichts merkten, oder aber es war ihnen egal. Ich berührte unzählige von ihnen beim Herumzappeln auf der Tanzfläche. Und nach einer Weile spürte selbst ich die hypnotische Wirkung der Technomusik. Oder war es Trance? Ich kannte mich damit nicht aus. Es war wie so vieles andere nicht wichtig. Wichtig war, daß ich endlich wieder Wärme spürte. Kostbare, lebendige Wärme. Und das Zittern ließ nach.

Ich konnte erneut nicht schlafen. Ich lag in meinem Bett und starrte mal wieder die Zimmerdecke an. Was hatte ich getan? Was nur? Der Geruch von Schweiß und blumigen Parfums hing noch in meiner Nase. Ich hatte bis spät in die Nacht hinein getanzt. Körperlich war ich jetzt erschöpft. Aber in mir spürte ich das Echo der Wärme, die ich in mich aufgenommen hatte. Es war so einfach gewesen, über Pobacken, Arme und Rücken zu streichen. Nur ganz selten hatte sich ein Mädchen umgedreht und mich angeblickt. Ich hatte meine Entschuldigung gemurmelt und war schnell weitergegangen. Es hatte keinen weiteren Ärger gegeben. Und ich wußte immer noch nicht mehr. Ich brachte nicht den Mut auf, ein Mädchen längere Zeit zu berühren. Wie sollte ich das aber auch anstellen?
Sicher, viele waren nur mit ihren Freundinnen da, ohne männliche Begleitung. Vielleicht hätte ich eines dieser Mädchen abschleppen können. Aber ich hatte all die Jahre zuvor keine Mädchen angesprochen. Ich konnte es auch jetzt nicht. Ich begnügte mich damit, ihnen kleine Häppchen ihrer Wärme zu stehlen. Oh, wie sehr ich mehr wollte. So viel mehr. Dieses Bedürfnis brannte in mir. Aber für jetzt konnte ich es kontrollieren. Das bißchen Wärme in mir, das ich aufgenommen hatte, reichte dafür.
War ich verrückt? Angst war ein Dauerzustand bei mir geworden. Ich wußte, es würde der Tag kommen, da ich Gewißheit brauchte. Ich hatte mich immer für einen rationalen Menschen gehalten. Vielleicht sollte ich das Problem rational angehen. Nicht jetzt. Später. Irgendwann später.

Zwei Monate waren seit Lauras Zusammenbruch vergangen. Und wie Dornröschen schlief auch sie immer noch. Würde es hundert Jahre dauern, ehe sie jemand erlösen würde?
In all der Zeit hatte ich keinen anderen mehr bei Laura getroffen. Ich achtete aber auch darauf, nur vormittags zu ihr zu gehen. So wußte ich nicht, ob sie überhaupt noch Besuch von Freunden und Verwandten bekam. Eines Tages fragte ich einfach eine der Schwestern auf dem Flur.
"Frau Walter?" Die Krankenschwester schaute mich an. "Sie sind der einzige, der täglich mehrere Stunden kommt."
"Der einzige?"
"Na ja, da ist ihr Vater… der kommt fast täglich, aber meist nur spät abends für maximal eine Stunde. Anfangs war da noch ihre Freundin wohl, die mehrmals die Woche nachmittags vorbeigeschaut hat. Ich habe sie seit einer Woche nicht mehr gesehen. Kranke Menschen werden schnell vergessen."
Ich schaute die Schwester stumm an.
"Ich habe das schon oft erlebt. Wenn jemand längere Zeit schwerkrank hier bei uns liegt ist es nur eine Frage der Zeit bis von den anfangs zahlreichen Verwandten und Freunden nur noch ganz, ganz wenige übrigbleiben. Manchmal auch gar keiner. Wir haben einen anderen Komapatienten, der einmal in der Woche noch von seiner Ex-Frau Besuch bekommt. Sonst ist niemand da, der sich um ihn kümmert. Wenn wir doch nur mehr Zeit hätten. Ihre Freundin kann froh sein, Sie zu haben. Sie müssen sie wirklich sehr gern haben…"
Die Krankenschwester lächelte mich an. Sie war der zweite Mensch, der mir nun schon diese Worte gesagt hatte. Ja, ich hatte Laura sehr gern. Nur manchmal fragte ich mich, ob nicht auch ein Schuldgefühl mich hierher trieb.
"Laura ist etwas ganz besonderes. Ich habe sie wirklich sehr gern…" Ich war selbst verblüfft, als ich es der völlig fremden Krankenschwester gestand. Bisher hatte ich keiner Menschenseele auch nur leise Andeutungen über meine Gefühle gemacht. Erst recht nicht, wenn es um Liebe oder Zuneigung ging.
Die Krankenschwester lächelte mich wieder an. "Wir alle hoffen, daß sie bald wieder aufwachen wird. Armes Mädchen… noch so jung…"
Ich nickte nur und versuchte, meine Tränen zu unterdrücken. Ich ging schnell in Lauras Zimmer und betrat ihr kleines Universum der Stille.
"Ich kann dich am Wochenende leider nicht besuchen, Laura." Sie lag mal wieder auf der Seite und hätte einen prächtig blauen Himmel bewundern können. Wir hatten nun schon geraume Zeit strahlend schönes Wetter. Doch Laura verschlief alles. Und ich hatte endlich Pläne gefaßt. Seit Wochen nun schon tingelte ich am Wochenende durch diverse Clubs und Discos. Ich haßte Technomusik immer noch. Wahrscheinlich würde sich trotz der allwöchentlichen Dauerbeschallung daran auch nie etwas ändern. Doch sie war ein Bestandteil meines Lebens geworden. All die zuckenden, hopsenden, tanzenden Mädchenkörper waren leichte Beute. Ich tanzte mitten unter ihnen und keiner bekam etwas mit, wenn ich mir die Körperberührungen stahl. Es war mittlerweile so sehr zur Routine geworden, daß ich es beinahe als normal empfand. Aber auch nur beinahe. Nachts, wenn ich oft wachlag, fragte ich mich mehr und mehr, was genau ich eigentlich tat. Was für ein Mensch war das, der den Feierabendverkehr im Bus und vollgepackte Discos am Wochenende dazu nutzt, Frauen wahllos zu berühren, anzurempeln, an ihnen vorüberzustreichen? Aber ich brauchte es. Brauchte es so sehr.
Nur ein weiteres Mal noch hatte ich versucht, damit aufzuhören. Wie schon beim ersten Versuch hatte ich nach wenigen Tagen aufgegeben. Die Unruhe und Leere in mir waren zu groß geworden. Vielleicht brauchte ich auch nur eine Freundin. Ganz gewiß sogar. Nun, der einzige Mensch, der mir wirklich etwas bedeutete, lag hier vor mir im Bett. Sie sah blaß aus. Ihre dunkelbraunen Haare glänzten im hereinfallenden Sonnenlicht. Offenbar hatte sie jemand gestern gewaschen. Wie gerne ich sie berührt hätte. Aber ich ließ es sein.
Meine Gedanken kehrten zum kommenden Wochenende zurück. Ich würde zur Love Parade nach Berlin fahren. Dem alljährlichen Mekka aller Technojünger und Raver. Zumindest damals war es das noch. Ich wußte ganz genau, was ich dort wollte. Natürlich nicht die dröhnend laute Musik genießen. Mir schien es unmöglich, wie überhaupt jemand so einem Lärm positive Seiten abgewinnen konnte. Dafür gab es aber dort hunderttausende Menschen. Eng beinandergedrängt. Die laute Musik, der Alkohol und die Drogen waren das notwendige Übel. Mir kam es sowieso nur auf die Menschen dort an. Love Parade… Parade der Liebe… ich war gespannt.
An diesem letzten Tag vor meiner Abfahrt las ich Laura erneut "Dornröschen" vor. Soll heißen, ich erzählte es ihr auswendig. Das Buch lag nur aus Gewohnheit auf meinem Schoß. Ich schaute Laura an und erzählte ihr, wie der tapfere Prinz sich durch die Heckenrose schnitt, sich zu Dornröschen durchkämpfte und ihr schließlich den alles errettenden Kuß gab.
Ich blieb bis zum späten Nachmittag. Kein anderer Besucher kam. Zum Abschied beugte ich mich dicht über Lauras Gesicht. Sie lag nun wieder auf dem Rücken. Man hatte sie gegen Mittag in eine andere Position gebracht. Ich konnte jetzt ihren Atem spüren, so dicht war ich bei ihr. Fast hätte ich ihr einen Kuß auf die Lippen gehaucht. Fast. Ich ließ es sein.

Love Parade… wer immer sich diesen Namen für den großen Technoumzug ausgedacht hatte, mußte ein seltsames Verständnis von Liebe gehabt haben. Wenn man Liebe mit sexueller Freizügigkeit, halbnackten Menschen, sowie ausgelassenem Herumgetanze, Alkoholverzehr und Drogenkonsum verband, dann war das seit einigen Jahren wiedervereinigte Berlin am Tag der Love Parade ganz gewiß die Liebeshauptstadt der Welt.
Ich fand es schrecklich. Schrecklich, weil es mir trotz der dröhnenden Umzugswagen mit lautem Baßgewummer gut ging. Ich hatte nie zuvor so viele entblößte Frauenbrüste gesehen. Doch wirkten sie hier seltsam unerotisch. Nicht zu vergleichen mit dem flüchtigen Blick, den ich einmal in die Umkleidekabine der Mädchen beim Schulsport erhascht hatte. Jemand hatte vergessen, die Tür zu schließen. Beim Verlassen der Turnhalle war mein Blick herübergewandert zur Mädchenkabine. Ich hatte das Gesicht durch den offenen Türspalt nicht gesehen. Dafür die festen, kleinen Brüste. Ich war schnell weitergegangen, ehe man mich bemerken konnte. Den Anblick der Brüste hatte ich lange Zeit nicht aus dem Kopf bekommen.
Jedenfalls ist es so vielleicht zu verstehen, warum mich so viele halbentblößte Frauen zuerst nervös gemacht hatten. Nach einer Weile erschienen sie mir allerdings wie ein normales Stück Fleisch zu sein und ich beachtete sie kaum noch.
Ich befand mich mitten im Festumzug und bewegte mich mit dem großen Strom der Leute. Auf einem der Umzugswagen spielten zwei Männer mit nackten Oberkörpern einer entblößten Blondine an den Brüsten. Ihr schien es zu gefallen, sie lachte laut. Etwas regte sich in mir. Neid? Vielleicht. Sehnsucht? Gewiß. Nicht die Sehnsucht nach dieser Blondine. Aber die Sehnsucht nach Nähe. Nach echter Nähe. Ich wandte meinen Blick wieder ab und verfolgte weiter mein Ziel. Wärme zu erhaschen.
Stunden vergingen im Umzug und bei dem Gedränge, das herrschte, war es das reinste Paradies für heimliche Grapscher wie mich. Bei dem allgegenwärtigen Gefummel fiel ich niemandem auf. Zuerst war ich von den Sinneseindrücken überwältigt gewesen. Die kleinen Fetzen Wärme strömten beinahe von allen Seiten in mich ein. Doch allmählich wollte ich mehr. So viel mehr. Lust… unbändige Lust.

