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Weihnachts-Showdown

Die Vorweihnachtszeit ist die Hölle. Aus einem mir nicht bekannten Grund benehmen sich 95% meiner Mitmenschen wie die letzten Menschen - vielleicht um sich unter dem Weihnachtsbaum besser versöhnen zu können. Von Panikattacken geschüttelt, hetzt der Mob durch die Stadt, geifert jeder noch so ärmlichen Tanne hinterher und hat keinerlei Hemmungen, seinem Vordermann per Anrempler den Glühwein über den Mantel zu gießen. Jede noch so groteske Szene ist möglich, die niedrigsten Instinkte werden geweckt. Beispiel Supermarkt: Ein Einkaufswagen, bestückt mit einer vorbestellten Weihnachtsgans, steht unbewacht in einer Regalpassage. Ein mit grünem Lodenmantel und Gamsbarthut gekleideter älterer Herr erspäht den Wagen, zögert kurz und entscheidet sich nach zwei Seitenblicken, den Wagen gegen den seinen zu tauschen - um den häuslichen Weihnachtsfrieden zu retten. Besagter Herr hat nämlich vorher vergeblich versucht, eine Gans käuflich zu erstehen, was am 24.12. vormittags in etwa dem Versuch des Sheriffs von Nottingham entspricht, ein Fuhre Gold heil durch den Sherwood Forrest zu bringen.

Normalerweise wäre dieser Mann in der Lage, jeden mit seiner Schrotflinte zu killen, der seine Vorgartenzwerge auch nur berührt, aber in dieser Situation ist die Lage ganz anders. Wenn er nämlich ohne Weihnachtsgans zu Hause auftaucht, wird seine Frau stinksauer, jeglichen Ersatz als ungenügend zurückweisen und somit der nach langen, zermürbenden Diskussionen ausgehandelte außerordentliche Stammtisch am ersten Weihnachtsfeiertag in ernster Gefahr sein. Es handelt sich also nicht um Diebstahl, der andere Wagenschieber hat ja außerdem noch gar nicht bezahlt, sondern um eine nationale Notlage, in der andere Regeln gelten.

Just in dem Moment als er zugreifen will, kommt der eigentliche Besitzer, ein Wildlederjacken tragender Gemeinschaftskunde-Lehrer, Typ Alt-68er, mit zwei Kisten Ökowein bewaffnet um die Ecke. Etwas verdutzt spricht er den Lodenmantel an :
"Ich glaube, hier liegt eine Verwechslung vor".
Anstatt die ihm gebaute goldene Brücke zu benutzen, antwortet der Lodenmantel: "Keineswegs junger Mann, das hier ist MEIN EINKAUFSWAGEN".

"Aber da stehen doch meine Sachen drin, Sie sehen nicht so aus, als ob Sie Vollwertkost essen".
"DAS GEHT SIE ÜBERHAUPT NICHTS AN; NEHMEN SIE GEFÄLLIGST IHRE UNGEWASCHENEN PFOTEN VON MEINEM EINKAUFSWAGEN".
Angelockt von dem wilden Geschrei versammelt sich eine gaffende Menschentraube nach dem Motto "Ein Tag ohne Blut ist kein schöner Tag" um die beiden.
Während des weiteren verbalen Schlagabtauschs greift der Lodenmantel nach der Weihnachtsgans und unternimmt einen Fluchtversuch, der an dem camping-gestählten Griff des Lehrers scheitert. Daraufhin schallt eine Stimme aus dem Pulk: "Eberhard, Eberhard was ist denn los, kann ich dir helfen" und zu der Wildlederjacke: " Lassen Sie sofort den Mann los, Sie subversiver Chaot, das ist mein Nachbar."
Aus einer anderen Ecke meldet sich eine Jogginghose mit den Worten:
"Auch wenn das dein Nachbar ist, muss er noch lange nicht Recht haben".
Da jetzt jeder der beiden einen Mitstreiter bekommen hat, kommt der Tumult erst richtig in Gang und wird mit allen greifbaren Gegenständen ausgetragen. Zahlreiche Verkäufer und Verkäuferrinnen eilen herbei und probieren die aufgebrachte Menge in den Griff zu bekommen, vergrößern das Chaos aber eher, da wiederum andere Kunden nun die Nase voll haben und endlich bedient werden wollen, z.B. vorbestellte Weihnachtsgänse abholen. Zwei nietenbeschlagene Lederjacken nutzen die Gunst der Stunde, plündern die herrenlose Fleischtheke und machen sich aus dem Staub. Das wiederum sieht der Marktleiter aus seinem erhöht platzierten Büro und beschließt nun, trotz der drohenden schlechten Publicity die Polizei zu rufen, nachdem er einen großen Schluck Cognac aus dem Geheimfach seines Schreibtisches genommen hat. Die mit schwerem Gerät herbeigeeilte Polizei schneidet Stunden später den ohnmächtigen Lodenmantel aus den Stahlregalen, die ziemlich verwüstete Weihnachtsgans immer noch fest an die Brust gepresst. Zu "Ihr Kinderlein kommet" wird er aus dem Supermarkt transportiert und künstlich beatmet. Die ebenfalls stark lädierte Wildlederjacke sitzt in einer Tiefkühltruhe und stammelt:
"Potemkin, Potemkin".

Schlagzeile des Lokal-Anzeigers 27. Dezember: "Durch einen technischen Defekt ist am 24.12., Vormittags, gegen 10.00 Uhr in einem Supermarkt eine Massenpanik ausgelöst worden."

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