Ich brauchte eine Atempause. Ich saß auf einem Grünstreifen am Rand des Tiergartens, der allmählich immer mehr einer Müllhalde glich. Ich verstand, warum einige Berliner die Love Parade nicht in ihrer Stadt haben wollten. Es sollte aber noch einige Jahre dauern, ehe die Love Parade ihr unspektakuläres Ende finden sollte. Bässe wummerten diesen Sommer immer noch durch die Berliner Luft. Hunderttausende Menschen hatten ihren Spaß. Und ich fühlte mich gänzlich fehl am Platze. Abgesondert wie immer. Ich haßte die Musik. Ich haßte die Ausgelassenheit und Trunkenheit. Hatte ich Laura für das hier alleine gelassen? Sie fehlte mir. Aber die Wärme… ich spürte noch so viele Eindrücke. Ich hatte mich bemüht, niemandem für zu lange nah zu kommen. Es war mir gelungen, auch wenn es gar nicht so einfach gewesen war. Die Leute drängten und drängelten von allen Seiten.
"Hihi… na, auch kaputt?"
Ich riß meinen Kopf herum. Links neben mir stand ein junges Mädchen, das sich mit einem leisen "Ups" einfach zu mir setzte. Vielleicht sechzehn. Auf jeden Fall noch Schülerin. Sie hatte kurze, rotblonde Haare und offenbar ein paar Sachen zuviel geschluckt. Ich hoffte für sie und ihre Eltern, daß es nur Alkohol gewesen war.
Zumindest hielt sie in der linken Hand eine fast leere Wodkaflasche. Die Pupillen ihrer blaßgrünen Augen waren geweitet. Was wollte sie von mir? Sie war recht hübsch. Herzförmiges Gesicht. Kleine Stupsnase. Etwas zu viel Cajal um die Augen. Erdbeerrot geschminkter Mund. Sie trug ein kurzes, gelbes Top - bauchnabelfrei natürlich - und dazu zerrissene Jeans. Sie hatte eine schlanke Figur. Mir fielen ihre gelb lackierten Fingernägel auf.
"Ich brauche mal eine kleine Pause", erwiderte ich zögerlich.
"Wo kommst du denn her?" Ihre Stimme klang schon reichlich verwaschen.
"Hamburg."
"Ick bin eene Berlinerin… hihi." Irgendwie schien sie es lustig zu finden. "Wie heißt du denn?"
Ich nannte ihr meinen Namen. Wohin sollte das hier führen?
"Ich bin Jacqueline." Sie nippte an ihrer fast leeren Wodkaflasche und kicherte wieder. Ich fragte mich, ob sie die Flasche ganz allein geleert hatte. Und ich wunderte mich darüber, warum in den neuen Bundesländern französische Mädchennamen so hoch im Kurs standen. Jacqueline - waren die Eltern heimliche Kennedyfans hinter dem Eisernen Vorhang gewesen?
"Bist du alleine hier?" wollte Jacqueline wissen. Sie schaute mich an, dann drehte sie ihren Kopf wieder, als würde sie in der Menge jemanden suchen wollen.
"Ich bin allein hier, ja."
"Gaaaaaanz allein… hihi… Verstehe ich gar nicht…" Jacqueline nippte wieder an ihrer Wodkaflasche, nur um festzustellen, daß sie endgültig leer war. Sie ließ sie achtlos fallen. Bei dem ganzen Müll, der überall verstreut herumlag, machte es keinen Unterschied mehr. Sie schaute wieder in die Menge. "Ich war eigentlich nicht allein hier… aber dieser Idiot macht da einfach mit dieser Schlampe herum." Jacqueline zog eine Schnute. Love Parade eben, dachte ich mir. Von wegen "Love"… Das Motto des Technoumzugs lautete in diesem Jahr "Let the sun shine in your heart". Es kam mir wie blanker Hohn vor.
"Du bist süß… hihi."
Ich schaute Jacqueline verwundert an. Sie mußte in der Tat furchtbar betrunken sein. Man hatte mich schon vieles genannt in meinem Leben. "Süß" gehörte definitiv nicht dazu. Aber ich mußte zugeben, daß ich sie süß fand. Auf ihre eigene, total betrunkene Weise. Im nüchternen Zustand hätte sie mir natürlich keine Beachtung geschenkt. Ich sah, wie sie wieder jemanden in der Menge suchte. Sie drehte sich erneut zu mir herum.
"Ganz allein…. extra nach Berlin…. da sollte man dich wenigstens lieb begrüßen…" Jacqueline kicherte wieder leise und rückte ein Stück näher zu mir. Ich sah, wie ihre Augen erneut jemanden in der Menge suchten, ich schaute ebenfalls, konnte aber keine bestimmte Person ausmachen. Gewiß suchte sie ihren Freund, der sich irgendwo mit einem anderen Mädchen vergnügte.
Ich spürte plötzlich, wie Jacqueline dicht an meiner Seite war. Mein Körper fing an zu zittern und ich drehte meinen Kopf zu ihr. Ich schaute in Jacquelines leicht gerötete und geweitete Augen. Ich konnte spüren, wie ihr Körper gegen den meinen drückte. Was sollte ich tun? Was wollte ich tun?
"Magst du mich nicht?" säuselte Jacqueline kokett mit ihrer verwaschenen Stimme.
"Doch…", antwortete ich zögerlich. Ich sah, wie sie aus dem Augenwinkel verstohlen wieder jemanden suchte. Es war klar, welches Spiel sie betrieb. Mir war es egal. Ich konnte nur noch an ihre Wärme denken.
Plötzlich küßte Jacqueline mich. Ihr Atem war süß und der Kuß schmeckte nach Alkohol. Aber es war mir egal. Es war mein allererster Kuß. Ich war zuerst so erschrocken, daß ich gar nicht wußte, was ich tun sollte. Nun, ich hatte natürlich schon oft vom Küssen geträumt und unzählige Filme gesehen, in denen sich Leute auf unterschiedlichste Weise geküßt hatten. So viel also zur Theorie. Furchtbar schwer konnte es nicht sein. War es im Prinzip auch nicht. Es war nur total anders als ich es mir vorgestellt hatte. Trotz oder vielleicht wegen Jacquelines Trunkenheit war es sanft, zärtlich, weich und berauschend. Jacqueline umarmte mich und meine Hände fanden ihren Körper. Wir küßten uns erneut. Etwas in mir explodierte. Brach auf wie eine Wüstenblume, die etwas Regen erhascht. Ich wollte mehr. Wollte alles. Wollte sie. Alles andere war unwichtig. Ich küßte sie leidenschaftlicher. Jacqueline stöhnte leise. Ich drängte sie ins Gras zurück und sie sank bereitwillig zu Boden. Ich lag nun auf ihr. Spürte sie. Fühlte ihre Wärme. Ihren Körper, ihre kleinen Brüste, die gegen mich preßten. Jacqueline stöhnte etwas mehr. Und mehr. Ich ließ nicht ab von ihr und küßte sie weiter mit aller Leidenschaft. Meine Güte, wie prächtig es sich anfühlte. Jacqueline stöhnte erneut. Sie zitterte. Ich konnte es spüren. Ihre Zunge glitt zurück. Was war los? Ich löste mich von ihren Lippen und sah, wie Jacquelines Augen nach oben verdreht waren. Sie atmete schnell und flach. Was war nur los? Ich hielt Jacqueline fest und konnte förmlich sehen, wie das Leben sie verließ. Ich konnte sie nicht loslassen, trotzdem ich es wollte. Erst als ihr Körper plötzlich erschlaffte sprang ich panisch auf. Ich schaute kurz um mich. Bässe dröhnten immer noch durch die Luft. Ausgelassene Leute bevölkerten den Tiergarten. Niemand schien uns zu bemerken. Jacqueline hatte ihre blaßgrünen Augen weit geöffnet. Sie waren starr und blickten in die Unendlichkeit.
Das konnte nicht sein! Ich betete zu Gott, daß es nicht sein konnte. Was war nur geschehen? Nein, nein, nein, hämmerte es durch meinen Kopf.
Ich wußte ganz genau, was geschehen war. Allzu genau. Ich hatte endlich meine Gewißheit.

Ich lief davon. Suchte eine Telefonzelle. Fand eine. Sie war kaputt. Das Hörerkabel war herausgerissen worden. Ich lief weiter und weiter und fand endlich eine andere Telefonzelle. Ich zog am Notrufhebel und rief einen Krankenwagen. Ich mußte schreien, um mich zu verständigen. Danach flüchtete ich. Weg vom Tiergarten, hin zum Bahnhof Zoo, rein in den nächsten Zug und weg. Einfach nur weg.

An Schlaf war nicht zu denken. Schloß ich meine Augen tauchte Jacquelines Gesicht vor mir auf. Ihre blaßgrünen, geweiteten Augen blickten mich stumm und klagend an. Warum hatte ich sie nicht losgelassen? Ich hatte sie nicht loslassen wollen. Meine Lust und Gier hatten mich völlig unter Kontrolle gehabt. Das war die einfache Wahrheit. Mein Körper zitterte. Nicht vor Kälte. Vor Angst. Angst vor mir selbst. Was für ein Monster, was für eine Abscheulichkeit war ich? Ich hatte einen Menschen getötet. Ein fünfzehnjähriges Mädchen, das ihr ganzes Leben noch vor sich gehabt hatte. Warum nur hatte sie so viel getrunken? Nüchtern hätte sie mich niemals angesprochen. Hätte mich niemals geküßt. Und ich wäre nicht der Versuchung erlegen, ihr das letzte Quentchen Wärme und Leben aus dem Körper zu ziehen.
In den Nachrichten hatte man von dem tragischen Tod auf der Love Parade berichtet. Jacqueline B., fünfzehnjährige Schülerin aus Berlin, war an einer Mixtur aus Drogen und Alkohol gestorben. Plötzlicher Herzstillstand. Was sofort zum Anlaß genommen wurde, um gegen die Technoszene, Ecstasykonsum und die unbändige Jugend von heute ins Feld zu ziehen. Alkohol… Drogen… ich wußte es besser. So viel besser. Mich hatte ganz offenbar aber niemand gesehen. Ein Teil von mir wünschte sich, ertappt zu werden. Die gerechte Strafe zu bekommen, die ich verdiente.
Als ich in Hamburg angekommen war hatte ich mir überlegt, mich der Polizei zu stellen. Ich war eine Gefahr. Eine Gefahr für andere Menschen. Oder war ich einfach nur verrückt? Dem Wahn verfallen? Was sollte ich tun? Was wollte ich tun?
Unzählige Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich nachts die vertraute Zimmerdecke anstarrte. Sollte ich mich stellen? Wenigstens mal zu einem Arzt gehen? Vielleicht würde er etwas bemerken? Und dann? Wenn man mich einliefern würde? In eine Irrenanstalt? Das wollte ich nicht. War ich so ein erbärmlicher Egoist? Oder einfach nur Optimist? Gab es ein Entrinnen? Konnte ich gerettet werden? Ich wollte gerettet werden. Irgendwie. Jacqueline… arme Jacqueline… ich schluchzte jämmerlich vor mich hin und rieb mir die Tränen aus den Augen. Gerade mal fünfzehn. Was würden ihre Eltern jetzt wohl tun? War sie ihr einziges Kind gewesen? Was würde ihr Freund denken, der sie auf der Love Parade im Stich gelassen hatte, um mit einem anderen Mädchen zu flirten? Doch viel wichtiger für mich selbst war die Frage, was ich nun tun sollte.
Diese Nacht entschloß ich mich, alle Brücken hinter mir abzubrennen, endgültig und unwiderruflich einzureißen. Zu verschwinden. Nicht sofort. Es brauchte natürlich Planung. Ich hatte mich für einen Studienplatz beworben. Nicht für die Informatik. Ich konnte einfach nicht Informatik studieren. Nicht ohne Laura. Also hatte ich Software Engineering gewählt. Das wurde von der Fachhochschule angeboten. Noch wartete ich auf eine positive Antwort. Dann würde ich meine Eltern verlassen. In ein Studentenwohnheim gehen und mir irgendeinen Gelegenheitsjob suchen, um mein Leben zu finanzieren. Als ich an diese eher profanen Dinge dachte, lenkte es mich wenigstens etwas ab. Doch eine böse Stimme in mir flüsterte leise "Mörder". "Monster". War ich tatsächlich ein Monster? Was war nur mit mir? Wie konnte all das sein? War ich wie im Märchen ohne mein Wissen verflucht worden? Wenn ich verflucht worden war… warum war es dann geschehen? Wer hatte es getan? Was hatte ich getan? Gab es ein Gegenmittel? Der wahren Liebe erster Kuß vielleicht? Ein Zaubertrank? Etwas Feenstaub? Ich hatte Angst. Ich hoffte, ich war verrückt. Und kein Monster. Jacquelines Augen blickten mich schweigend an. Was sollte ich ihnen antworten?

"Ich habe ein unschuldiges Mädchen getötet."
Der Satz hing still im Raum. Lange Zeit hatte ich mit der Entscheidung gerungen, Laura nie mehr wiedersehen zu wollen. Jetzt, da es kaum noch Zweifel gab, daß etwas entscheidendes mit mir nicht stimmte, daß ich offenbar Menschen die Lebenskraft stehlen konnte, hatte ich Angst, überhaupt noch in Lauras Nähe zu gehen. Ich ließ sie vier Tage allein. Danach ging mir ihr Bild nicht mehr aus dem Kopf. Wofür ich dankbar war. Jacqueline erwies sich als hartnäckiger Geist, der sofort auftauchte, wenn ich die Augen schloß oder mich nicht permanent ablenkte.
Ich konnte Laura nicht alleine im Krankenhaus lassen. Ich würde sie ja nicht berühren. Nur neben ihr sitzen. Mit ihr sprechen. Märchen vorlesen. Vor allem mußte ich ihr alles erzählen. Mich entschuldigen. Vielleicht würde sie nie mehr aufwachen. Es war meine Schuld. Sie verdiente wenigstens eine Erklärung.
Also saß ich wieder an ihrem Bett. Mit tränenverschleierten Augen beichtete ich ihr, was geschehen war. Leise und stockend. Laura lag stumm und regungslos auf ihrer Ruhestätte. Es gab nur noch eines, das jetzt in meinem Leben zählte. Daß Gott, oder wer auch immer für meinen Fluch verantwortlich war, wenigstens Laura verschonen würde. Sie mußte wieder aufwachen. Sie mußte!
Als ich mir den größten Schmerz von der Seele geredet hatte erzählte ich Laura zum wiederholten Male das Märchen von Schneewittchen. Vielleicht mußte ich nur das richtige Märchen finden? Dornröschen half offenbar nicht. Doch auch diesmal wollte Laura den giftigen Apfel nicht ausspeien. Eigentlich wollte ich danach gehen. Komm, einen Versuch ist es heute noch wert, dachte ich mir aber. Also erzählte ich ihr doch wieder die Geschichte von Dornröschen. Nur daß ich der letzte Mensch auf Erden war, der sie jemals wachküssen würde. Das hatte ich mir geschworen. Laura nie mehr zu berühren. Sie mußte aufwachen.

Es war die Zeit, als ich ernsthaft zu beten anfing. Nachts mit Gott redete. Ich lamentierte. Ich fluchte. Ich verwünschte meinen Zustand. Ich flehte darum, daß Laura aufwachen möge. Falls Gott oder sonst jemand mir zuhörte ließ er es sich nicht anmerken. Denn natürlich folgte niemals eine Antwort oder auch nur ein leises Zeichen.
Ich aß so gut wie gar nichts mehr. Und wenn, dann nur mechanisch. Gerade so viel, daß es nicht weiter auffiel, daß ich eigentlich gar nichts essen wollte. Es gab nur noch eine letzte Verbindung zu meinem alten Leben. Dem langweiligen, einsamen Leben vor meiner Verwandlung in ein Monster. Die Besuche bei Laura stimmten mich zwar jeden Tag trauriger, weil sie nicht aufwachen wollte, aber sie zu sehen, mit ihr reden zu können, tat trotzdem gut. Ihr konnte ich alles beichten. Meine Gefühle. Meine Ängste.
Ansonsten machte ich weiter wie bisher. Ich hatte erneut versucht, mit meinem zwanghaften Verhalten aufzuhören. Doch nach fünf Tagen ging es mir so elend, daß ich am ganzen Körper zitterte und an nichts anderes mehr denken konnte, als jemanden zu berühren. Wenn ich jetzt aber jemanden in der Disco oder im Bus berührte rief es das Echo von Jacquelines Küssen zurück. Wie sie ihren letzten Atem getan hatte. Geraubt von mir. Ich war ein Mörder. Aber ich ging nicht zur Polizei. Nicht mal zu einem Arzt.

Das Leben im Studentenwohnheim war anfangs ungewohnt. Es ließ sich nicht vermeiden, neue Menschen kennenzulernen. Ich achtete darauf, den Mädchen im Wohnheim aus dem Weg zu gehen. Beim Software Engineering war es kein größeres Problem. Es gab sowieso nur vier Mädchen dort. Und ich hatte eine Arbeitsgruppe gewählt, die nur aus Männern bestand. Trotzdem ertappte ich mich manchmal während einer Vorlesung dabei, verstohlen zu einem der Mädchen herüberzuschauen. Wie es sich wohl anfühlen würde… Ich war ein Monster. Ich fing an, mich zu hassen. Die ganze Welt zu hassen.

Als ich noch früh im Oktober morgens wieder ins Krankenhaus ging war Laura fort. Meine täglichen Besuche waren etwas kürzer geworden. So gut es ging hatte ich Laura entweder vor den Vorlesungen oder nachmittags nach Ende aller Veranstaltungen besucht. Manchmal ließ ich eine Vorlesung auch ausfallen, um bei ihr sein zu können. Mittlerweile brauchte ich Laura wohl mehr, als ich es mir selbst eingestehen wollte. War es krank und merkwürdig, eine stumme Komapatientin als beste Freundin zu haben? Aber nun war sie fort. Ihr Krankenbett war frisch bezogen worden und sah makellos und unbenutzt aus. So als wäre nie jemand hier gelegen. Was war passiert? War sie etwa gestorben? Mit rasendem Puls hastete ich aus dem Zimmer auf den Flur hinaus und suchte eine Krankenschwester. Hinter der Glaswand des Schwesternzimmers sah ich die Stationsschwester. Ich klopfte aufgeregt gegen die Scheibe.
"Wo ist Laura Walter?"
Die Schwester legte ihren Kugelschreiber beiseite, mit dem sie gerade ein Formular ausfüllte und schaute mich an. "Ja, wissen Sie es denn nicht? Hat man Sie nicht informiert? Naja, bei der Aufregung vielleicht kein Wunder."
"Was sollte ich wissen? Wo ist Laura?"
"Junger Mann, sie ist gestern nachmittag aufgewacht. Kurz nachdem Sie weg waren." Die Schwester strahlte mich plötzlich breit an. "Ich hätte es selbst beinahe nicht mehr geglaubt, aber dem Mädchen geht es gut. Wir haben sie verlegt. Sie braucht noch eine kleine Weile, bis sie wieder aufstehen und längere Zeit herumlaufen kann. Aber sie ist voll ansprechbar. Sie liegt jetzt in Zimmer 802. Da ist sie nicht mehr so alleine wie bisher."
"802?"
"Sie können Sie gerne besuchen. Sie wird sich bestimmt freuen, Sie zu sehen. Sie waren ja beinahe jeden Tag hier und haben ihr Gesellschaft geleistet."
Die Krankenschwester strahlte mich immer noch an. Ich nickte stumm und stolperte fort. Laura war erwacht.
Endlich. Ich kämpfte mit den Tränen, ließ ihnen nach einer Weile freien Lauf. Rein automatisch ging ich zum Fahrstuhl zurück und achtete gar nicht darauf, daß ich Zimmer 802 schon lange passiert hatte. Laura… wach… Endlich. Endlich, endlich, endlich.
Eine Weile stand ich stumm in der Fahrstuhlkabine. Ich starrte das Kontrollpaneel an und wischte mir die Tränen aus den Augen, um besser sehen zu können. Ich schluchzte und lachte gleichzeitig. Irgendwann drückte ich den Knopf fürs Erdgeschoß. Laura war gesund. Und ich war ein Monster. Ich würde sie am besten nie mehr wiedersehen.

Für eine Weile hatte ich gehofft, daß Lauras Erwachen das Ende meines Fluches bedeuten würde. Doch nach drei Tagen ohne gestohlene Berührungen stellte sich das vertraute Zittern und die fürchterliche Kälte in mir wieder ein. Das war Antwort genug.
Mein Leben war leer. Gab es überhaupt noch einen Sinn? Laura fehlte mir. Fehlte mir so sehr. Die vergangenen fünf Monate hatte ich sie beinahe jeden Tag besucht. Hatte ihr mein Leben anvertraut. Meine Geheimnisse. Einige Male hatte ich ihr sogar ein zärtliches "Ich liebe dich" zugeflüstert. Das war natürlich albern gewesen.
Laura war gesund. Es freute mich aufrichtig. Es war der glücklichste Moment in meinem Leben und verdrängte für eine Weile Jacquelines Geist aus meinem Kopf. Ja, es war der glücklichste Moment in meinem Leben. Und es war der traurigste Moment in meinem Leben.
Was nun? Was gab es noch? Was sollte ich noch? Die erste Zeit starrte ich die Telefonnummer an, die ich mir aus der alten Schülerliste kopiert hatte. Lauras Nummer. Aber ich durfte sie nicht sehen. Was sollte ich ihr auch sagen? Meine allerletzte Brücke war eingestürzt und abgebrannt. In gewisser Weise war ich endlich frei von allem. Es gab keine Kontakte mehr zu meinem alten Leben. Meinen Eltern hatte ich weder Adresse noch Telefonnummer des Wohnheims gegeben. Meine Freunde aus der Schulzeit sah ich ebenfalls nicht mehr. Ich hatte auch nicht vor, sie so schnell wiederzusehen. Am besten gar nicht mehr.
Wenn ich spät abends im Bett lag betete ich immer noch. Ich hoffte auf eine Antwort. Natürlich kam immer noch keine. Ganz offensichtlich war ich der Welt egal. Nun denn, sie war mir ebenfalls egal. Nichts hatte mehr einen Sinn.

Das Geomatikum ist in Hamburg eines der höheren Gebäude. Fast zwanzig Stockwerke ragt der häßlich braune Betonklotz hoch und dient als Heimat für das Mathematikinstitut der Universität. Nebenan ist in einem kleinen Bungalow das Max Planck Institut für Meteorologie beheimatet. Und vor allem hatte es Balkone, die frei zugänglich waren und weit, weit über dem Erdboden sich befanden.
Ich stand auf einem dieser Balkone. Es war später Nachmittag an einem wolkenverhangenen Oktobertag. Das Rauschen der Straße war hier oben schon etwas leiser, die Welt wirkte entrückt. Ich blickte in die Ferne und konnte tatsächlich mein ehemaliges Wohnhaus von hier oben sehen. Ich mußte lächeln. Der alte Witz klappte immer noch.
Ich wähnte mich am Endpunkt. Zwei Wochen waren seit Lauras Erwachen vergangen. Mein Anker, die letzte Konstante in einem Leben, das nur noch aus Chaos und Wahn bestand, hatte sich aufgelöst. Das letzte bißchen Vernunft in meinem Leben gehörte der Vergangenheit an. Ich hatte keine Lust mehr. Was immer auch Gott oder die Welt mit mir vorhatte: es sollte ohne mich sein. Ich schaute nach unten. Grüne Wiese. Ein paar Büsche. Weit, weit unter mir. Ich war bestimmt fast vierzig Meter über dem Boden. Das würde auf alle Falle reichen.
Jacquelines Gesicht tauchte in meinen Gedanken auf. Würde sie dort sein, wo ich hinkommen würde? Irgendwie glaubte ich nicht daran. Auf mich wartete bestimmt etwas anderes.
Meine letzten bewußten Gedanken galten aber Laura. Selbst jetzt noch war es eine bittersüße Freude, die mich durchzog, als ich daran dachte, daß sie mittlerweile wohl schon wieder zu Hause sein würde. Gesund. Am Leben. Dafür war ich dankbar.
Dann sprang ich.

Da ich hier noch schreibe, ist zu vermuten, daß die Dinge nicht so klappten, wie ich es mir vorgenommen hatte. Der Wind knatterte in meinen Ohren. Ich schloß die Augen. Eine kräftige Windböe zerrte an mir. Plötzlich hörte ich ein lautes Knacken und Knirschen. Zuerst dachte ich, ich wäre schon aufgeschlagen. Wie konnte ich aber meinen eigenen Aufschlag hören? Ich riß die Augen auf und taumelte durch die Welt. Es knirschte und knackte ringsumher und ich verstand nicht, was mit mir geschah. Irgendwann landete ich unsanft und Stille kehrte ein. Es piekste und stach überall. Völlig benommen wälzte ich mich aus dem Busch, in den ich gefallen war. Ich torkelte über das Gras und fiel hin. Ich atmete flach. Mein Herz raste. Kalter Schweiß brach aus. Ich starrte in den bewölkten Herbsthimmel über Hamburg. Es war kalt. Das Gras unter mir feucht. Irgendwann fanden meine Augen den Baum, dessen Zweige ganz offenbar meinen Fall entscheidend gebremst hatten. Die Windböe hatte mich zur Seite getrieben. Fort vom sicheren Tod, hinein in einen unsanften, aber sicheren Sturz in den Busch hinein, der am Fuße des Baumes stand.
Ich lachte. Ich lachte laut. Ich schrie. "Warum, du Arschloch!!!! Warum!!!"

Niemand hatte etwas bemerkt. Nach einer Weile konnte ich immerhin wieder mit wackligen Schritten gehen. Nichtmal einen blauen Fleck wies ich auf. Meine Kleidung hatte einige Risse davongetragen, das war alles. Ich suchte das nächstbeste Lokal, von denen es im Studentenviertel ausreichend gab, und trank das erste Mal in meinem Leben sinnlos Bier. Es war bitter und schmeckte gräßlich. Egal. Gott und die Welt hatten also Pläne mit mir. Und ich durfte offensichtlich nicht einfach so flüchten. Man gönnte es mir offenbar nicht. Was aber nur hatte man mit mir vor? Was? War ich am Ende unsterblich? Ein unsterbliches Monster? Oder war ich selbst so eine Art Gott? Der böse Rachegott, der jungen Mädchen und hübschen Frauen ihr kostbares Leben stahl, damit er selbst sich erbärmlich von Tag zu Tag hangeln konnte?
Ich haßte die Welt mit aller Inbrunst. Und am meisten haßte ich mich.

Für eine Weile fühlte ich mich unverwundbar. Vielleicht war ich auch so eine Art Superheld geworden? Wohl eher ein Superschurke. "Der Supergrapscher" - dämlicher Name. "Der Dornröschenkiller" - ich mußte gemein grinsen. Der Prinz kämpft sich durch die Dornenhecke. Findet den Turm. Eilt die Stufen empor, um Dornröschen zu finden. Da liegt sie anmutig und still auf dem Bett. Dornröschenkiller nähert sich, küßt die schlafende Schönheit und saugt ihr auch noch den kleinsten Rest Leben aus, damit sie und das Schloß in Ewigkeit verrotten können und stiehlt dann noch das Gold und die Juwelen. Dornröschenkiller war ebenfalls ein dämlicher Name, wie aus einem schlechten Edgar Wallace Film. Es war einer dieser Momente, in denen ich wieder hoffte, einfach nur ganz normal wahnsinnig zu sein. Aber welcher Wahnsinnige überlebt Stürze aus vierzig Metern Höhe? Und welcher Wahnsinnige konnte durch bloßes Berühren Menschen töten?
Das war der Punkt. Konnte ich denn alle Menschen töten? Sollte ich als dunkler Rächer durch die Straßen ziehen? Nein. Ich mochte zwar wahnsinnig sein. Das Zeug zum Superschurken hatte ich aber nicht. Alle Versuche, Jacquelines Gesicht zu verdrängen, scheiterten jede Nacht. Und Superschurken weinten nicht heimlich in ihr Kopfkissen und bereuten ihre Verbrechen. Oder taten sie es? Was war schon vom Privatleben eines Superschurken bekannt? Was ging hinter all diesen Masken und Kostümen vor?
Ich wollte mir Klarheit über einige Dinge verschaffen. Da ich offenbar von Gott dazu auserkoren war, durch die Welt zu wandeln, sollte ich wenigstens wissen, was genau meine Kräfte waren, was mein Fluch denn nun bewirkte. Jetzt war ich mir sicher, daß es irgendeinen Sinn geben mußte hinter all den Geschehnissen. Gott hatte Noah befohlen, eine Arche zu bauen. Gott hatte Moses die Steintafeln überreicht. Was genau hatte er mir überreicht? War ich sein neues Leuchtfeuer auf der Welt? Sein Fanal? Was genau aber stellte ich denn da? Die Abwesenheit jeder Liebe. Ja. Das paßte. Sollte ich der neue Messias in einer Welt ohne Liebe sein, die nur Egoismus, Geld und Konsum kannte? Verkörperung aller Übel dieser Welt? Ein dunkler Messias der Einsamkeit und des Hasses. Wie konnte ich so etwas nur denken? Vielleicht war ich ich ja doch verrückt. Nur die Hoffnung darauf schwand immer mehr. Ich vermißte Laura.

Der Club war schwach beleuchtet. Männer tanzten ausgelassen zu 80er Jahre Hits, die aus den Boxen dröhnte. Ich saß an der Bar, nippte an einer Cola und wurde von einem schmächtigen Typen vollgequatscht.
"Das erste Mal hier?"
"Ja", antwortete ich schüchtern. Meine Blicke schweiften über das Gesicht meines Sitznachbarn. Er hatte kurze, hellbraune Haare. Ein paar Bartstoppeln zierten sein junges Gesicht. Und er war schwul. Nun, im Club hier waren gewiß fast alle Männer schwul. Auf dem Hamburger Kiez gab es genug Kneipen für Homosexuelle. Ich hatte mir blindlings die erstbeste ausgesucht. Es war Samstagabend und die Leute amüsierten sich ausgelassen. Keiner von den Männern hier trug auffällige Lederklamotten oder Schirmmützen. Sie sahen eigentlich ganz normal aus. Was hatte ich auch schon erwartet? Die Village People? Ich lächelte meinem Sitznachbarn zu und hoffte, er würde anbeißen. Daß ich auf nüchterne Mädchen keine positive Wirkung hatte, war mir klar. Wie es bei Männern aussah war mir unbekannt.
"Und du, bist du öfter hier? Irgendwie finde ich es ja etwas laut, man kann sich gar nicht richtig unterhalten." Mein Gott, wie perfide und berechnend ich war. Ich konnte nicht glauben, was ich hier tat. Mein Sitznachbar lächelte jetzt noch charmanter. Würde er es bald bereuen?
"Wenn du willst, können wir ja beide woanders hingehen?"
Bingo! Ich lächelte und nickte ihm zu.
Zwei Stunden später war ich in Robertos Wohnung. Roberto war Sohn portugiesischer Gastarbeiter. Er war ganz nett. Und wir beide saßen auf seiner Couch und küßten uns. Es hatte mich große Überwindung gekostet, mich von einem Mann küssen zu lassen. Seltsamerweise fühlte es sich gar nicht mal so viel anders als bei einem Mädchen an. Außer das Bartstoppeln unangenehm mein Gesicht kratzten. Jacqueline tauchte wieder vor meinem inneren Auge auf und ich nahm mir vor, rechtzeitig von Roberto abzulassen, ehe er kollabieren würde. Roberto fummelte und tätschelte an mir minutenlang herum, bis ich der Meinung war, endlich Gewißheit zu haben. Ich sprang von seiner Couch auf, was mir einen überraschten Blick von ihm einhandelte.
"Es ist dein erstes Mal, oder? Du mußt keine Angst haben", versicherte mir Roberto mit sanfter Stimme.
"Tut mir leid, ich kann nicht, es liegt nicht an dir, du bist wirklich nett", sprach ich hastig, schnappte mir geschwind meine Jacke und flüchtete aus Robertos Wohnung.
Ich hatte zwei neue Gewißheiten gewonnen. Die erste kam nicht sonderlich überraschend: ich war eindeutig nicht homosexuell. Die zweite war, daß meine Kräfte… daß mein Fluch ganz offensichtlich nicht auf Männer wirkte.
Diesen Abend putzte ich mir bestimmt zwanzig Minuten lang die Zähne.

Trotz meines Fluches hatte sich wieder so etwas wie Routine in mein Leben, in meine Existenz, eingeschlichen. Ich studierte tagsüber. Nachmittags fuhr ich Bus und schwelgte in den zusammengepferchten Menschenmassen. Allmählich glaubte ich die Körperwärme regelrecht schmecken zu können. Da gab es die süße, blumige Wärme blütenfrischer Teenagerinnen, die interessante Würze etwas älterer Frauen. Am Wochenende arbeitete ich bei McDonald's. Nachts ging es in Discos und Technoschuppen. Trotz einer Medienkampagne gegen Drogenkonsum, die nach Jacquelines Tod gefolgt war, sah ich, wie sich die Leute immer noch bunte Pillen einwarfen, um zwei Tage lang durchtanzen zu können. Die Frage, ob ich nun Superheld oder Superschurke sein sollte, hatte sich mittlerweile entschieden. Auch wenn ich die Welt haßte, auch wenn ich mich selbst haßte, ich schaffte es einfach nicht, wahllos alle meine Mitmenschen zu hassen.
Anfangs, nach meinem Sturz vom Geomatikum, hatte ich wie im Wahn mit dem Gedanken gespielt, wahllos die nächstbeste Frau auf dem Bürgersteig anzufallen und sie zu Tode festzuhalten und zu küssen. Einmal war ich kurz davor gewesen, eine langhaarige Schönheit mir zu packen. Spätestens dann würde man mich erwischen und mich endlich einsperren. Doch ihre dunklen Haare hatten mich im letzten Moment an Laura erinnert. Schwitzend und zitternd war ich schnell ins Wohnheim gefahren und hatte mich in mein Bett gelegt. Es mußte doch eine Rettung für mein Leiden geben! Vielleicht mußte ich einfach nur begangenes Unrecht durch eine gute Tat aufwiegen? Durch eine selbstlose Tat? Da faßte ich den Entschluß, einer Frau das Leben retten zu wollen.

In den Comics, die ich als Jugendlicher gelesen hatte, war es immer ganz einfach. Superman hört Lois Lane schreien, sucht sich die nächstbeste Telefonzelle, zieht sich blitzschnell um und eilt zu ihr, um seiner geliebten Reporterkollegin - mal wieder - das Leben zu retten. Nun, Telefonzellen gab es genug. Ein Superheldenkostüm hatte ich allerdings nicht. Und ich fand einfach niemanden, den ich retten konnte.
Wo waren all die potentiellen Verbrechensopfer? Es wurden doch jährlich zig Frauen vergewaltigt. Mädchen wurden entführt und mißbraucht. Nur daß es anscheinend nie auf offener Straße geschah. Hamburg war aber auch sehr groß. Mehrere Wochen lang streifte ich durch St. Pauli, dem Stadtteil mit der höchsten Kriminalitätsrate.
Nichts geschah. Es gab betrunkene Bettler, ein paar unverbesserliche Punker, die noch nicht mitbekommen hatten, daß "No Future" mittlerweile das Motto der ganzen Welt geworden war, aber nirgendwo war eine holde Maid in Not in Sicht, die ich erretten konnte.
Immer wieder wurde ich von den Huren auf dem Straßenstrich angesprochen. Und jedesmal spielte ich mit dem Gedanken, einfach mal mitzugehen. Wer würde schon eine Prostituierte vermissen? Doch Jacquelines Gesicht begleitete mich stets auf meinen Streifzügen. Auch wenn Gott oder unsichtbare Kräfte mich zu einem Monster gemacht hatten, ich wollte keines sein. Außerdem war zu erkennen, wer die Prostituierten vermissen würde: ihre Väter und Mütter und Klassenkameraden oder Studienkollegen. Ich fragte mich immer wieder, ob das bißchen Geld die Sache wert war. Käufliche Liebe. Unterschwelliger Zorn kochte in mir hoch, wenn ich an den Prostituierten vorbeiging. Wenn das die Vorstellung von Liebe auf der Welt war, war es kein Wunder, daß Gott mich zu dem gemacht hatte, was ich war. Aber sollte ich die Sünden der ganzen Welt auf meiner Schulter tragen? Warum ich?

Auch wenn ich es mied, Menschen näher kennenzulernen, ließ es sich nicht verhindern, ein engeres Verhältnis zu meiner Arbeitsgruppe aufzubauen. Wir waren fünf Jungs und erledigten gemeinsam die Aufgaben, die das Studium uns stellte. Einmal die Woche gingen wir abends in ein American Diner im Studentenviertel. Und ich dachte mir, daß ein Hauch Normalität in meinem Leben vielleicht nicht schaden könnte, also ging ich stets mit. Doch richtig froh machte mich diese Normalität nicht.
Die Abende im Diner bestanden darin, daß über Dozenten hergezogen wurde, man sprach über Hollywoodfilme, neue Computerspiele, aktuelle Hardware und diverses anderes Zeug, das sich nur junge Männer ausdenken konnten. Und natürlich wurde über Frauen geredet.
"Na, die würde ich gern mal, hehe", sagte Sebastian, einer meiner Kollegen aus der Arbeitsgruppe. Es war klar, wen er meinte. Wie fast jede Woche wurden wir von Cloud bedient. Zumindest stand der Name so auf der Rechnung, wenn sie abrechnete. Ihre Eltern waren wohl Althippies gewesen. Oder es war ihr Spitzname. Ich nannte sie in Gedanken einfach nur Audrey. Audrey für Audrey Hepburn. Cloud war Amerikanerin, was natürlich gut zum Diner paßte. Was genau sie nach Deutschland geführt hatte, wußte ich nicht, woher auch, da ich natürlich nie ein Wort mit ihr wechselte. Naja, außer "Stimmt so", heißt das, wenn ich ihr etwas Trinkgeld gab.
Cloud schien direkt einem präraphaelitischen Gemälde entsprungen. Sie war recht groß, über 1,70 Meter, und hatte lange, dunkle, leicht lockige Haare, die ihr in sanften Wellen in den Rücken fielen. Ihre hohen Wangenknochen verliehen ihr etwas aristokratisches, gleichzeitig auch etwas kühles. Cloud wirkte unnahbar, beinahe wie ein Feenwesen aus einer anderen Welt. Und sie sah genauso aus wie Audrey Hepburn. In gewisser Hinsicht war Cloud die schönste Frau, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Rein körperlich, meine ich damit. Mein Herz wurde jedes Mal schwer, wenn meine Gedanken praktisch automatisch zu Laura zurückkehrten. Laura war zierlicher gewesen, nicht so aristokratisch. Doch auch nicht so kühl und unnahbar. Cloud war eine wunderschön gemeißelte Marmorskulptur, Laura eine duftende Frühlingswiese im Sonnenlicht. Ich vermißte sie immer noch. Aber diese Brücke zurück gab es nicht mehr.
Cloud war an unseren Tisch getreten und lieferte die vier bestellten Biere ab. Für mich selbst gab es Cola. Ich hatte Angst, die Kontrolle zu verlieren, sollte ich jemals betrunken sein. Cloud beugte sich über den Tisch, um die Getränkte zu verteilen. Sebastian nutze die Gelegenheit, ungeniert in ihren Ausschnitt zu starren. Ich fragte mich, ob es wirklich so vorteilhaft war, auffallend schön zu sein. War es Cloud egal, wie die meist jungen Studenten hier im Diner sie anstarrten und hinter ihrem Rücken über sie redeten? Es waren Momente wie diese, in denen ich mich schämte, mit den anderen hier zu sitzen. Konnte Cloud sich jemals sicher sein, einen Freund zu haben, der nicht lediglich scharf auf ihre aufregenden Kurven und die langen Beine war?
"Da bestellt man sich doch gern das Bier", sagte Sebastian, als Cloud den Tisch wieder verlassen hatte. Er nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. Es war bereits sein viertes an diesem Abend. Die anderen kicherten. Was würde wohl Sebastians Freundin dazu sagen, wenn sie ihn hier so sehen könnte? Er war der einzige von uns fünfen, der eine Beziehung führte. Das Singledasein war nicht allein auf mich beschränkt. Mein Fluch hingegen schon. Insgeheim ärgerte ich mich über Sebastian. Womit hatte er überhaupt eine Freundin verdient? Er sollte Cloud nicht so hinterherstarren. Idiot!
Cloud hatte beim Bringen der Biere mit ihrem rechten Arm meine Schulter gestreift. Das Echo ihrer Wärme pochte in mir. Ja, auch ich wollte sie gerne berühren. Ich mußte aufpassen.

Ich weiß nicht genau, was mich zuerst ins Diner zog. Aber irgendwann ging ich dazu über, fast jeden Abend dort hinzugehen. Bald hatte ich Clouds Dienstplan im Kopf. Und schließlich war ich immer dann im Diner, wenn sie gerade dort arbeitete. Was genau wollte ich eigentlich? Wollte ich sie? Unbedingt. Wie delikat es sein müßte, in ihrer Wärme zu schwelgen. Sie ganz nah bei mir zu spüren. Doch ich hielt das Monster in mir im Zaum. Es waren einige Monate seit Jacquelines Tod vergangen. Vergessen konnte ich sie nie. Es war auch gut so.
Schlaflose Nächte waren ein geringer Preis für ein gestohlenes Leben. Ich mußte es unbedingt wiedergutmachen. Vielleicht war das der Schlüssel zu meiner Erlösung. Nachdem ich auf den Straßen nie ein Opfer gefunden hatte, das ich retten konnte, saß ich also nun im Diner. Jeden Abend starrte eine ganze Anzahl von Männern Cloud hinterher, wenn sie durch das Diner mit ihrem Tablett schwebte. Eine perfekte Marmorstatue. Die personifizierte Anmut. Eine wunderschöne Blume aus Eiskristall. Ich wartete auf meine Gelegenheit.

Cloud lächelte mich an, als ich meine Rechnung beglich. Ich gab ihr etwas Trinkgeld und sagte: "Stimmt so." Wie immer meine beiden einzigen Worte, die ich mit ihr wechselte. Wer weiß, was sich Cloud dabei dachte. Sie lächelte auf jeden Fall herzlicher als früher. Vielleicht auch nur ihre Art, Stammkunden zu gewinnen. Natürlich war ihr aufgefallen, daß ich seit Wochen nun schon stets anwesend war, wenn sie abends im Diner Getränke und Essen servierte. Ich saß wie immer in einer dunklen Ecke allein an einem Tisch. Von dort hatte ich praktisch das ganze Lokal im Blickfeld. Eine perfekte Warte, um auf mein Opfer zu warten. Auf meine holde Maid, die ich erretten wollte.
Mir war an diesem Abend ein Typ mit blonder Mähne an der Bar aufgefallen. Er saß direkt vor dem Zapfhahn und stierte gierig Cloud hinterher, wenn sie die frisch gezapften Biere abholte, um sie den Gästen zu bringen. Das war natürlich nichts neues. Eigentlich gab es so gut wie jeden Abend Leute, die Cloud intensiv hinterherstarrten. Was machte die Inkarnation Audrey Hepburns auch in so einem schäbigen Diner wie diesem hier? Ihre Welt sollte eigentlich irgendein Laufsteg oder das Filmtheater sein. Mir hingegen war es nur recht so. Das Diner schloß gleich und ich ging nach draußen, um zu warten. So wie ich jede Nacht wartete, wenn Cloud Feierabend machte. Endlich kam sie aus dem Diner. Sie hatte sich eine weiße Lederjacke übergezogen und ihre vorhin noch offenen Haare zu einem langen Pferdeschwanz gebunden, der von einem Stück dunklen Stoff zusammengehalten wurde. Ich stand auf der anderen Straßenseite und folgte ihr unauffällig. Ich wußte mittlerweile, wo sie ihr Auto parkte. Wie üblich in einer der recht dunklen Nebenstraßen. Sie fuhr einen alten roten VW Polo. Mehr konnte man sich von dem Gehalt im Diner sicherlich auch nicht leisten.
Cloud zündete sich eine Zigarette an und blauer Qualm entwich in die Nachtluft. Es war wieder Frühling geworden, aber nachts noch recht kühl. Mein Jahrestag stand kurz bevor. Ich verdrängte jeden Gedanken daran, als ich sah, wie der Typ mit blonder Mähne Cloud in einiger Entfernung folgte. Mein Pulsschlag beschleunigte sich. So lange nun wartete ich bereits auf meine Gelegenheit! Sollte es endlich soweit sein? Ich überquerte die Straße und wechselte auf den anderen Bürgersteig, um besser dem mysteriösen Kerl mit der blonden Mähne folgen zu können. Breite Schultern füllten eine schwarze Lederjacke aus, dazu trug er eine schwarze Jeanshose. Ich mochte gar nicht daran denken, wie stark der Kerl war. Weiter voraus konnte ich noch Cloud ausmachen, wie sie schwungvoll um die Ecke bog, hinein in die Seitenstraße, wo ihr Auto stand. Goldmähne joggte plötzlich los und eilte ebenfalls um die Ecke.
Mein Denken setzte für einen Moment aus. Mein Herz raste zwar und ich hatte große Angst, aber was sollte mir schon passieren? Mir, dem unverwundbaren Superhelden, der Frauen durch bloße Berührungen töten konnte und dem selbst ein Sturz aus vierzig Metern Höhe nichts antat? Ok, ich wußte, daß mein Fluch sich nicht auf Männer auswirkte. Nun denn, sollte diese Nacht mein Ende bedeuten, war es mir auch egal. Ich konnte auf jeden Fall nicht zulassen, daß Cloud etwas geschehen würde. Vielleicht gab es doch noch Hoffnung für mich. Ich rannte los und bog ebenfalls um die Ecke.

Zuerst sah ich niemanden. Dann entdeckte ich weiter hinten Clouds roten Polo. Hörte ich gedämpfte Schreie? Mein Herz klopfte so laut, daß es mir schwerfiel, mich auf die Geräusche in meiner Umgebung zu konzentrieren. Ich stierte in die fahl erleuchtete Straße vor mir und sah, daß die Fahrertür des Polos offenstand. Davor kämpften zwei Menschen miteinander. Goldmähne hatte Cloud offensichtlich zu Boden geworfen, als sie ihr Auto aufgeschlossen hatte und wollte sie jetzt ins Auto zerren. Was sollte ich tun? Panisch schaute ich um mich. Jemand hatte achtlos alte Bretter auf den Bürgersteig geworfen. Offenbar renovierte jemand seine Wohnung und kümmerte sich nicht darum, seinen Müll fachgerecht zu entsorgen. Ich griff eines der Bretter und fing an zu rennen.
Zuerst wollte ich etwas rufen. Den Mistkerl von Cloud ablenken. Aber bei seiner kräftigen Statur sollte ich besser keinen offenen Kampf riskieren. Und wer sagt schon, daß Superhelden im fairen Kampf gewinnen müssen? Goldmähne war so damit beschäftigt, Cloud bewußtlos zu schlagen und ins Auto zu zerren, und ihr dabei gleichzeitig den Mund zuzuhalten, damit ihre Schreie niemanden alamieren konnten, daß er gar nicht bemerkte, wie ich plötzlich hinter ihm stand. Ich sah Clouds vor Entsetzen geweitete rehbraune Augen, erkannte gleichzeit das Flehen darin, als sie mich sah. Sie trat mit den Füßen nach ihrem Angreifer, der gerade zu einem erneuten Schlag gegen ihren Kopf ausholte, als ich mit voller Wucht das Holzbrett gegen seinen Schädel krachen ließ. Goldmähne wirbelte herum und starrte mich stumm an. Er wollte wohl gerade noch etwas sagen, als ich erneut mit voller Wucht zuschlug. Er torkelte zu Boden.
"Du Mistkerl!" schrie ich und trat ihm in die Seite. Goldmähne stöhnte leise, Blut strömte aus seinem Kopf auf den Bürgersteig. Aber er lebte noch. Umbringen wollte ich ihn auch nicht. "Laß sie zufrieden. Wage es ja nicht, jemals wieder auch nur ein Mädchen anzuschauen!" brüllte ich ihn an. Ich mußte mich beherrschen. Ich war kurz davor, gegen seinen Kopf zu treten. Aber ich wollte ihn ja nicht umbringen. Nicht ein Leben retten, indem ich ein anderes auslöschte, egal wie jämmerlich und abstoßend es auch sein mochte.
Goldmähne wimmerte leise, dann verlor er sein Bewußtsein. Ich drehte mich herum. Cloud saß mitgenommen auf dem Bürgersteig und rappelte sich langsam wieder empor. Sie starrte mich mit ihren weit aufgerissenen rehbraunen Augen an.
"D-d-danke", stotterte sie leise.
"Nicht der Rede wert", antwortete ich. Konversation mit Mädchen war immer noch nicht meine Stärke.
"Wenn du… wenn du nicht gewesen wärest…. mein Gott…"
"Es ist vorbei. Der Mistkerl tut dir nichts mehr."
"Wie heißt du eigentlich?"
Ich schaute in Clouds Augen. Ich glaubte, daß sich vorher ungeahnte Tore für mich öffneten. Jetzt die richtigen Worte… Aber ich war ein Monster, kein Mensch. Ich spürte die Sehnsucht in mir. Den schmerzhaften Drang, die leicht zitternde Cloud in meine Arme zu ziehen und nie mehr loszulassen. "Tu es!", raunte mir eine innere Stimme zu. Ich schüttelte meinen Kopf. Ich mußte weg. Ganz schnell weg.
"Du solltest jetzt nach Hause fahren, Cloud. Was arbeitest du überhaupt in diesem schäbigen Diner? Du bist so viel mehr wert. Fang etwas mit dir an. Starte eine Modelkarriere. Mach irgendwas. Aber hör auf, lüsternen Männern Bier zu servieren. Das hast du nicht verdient. Du bist kostbar!"
Cloud blickte mich schweigend an.
"Falls du die Polizei rufen möchtest, tu es. Ansonsten schlage ich vor, den Mistkerl hier in der Gosse liegen zu lassen. Fahr nach Hause, Cloud."
"Aber…" Cloud war anzumerken, daß sie nach dem gerade erlittenen Schock nicht allein sein wollte.
"Fahr nach Hause, Cloud", sagte ich so sanft wie möglich. "Und mach was aus deinem Leben. Lebewohl…"
Ich drehte mich um und ging die Straße hinunter. Nach einigen Schritten schaute ich zurück und sah, wie Cloud langsam in ihren Wagen einstieg und nach wenigen Sekunden den Anlasser betätigte. Ich war zufrieden. Endlich hatte ich die Jungfrau in Not gerettet.

Wenn ich gedacht hatte, daß dies nun meinen Fluch aufheben würde, mußte ich schnell feststellen, mich getäuscht zu haben. Nichts hatte sich geändert. Wenn ich nicht zwanghaft Frauen und Mädchen berührte, um mir wenigstens eine kleine Portion Wärme und Leben zu stehlen, ging es mir elend, so elend, daß meine Gedanken nur noch darum kreisten, wahllos Frauen zu berühren.
Ich betete immer noch nachts. Doch meine Gebete waren zorniger geworden. Meine Zwiesprache mit Gott, dem Teufel, irgendwelchen Engeln, Aliens oder Dämonen artete in Beschimpfungen aus. Ich verstand einfach nicht, warum ich immer noch mit meinem Fluch behaftet war.
"Was soll ich denn noch tun!" klagte ich.
Wenn ich die Augen schloß schienen mir Jacquelines blaßgrüne Augen die Antwort geben zu wollen. Nichts auf dieser Welt konnte ihr das Leben zurückgeben. Egal wieviele andere Menschen ich aus Notlagen erretten würde. Ich war für alle Zeiten verflucht und ausgestoßen. Ich vermißte Laura. Alles war vorbei. Keine Hoffnung mehr. Ich dachte wieder an den Tod. Dachte wieder daran, mich an Gott rächen zu wollen. Der Superschurke in mir war offenbar immer noch nicht erfolgreich vertrieben. Ich weinte mich durch die Nacht. Ich war allein. Für ewig und alle Zeiten. Und ich war nicht verrückt. Ich war Gottes Brandzeichen auf Erden. Symbol einer neuen Zeit. Ich haßte Gott. Ich haßte mich. Eines Tages würde ich meine Rache an allen nehmen. Es gab wirklich keine Hoffnung mehr. Weder für mich. Noch für die Welt.

Jahre sind vergangen. Jahre, in denen ich nach außen hin ein scheinbar normales Leben führte. Ich studierte weiter. Ich jobbte hier und dort, um mir etwas Geld zu verdienen. Und ich fuhr täglich im Feierabendverkehr Bus, um mir meine Portion Lebensenergie zu holen. Es war wenig, aber es reichte, um meine Gedanken einigermaßen auf normalen Bahnen zu lassen. Am Wochenende gab es dann stets sehr viel mehr für mich, wenn ich in den Discos zahllose Opfer zur Auswahl hatte, die oft gar nicht mal merkten, wenn man sie berührte.
Cloud tauchte nie wieder im Diner auf. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Es war auch nicht mehr wichtig. Manchmal fragte ich mich, ob mein Fluch deswegen nicht aufgehoben worden war, weil Cloud nicht wirklich eine holde Jungfrau gewesen war. Hold war sie, sicherlich… aber der Rest?
Meine Stimmungen schwankten zwischen depressiver Verzweiflung und rasendem Haß hin und her. Mehr als einmal hatte ich mich zurückhalten müssen, wenn ich kurz davor war, mir eine Frau im Bus oder in der Disco zu packen und sie zu Tode zu umarmen. Sollte die ganze Welt doch sehen, wie sie wirklich war. Ich, als Gottes sichtbares Zeichen auf Erden, daß es mit der Menschheit bergab ging.
Nach dem Terroranschlag in New York und der folgenden Welle des Wahnsinns, die sich um dem Globus verbreitete, fühlte ich mich nur bestätigt.
Wenn ich Bus fuhr war es mir zur Angewohnheit geworden, den Leuten zuzuschauen. Kleine Kinder fingerten an ihren Mobiltelefonen herum, um sich kurze Botschaften zu schicken, ohne miteinander zu reden. Männer wie Frauen stöpselten sich Kopfhörer in die Ohren und schotteten sich mit lauter Musik vom Rest der Umgebung ab. Was für eine trostlose Welt war es nur? Wo war die Liebe? Menschen hetzten von A nach B. Blind für ihre Umwelt, ohne jemals Zeit zu haben. Am schlimmsten waren die Jungverliebten. Wie sie aller Welt zeigen mußten, wie furchtbar gern sie sich hatten und knutschend im Buß saßen. Sicherlich flüsterten sie sich jede Nacht zu, wie sehr sie sich liebten. Wo in Wahrheit nur einige Chemikalien und egoistische Gene die Sinne benebelten und dafür sorgten, daß Nachkommen gezeugt werden.
Junge Mütter waren beinahe so schlimm wie Verliebte. Manchmal sah ich, wie an der Bushaltestelle eine Mutter noch schnell ihre Zigarette ausdrückte, ehe sie ihren Kinderwagen in den Bus hievte. Wie gerne hätte ich solchen Müttern auch noch das letzte Quentchen Leben herausgerissen. Ich war das Symbol allen Egoismus. Ein Raubtier. Immer wieder auch spürte ich den Wunsch in mir, andere Menschen ebenfalls unglücklich zu sehen. Was wohl die Mutter sagen würde, wenn ich ihr kleines Mädchen aus dem Kinderwagen nehmen und es vor ihren Augen genüßlich allen Lebens berauben würde? Sollte sie sich elend fühlen, mich hassen. Es wäre nichts, verglichen mit dem Haß, der in mir brodelte. Sicherlich konnten es die Menschen in meiner Umgebung spüren. Wenn ich mal ganz normal Bus fuhr und mich nicht in den Gang stellte, konnte ich davon ausgehen, immer allein zu sitzen. Beinahe niemand begab sich zu mir. Sie mußten es wittern. Nur älteren Männern schien es nichts auszumachen, neben mir zu sitzen.
Ich wandte dann immer meinen Blick ab. Ich wollte niemanden neben mir haben. In der Glasscheibe betrachtete mich meine Reflektion. Ein transparenter Schemen in der Welt. Es paßte zu mir. Mehr als ein transparenter Schemen war auch ich nicht. Substanzlos. Unbeachtet. Das bißchen Essenz, das ich hatte, mußte ich mir stehlen. Manchmal dachte ich an Liebe. Konnte man etwas oder jemanden lieben, das man zum täglichen Überleben brauchte? Liebte ein Raubtier sein Opfer, nur weil es ihm Nahrung bot? Letztlich waren es nur meine Gene, die nach einer Partnerin suchten.
Vielleicht sollte ich mich doch einliefern lassen. Auch wenn ich nicht verrückt war, war ich vielleicht am besten in einer Irrenanstalt aufgehoben. Ich wunderte mich, wie ich all die Zeit überhaupt noch ansatzweise eine normale Fassade aufrecht erhalten konnte. Doch allmählich fühlte ich, wie die Widerstände in mir dahinschmolzen. Der seit Jahren schon tröpfelnde Haß und Wahn hatte den letzten Rest Güte in mir ausgehöhlt. Nach Clouds Rettung und meiner ausgebliebenen Erlösung hatte ich keine Hoffnung mehr gehabt. Ich war eine Gefahr. Ich geriet allmählich zum Monster, das ich nie hatte sein wollen. Nichts spielte mehr eine Rolle.

Ich war in einer dieser Stimmungen als ich an einem heiteren Sommertag meiner täglichen Busroutine nachging. Ich war ein Profi im unauffälligen Berühren meiner Mitmenschen geworden. Der perfekte Parasit. Ich wollte kein Parasit mehr sein. Das Raubtier forderte immer öfter seine Freiheit ein. Lange könnte ich es nicht mehr im Zaum halten. Allmählich wurde es mir auch egal.
"Christian?"
Meine Gedanken fanden sich im Hier und Jetzt ein, als ich meinen Namen hörte. Eine ganz natürliche Reaktion. Der berühmte Partyeffekt eben, der es einem ermöglichte auch im größten Trubel noch den eigenen Namen heraushören zu können. Es geschah mir immer wieder mal. Mein Name war nicht selten genug.
"Christian!"
Die Stimme war näher gekommen und befand sich nun genau neben mir. Ich drehte mich herum.
Laura.
Ich erkannte sie sofort. Wie auch nicht? Ich hatte sie dereinst über fünf Monate lang beinahe jeden Tag stundenlang studiert. Hatte bei ihr gesessen. Täglich um ihr Wohl gebetet.
Laura…
Was ging hier vor?
"Christian! Ich bin so froh, dich zu sehen!"
Warum strahlte Laura so? Ich starrte sie an und verstand nicht, was passierte. Wie kam Laura hierher? Oder war ich am Ende doch wahnsinnig geworden und bildete mir das alles nur ein?
"Laura?" sprach ich mit stockender Stimme. Natürlich war es Laura. Ihre dunkelbraunen Haare waren noch etwas länger geworden und fielen ihr elegant in den Rücken. Ihre tiefblauen Augen strahlten mich an. Sie trug ein cremefarbenes Sommerkleid, das einfach wunderbar zu ihr paßte. Laura lächelte und ich konnte die kleinen Grübchen auf ihren Wangen sehen.
"Christian… oh verdammt… ich habe einen Termin. Ich muß gleich aussteigen. Wo warst du all die Jahre nur?"
"Wo ich war?"
"All die Jahre!" Lauras Augenbrauen zogen sich zusammen. "Als ich aus dem Koma erwachte erzählte man mir, daß du jeden Tag bei mir gewesen bist in all der Zeit. Ich wollte dich sprechen, konnte nicht verstehen, warum du mich nicht mehr besucht hast, als ich erwacht war. Was war nur los damals? Warum bist du nie mehr gekommen? Ich habe wochenlang nach dir gesucht, deine Eltern angerufen, die auch nicht wußten wo du warst. Keiner deiner Freunde hatte noch Kontakt zu dir. Oh bitte… bitte, wir müssen reden! Hast du heute abend Zeit? Gib mir doch deine Handynummer bitte!"
Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. Mein Körper zitterte und der Wunsch, Laura für alle Ewigkeit an mich zu ziehen, war kaum zu unterdrücken. Ich durfte sie nie wiedersehen! Sie nie wieder treffen! Oh Gott… Laura… in aller Pracht vor mir. Einen Kopf kleiner als ich, immer noch zierlich. Und immer noch so schön wie eine duftende Frühlingswiese im Sonnenlicht. Noch schöner sogar. Aus der Abiturientin war eine junge Frau geworden.
"Ich… ich habe Zeit… ja. Wollen wir etwas essen gehen vielleicht?"
Laura strahlte mich noch mehr an. "Sehr gern." Sie schaute aus dem Fenster. "Ich muß gleich aussteigen. Gib mir doch noch schnell deine Nummer bitte!"
Ich gab sie ihr.
"Ich bin so froh, dich getroffen zu haben, Christian! Bitte lauf nicht wieder weg, ja?" Sie strahlte mich immer noch an und winkte mir zu, als sie bereits am Ausgang stand und kurz noch in der offenen Bustür innehielt.
"Wir sehen uns heute abend, Laura." Ich lächelte ihr zu und winkte zurück.
Es gibt keine Zufälle im Leben. Was das hier ein erneuter Test? Eine erneute Qual, die sich Gott für mich ausgedacht hatte? Nun, ich konnte ahnen, was er wollte. Doch den Gefallen würde ich ihm nicht tun. Ich würde Laura nie mehr in meinem Leben berühren. Weil ich sie liebte. Vielleicht gab es doch noch Hoffnung für meine Seele.

Laura schickte mir kurze Zeit später ein Smiley auf mein Mobiltelefon mit der kurzen Nachricht, daß ich auf jeden Fall kommen sollte heute abend. Ich antwortete ihr, daß ich ein gemütliches Lokal wüßte, wo es gute Pizza gibt. Zwei Kurzmitteilungen später waren der Treffpunkt und die Uhrzeit ausgemacht. Die Bühne war vorbereitet. Das Schicksal konnte auftreten. Ich hatte Angst. Ich mußte diesen Test bestehen.

Laura trug noch ihr cremefarbenes Sommerkleid. Ihre Haare hatte sie zum Pferdeschwanz gebunden, der ihr lang in den Rücken fiel. Sie lächelte mich über die Speisekarte hinweg an. Sie hatte bemerkt, daß ich sie die ganze Zeit über angestarrt hatte. Zum Glück kam der Kellner wieder, um die Bestellung aufzunehmen.
"Ich hätte gerne eine Pizza Funghi Prosciutto. Ist die ohne Oliven oder Olivenöl?" fragte Laura.
"Tomatensauce, Kräuter, Käse, Schinken und Pilze, Signorina, keine Oliven."
"Sicher?"
"Si!"
"Dann nehme ich sie." Laura klappte die Speisekarte zu und reichte sie dem Kellner. Ich bestellte Spaghetti Bolognese.
Was sollte ich sagen? Was machte ich hier? Mein Herz pochte und pochte. Ich schwitzte, was nicht am lauen Sommerabend lag. Laura schaute mich aus ernsten Augen an.
"Weißt du, als ich damals aufgewacht bin und erfahren habe, daß all die Zeit du bei mir gewesen bist… da wußte ich es schon irgendwie."
"Du wußtest es?" Ich nippte nervös an meiner Cola.

"Selbst heute noch kann ich mich vage daran erinnern, daß du mit mir geredet hast all die Zeit… nur die Inhalte sind verschwommen. Ganz weit weg. Was genau hast du mir denn alles erzählt damals?"
Ich wollte nicht völlig lügen. "Ich habe dir Märchen vorgelesen."
Laura lachte vergnügt und schaute mich plötzlich ungeheuer zärtlich an. Ich war verloren, ich konnte den Test unmöglich bestehen!
"Märchen? Warte mal… Dornröschen vielleicht?"
Ich starrte sie an. Hatte sie etwa noch Erinnerungen an all die anderen Dinge, die ich ihr gestanden hatte? Von den grausamsten Verbrechen bis hin zum geflüsterten "Ich liebe Dich"?
"Woher…"
"Ich weiß es nicht. Vielleicht war ein Teil von mir wach, während der andere von mir im Koma lag. Ach Christian… warum hast du dich nie wieder blicken lassen?"
Ich antwortete nicht.
"Weißt du… an jenem Abend… auf der Abschlußfeier. Ich hatte dich nie zuvor bemerkt. Warum hast du mich an dem Abend angesprochen?"
Ich mußte allmählich etwas antworten. Was hatte ich noch zu verlieren? "Laura… du… ich…" Der Kellner rettete mich, indem er unser Essen brachte.
Wir aßen und Laura fragte mich über andere Dinge aus.
"Was hast du denn nun nach dem Abi damals gemacht?"
"Ich habe an der Fachhochschule Software Engineering studiert."
"Kein Wunder, daß ich dich nie gefunden habe an der Informatik. Warum hast du dich dafür entschieden?"
Ich nahm einen Löffelvoll Spaghetti und überlegte. Ich würde den Test in der Tat niemals bestehen. Oh Gott, wie zauberhaft sie war. Ich konnte selbst von der anderen Seite des Tisches ihre Ausstrahlung spüren. Ich wollte fliehen. Konnte aber nicht. Laura hatte mich im Bann.
"Als… als ich mich für das Studium bewarb lagst du noch im Koma. Ich… ich hätte niemals Informatik studieren können…"
Laura blickte mich schweigend an und wartete offenbar auf eine Erklärung.
"Ich meine… ohne dich. Die Erinnerung an dich im Krankenhaus. ich konnte einfach nicht.
"Oh, Christian…", sie streckte ihre rechte Hand nach mir aus, woraufhin ich rasch meine linke Hand zurückzog. Warum hatte sie keine Angst vor mir? Warum war sie nicht von mir abgestoßen wie alle anderen auch? Ich mußte ihr alles erzählen. Sie verdiente eine Erklärung. Dann würde sie endlich vor mir fliehen.
"Laura, ich würde gerne mit dir reden, aber nicht unbedingt hier. Wollen wir gleich noch etwas spazierengehen?"
"Natürlich, Christian." Lauras tiefblaue Augen musterten mich. Ich würde versagen. Laura, oh Laura… warum nur mußtest du mich treffen?
Als wir den Rest unserer Mahlzeit aßen klärte mich Laura über die letzten sieben Jahre ihres Lebens auf. Sie hatte nach dem Koma noch eine Weile im Krankenhaus gelegen. Man hatte ihre Muskulatur wieder aufgebaut und bald konnte sie das Bett auch wieder verlassen. Schäden waren nicht zurückgeblieben. Sie hatte begonnen, Informatik zu studieren und befand sich im letzten Semester, ich selbst hatte mein Studium letztes Jahr bereits beendet. Als ich sie fragte, ob sie verheiratet sei, lachte Laura vergnügt. "Siehst du irgendwo einen Ring an meinen Fingern?" Sie streckte mir ihre kleinen Hände entgegen. Ich zog meine sofort zurück, um nicht in Gefahr zu laufen, sie auch nur aus Versehen zu berühren. Laura trug keinen Ring. Weiterhin erfuhr ich, daß ihr Vater immer noch im Vorstand seiner Firma und viel unterwegs war. Er hatte ihr damals von seinem Treffen mit mir im Krankenhaus erzählt. Was uns wieder zu mir brachte. Wir zahlten schnell, als wir fertig gegessen hatten und verließen das Lokal. Ich wollte keine Zeugen haben für das, was ich ihr erzählen würde. Und ich hatte Angst.

Wir hatten uns an einer Bank an der Alster niedergelassen. Die tiefstehende Sommersonne glitzerte golden auf dem Wasser, auf dem vereinzelt noch Segelschiffe und kleine Ruderboote zu sehen waren.
"Es gab einen Grund, warum ich dich damals nicht mehr besucht habe, Laura", sagte ich schließlich, nachdem wir beiden eine Weile schweigend auf das Wasser geschaut hatten.
"Welchen nur, Christian? Was würdest du von einem Menschen denken, der dich jeden Tag stundenlang im Krankenhaus besucht? Dir seine Zeit schenkt, für dich da ist, auch wenn du selbst davon nicht wirklich etwas mitbekommst? Mein Vater und du waren am Schluß die einzigen Menschen, die zu mir kamen. Warum kamst du nicht, als ich erwacht war, Christian?"
Laura wirkte sichtlich verwirrt und betrübt.
"Du hast dich das all die Jahre gefragt, oder?"
Laura nickte stumm.
Ich holte tief Luft. Ihre Nähe war greifbar. Sie saß so dicht neben mir auf der Bank. Ich hatte darauf geachtet, daß zwischen uns beiden eine Lücke blieb. Ich konnte mir nicht erklären, warum Laura nicht von mir abgestoßen war.
"Was würde ich von so einem Menschen halten… ich glaube… ich glaube, dieser Mensch müßte dich sehr, sehr gern haben, Laura. Und genau aus diesem Grund konnte er dich nicht mehr sehen, als du wach warst."
"Wieso das?" Laura machte aus ihrer Verwirrung keinen Hehl.
Wie zauberhaft sie war. Die goldene Sonne ließ ihre dunkelbraunen Haare glänzen. Sie trug sie wieder offen, nachdem wir das Restaurant verlassen hatten. Ihre Hände spielten mit dem schwarzen Haarband. Ich schloß kurz meine Augen. Zuerst erzählte ich stockend und langsam. Nach einer kleinen Weile wurde meine Stimme etwas fester, nur um wieder zittrig zu werden, als ich die tiefsten Tiefen erreichte. Aber es mußte sein. Laura verdiente eine Erklärung. Ich erzählte ihr alles. Angefangen von ihrem Zusammenbruch auf der Abiturfeier bis zum heutigen Tag, als mich Laura getroffen hatte. Mein Herz klopfte wild. Meine Hände zitterten. Ich wußte, entweder würde Laura davonlaufen oder einen Arzt holen. So ich mich denn nur beherrschen konnte und sie nicht berührte. Süße, zauberhafte Laura.
Sie starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Die Sonne war in der Zwischenzeit untergegangen und die blaue Stunde hatte Einzug gehalten. Jene kostbaren Minuten zwischen Sonnenuntergang und Einbruch der Nacht. Der Himmel war tiefblau. Vereinzelt glitzerten erste Sterne am Firmament. Ich wagte es nicht, Laura in die Augen zu sehen.
"Du… du… hast das nicht erfunden?"
Ich schüttelte meinen Kopf. Tränen rannen über meine Wangen. Ich wischte sie schnell weg.
"Natürlich hast du das nicht… oh mein Gott… Christian…"
"Hat es dir denn nie jemand gesagt?" fuhr Laura nach einer kleinen Pause fort.
Ich drehte meinen Kopf zu ihr und blickte sie fragend an. "Was gesagt?" flüsterte ich.
"Warum ich zusammengebrochen bin."
Ich hatte weder Ärzte noch Krankenschwestern jemals danach gefragt. Warum auch. Der Grund für Lauras Koma war eindeutig gewesen. Ich schüttelte also meinen Kopf.
"Ich erlitt an jenem Abend einen anaphylaktischen Schock."
Ich blickte sie erstaunt an. Ich konnte ihr nicht glauben.
"Ich bin allergisch gegen alles, was Oliven enthält. An jenem Abend, als ich den Salat aß… ich hatte vorher gefragt, ob vielleicht der Salat Oliven enthält oder mit Olivenöl angemacht war. Die Mutter von Tobias hatte nein gesagt. Sie hat sich damals schlicht geirrt. Vielleicht hat sie mich über die laute Musik hinweg auch einfach falsch verstanden. Es befand sich Olivenöl am Salat. Oh mein Gott, Christian… hast du dir all die Jahre die Schuld an meinem Koma gegeben?"
Laura wirkte aufgewühlt. Mitgenommen.
"Was… was meinst du… einen anaphylaktischen Schock? Wie kann das sein…" Ich murmelte leise wirres Zeug vor mich hin.
"Das dämliche Olivenöl hat mich damals ins Koma geschickt. Christian… hat es dir denn wirklich nie jemand gesagt? Das ist doch alles Irrsinn. Du bist niemals schuld an meinem Zusammenbruch gewesen!"
"Irrsinn? Jacqueline Irrsinn? Sie starb in meinen Armen!"
"Hast du jemals daran gedacht, daß es auch nur Zufall gewesen sein kann?"
"Dreimal?" Warum wollte Laura die Wahrheit nicht erkennen? Daß ich ein Monster war?
"Vielleicht auch dreimal."
"Es gibt keine Zufälle. War es Zufall, daß wir beiden uns heute getroffen haben, Laura?"
Laura schwieg kurz. "Vielleicht nicht. Vielleicht gibt es tatsächlich keine Zufälle. Aber sie müssen nicht das bedeuten, was du in ihnen siehst. Ich sehe in dir einen Menschen, der zu Tode geängstigt sich die Schuld daran gegeben hat, daß ich ins Koma gefallen bin. Ich sehe einen Menschen, der über fünf Monate lang an meiner Seite war und mich vielleicht sogar zurück ins Leben geholt hat, der verhindert hat, daß das Koma mich gänzlich in die Tiefe ziehen konnte. Ich sehe einen Menschen, der einer fremden Frau das Leben gerettet, sie zumindest aber vor einer schrecklichen Vergewaltigung bewahrt hat."
"Jacqueline…."
"Hieß es bei ihr nicht, daß sie an einer unglücklichen Mixtur aus zuviel Drogen und Alkohol gestorben ist? Du hast es selbst gesagt!"
"Ich war bei ihr… ich habe sie sogar dann noch geküßt, als sie schon im Sterben lag!"
"Glaubst du, die Ärzte irren sich so sehr?"
Ich wußte gar nichts mehr. Ich zitterte am ganzen Leib und konnte nicht verhindern, daß Tränen in Strömen flossen. Es konnte einfach nicht sein, daß die letzten sieben Jahre sich wie ein Vexierbild von einer häßlichen Fratze in ein schönes Gesicht verkehren sollten. Ich wußte, was geschehen war!
"Christian… es gibt einen ganz einfachen Weg, die Wahrheit herauszufinden."
"W-w-was meinst du damit?" Ich starrte Laura an.
Sie stand von der Bank auf. Ich dachte, daß sie jetzt fortlaufen, oder einfach einen Arzt rufen würde, der meinen Irrsinn ganz sicher diagnostizieren würde.
Statt dessen stand sie vor mir und kam einen Schritt näher.
"Was machst du?" fragte ich bestürzt. Ich starrte sie angsterfüllt an, wie sie im tiefblauen Licht des Sommerabends wie eine zauberhafte Fee aussah.
Laura kam einen weiteren Schritt näher bis sie unmittelbar vor mir stand. Ich wollte fliehen, von der Bank stürzen und weglaufen. Bei Gott, ich wollte es.
Laura berührte mein Gesicht und ich spürte sofort, wie ihre Wärme meine Wange durchzog. "Nein, Laura… NEIN!" "Schhhh", flüsterte Laura leise. Ich hatte versagt. Der letzte Test war mein Untergang. Meine Seele verloren. Ich wollte fliehen. Doch mein Körper war stärker als der letzte Rest an Willen, den ich aufbringen konnte. Wie gelähmt blieb ich auf der Bank sitzen. Ich zitterte stärker als zuvor.
"Schhhh", machte Laura erneut, als sie sich auf meinen Schoß setzte, meinen Oberkörper umarmte und fest an sich drückte. Ich wollte sie wegstoßen. Ich konnte es nicht. Ich weinte unkontrolliert an Lauras Brust und spürte nur noch, wie meine Hände ihren Oberkörper umfaßten, wie Laura mich an ihre Brust schmiegte. Ihr Herz klopfte leise und der zarte blumige Duft ihrer Haut umströmte mich. Über allem thronte ihre Wärme, ihre kostbare Wärme, die mit jedem Schlag ihres Herzens in mich hineinströmte. Ich wußte mir nicht anders zu helfen. Ich konnte nicht Schuld an Lauras Tod sein. Mit letzter Kraft öffnete ich mich und bemühte mich, ihr all die Wärme zu geben, die in mir war. Laura mußte leben.
Irgendwann hörte ich auf zu zittern. Die späte Abendluft war still. Nur das sanfte Schnattern der Enten am Ufer war noch zu hören.

Seitdem sind sechs Monate vergangen. Es ist Nacht und ich sitze hier an meinem Schreibtisch. Ich habe nochmal meine Aufzeichnungen der letzten Jahre durchgesehen. Sie wirken wie Botschaften aus einem anderen Leben. Aber ich war niemals wahnsinnig. Die Vergangenheit ist real. Dessen bin ich mir auch heute noch sicher. Doch was meine Vergangenheit bedeutet, das steht auf einem anderen Blatt.
Ich schreibe hier jetzt weil ich glaube, daß ich auch den Moment jetzt, die letzten Monate, festhalten muß. Ich möchte es einfangen. Es irgendwann noch einmal lesen können, falls ich jemals wieder zweifeln sollte.
An jenem Abend vor einem halben Jahr änderte sich vieles. Laura überlebte. Ich weiß nicht warum. Waren die Geschehnisse der vergangenen Jahre tatsächlich nur Zufälle gewesen? Mein Fluch ein Irrtum meiner verwirrten Seele? Vielleicht lag es auch daran, daß ich zum allerersten Mal in meinem Leben einem anderen Menschen aufrichtig etwas geben wollte, etwas von mir. Ich wollte nicht Lauras Wärme empfangen und wie ein Parasit in mich aufsaugen, sondern stattdessen alles von mir geben. Vielleicht hat ihr das das Leben gerettet und den Bann ein für allemal gebrochen. Vielleicht auch nicht. Ich werde es wohl niemals wirklich mehr herausfinden. Zählt letztlich nicht auch nur das Ergebnis?
An jenem Abend kam Laura mit zu mir nach Hause. Wir unterhielten uns leise bei Kerzenlicht. Doch zumeist sah ich sie nur stumm an. Es würde noch eine kleine Weile dauern, ehe ich mich an die Nähe eines anderen Menschen gewöhnen sollte. Irgendwann ging ich an meine Stereoanlage und kramte eine CD hervor.
"Die habe ich seit sieben Jahren nicht mehr gehört", verriet ich Laura.
Sie schaute mich fragend an.
Ich legte die CD ein und suchte mir das gewünschte Lied aus. Ein Piano erklang.
"When I'm feeling blue, all I have to do, is take a look at you…"
Es war mir egal, daß mir Tränen erneut in die Augen schossen. Ich sah, wie Laura auch plötzlich etwas von ihrer Wange strich. Sie erhob sich und kam in meine Arme.
"Ich habe darauf sieben Jahre gewartet", flüsterte ich Laura leise zu, als wir beiden endlich das nachholten, was vor so langer Zeit seinen Anfang genommen hatte. Wir tanzten selbst dann noch, als Phil Collins lange schon verklungen war.
Später in der Nacht lagen wir gemeinsam auf dem Bett und unterhielten uns wieder leise. Ich ertappte mich dabei, wie ich manchmal lächelte. Lauras Nähe war immer noch berauschend. Doch ich hatte keine Angst mehr, sie in die Arme zu nehmen und festzuhalten. Noch war ich ihr nicht viel näher gekommen. Ich war dafür noch nicht bereit.
Als wir beiden uns erneut eine Weile schweigend angeschaut hatten unterbrach Laura die Stille schließlich. "Magst du mir ein Märchen erzählen?"
Meine Lippen erbebten. "N-natürlich… welches möchtest du hören?"
"Dornröschen", hauchte Laura.
Ich kannte das Märchen immer noch auswendig. Und so erzählte ich es ihr bis zum glücklichen Ende.
"Du darfst die Prinzessin jetzt küssen… Dummkopf", flüsterte Laura kaum hörbar, als ich sie danach wieder nur schweigend studierte. Sie lächelte mich an.
Also küßte ich sie. Es war der dritte Kuß in meinem Leben. Der erste, den ich einer Frau gab, die ich aufrichtig liebte. Ich kann mit Recht behaupten, daß es der schönste war. Jacqueline tauchte vor meinem geistigen Auge auf. Ihre blaßgrünen Augen wirkten nicht mehr so anklagend wie all die Jahre zuvor. Sie waren nur traurig. Traurig darüber, so jung und sinnlos gestorben zu sein.
Zu Anfang habe ich geschrieben, ich sei nicht verrückt. Dazu stehe ich. Aber vielleicht wäre "Es war einmal" rückblickend betrachtet der bessere Anfang gewesen. Die letzten sechs Monate mit Laura haben alles geändert. Wo vorher Haß und blanker Zynismus regierten, hat Laura meine Augen nachhaltig geöffnet. Liebe ist real. Es mag gern sein, daß Chemikalien mich durchfluteten und meine Gene jubilierten, als wir beiden das erste Mal uns küßten und einen Tag später miteinander schliefen. Meine Seele besteht nicht aus Chemie. Und das Glück in mir ist keine Illusion egoistischer Gene. Ich liebe Laura um ihrer selbst willen. Nicht, weil ich ihre Wärme spüren will. Sondern damit ich ihr all die Liebe geben kann, die sie verdient.
Ich bin nicht Gottes Fackel auf Erden. Kein Racheengel. Wir alle sind sein Leuchtfeuer. Die Liebe zwischen uns läßt uns erstrahlen. Es hat lange gebraucht für mich, das zu erkennen. Doch kein Zeitpunkt ist dafür zu spät.
Der Anfang meiner Geschichte steht geschrieben. Wie sieht das Ende aus? "Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende…" Wird es so sein? Ich weiß es nicht, kann es nur hoffen und daran arbeiten. Ich weiß aber, daß, als ich Dornröschen küßte, sie mich aufweckte und aus einem Alptraum riß. Es ist nie zu spät, aufzuwachen. Jeder neue Tag mit Laura ist ein Geschenk. Ich weiß endlich: Märchen können wahr werden. Und selbst böse Flüche haben ein Ende.
Jetzt gehe ich zu Laura zurück ins Bett. Ich freue mich auf morgen.

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