© der Geschichte: Ewgenij Sokolovski. Nicht unerlaubt
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Das Unternehmen

Eines Tages wachte Franz mit einem dröhnenden Kopf und furchtbarer Übelkeit auf. Langsam versuchte er die vom Schlaf noch verklebten Augen aufzumachen. Das war ein Fehler. Kaum drang ein Lichtstrahl durch die halbgeöffneten Lider, stieg das Dröhnen im Kopf ins Unermessliche. Als ob Tausend kleine Zwerge in seinem Kopf eine Goldmine gefunden und jetzt mit ihren teuflischen Werkzeugen dort fleißig Bergbau betrieben hätten.

Erschrocken schnappte Franz die Lider wieder zu und versuchte stattdessen seine Glieder zu strecken. Die Folgen davon waren zwar nicht so katastrophal wie die vom Augenaufmachen, die Nachwirkungen von einem nicht gerade ruhigen Abend waren jedoch nicht zu übersehen. Der ganze Körper schmerzte bei jedem Bewegungsversuch, und so entschied Franz, es für eine Zeitlang zu lassen. Stattdessen versuchte er die Erinnerung vom letzten Tag in seinem Gedächtnis aufzurufen. Das war aber nicht so leicht, wie man sich vielleicht denken konnte. Die Erinnerung bestand aus einzelnen Bildfetzen und undeutlichen Phrasen, die sich jedem Versuch, sie zeitlich einzuordnen, mit Erfolg widersetzen konnten. Nach einer Weile hat Franz auch das aufgegeben. "Später, alles später. Wenn ich mich endlich wie ein normaler Mensch fühle" dachte er. So lag er da, vielleicht eine halbe, vielleicht auch eine ganze Stunde. Schließlich beschloss er, es mit dem Aufstehen doch aufzunehmen. Langsam, ganz langsam drehte Franz sich auf dem Bett herum, stellte die Füße auf den Boden und richtete sich noch langsamer auf. Es passierte nichts. Ermuntert durch seinen Erfolg, machte er ein paar kleine Schritte Richtung Küche. Das hätte er aber doch lassen sollen. Die schon fast vergessene Übelkeit stieg ihm den Hals herauf, und man kann von Glück reden, dass er es bis zur Toilette geschafft hat. Nach dem erfolgreichen Magenentleeren, fühlte sich unser Held schon viel besser. Kaum zu glauben, aber er hat sogar bald einen Bärenhunger gekriegt. So latschte Franz zum Kühlschrank in der Hoffnung, dort etwas Essbares zu finden. Die Hoffnung war jedoch vergebens. Aus irgendeinem Grund (aus welchem konnte er sich ja nicht erinnern) war der Kühlschrank, sowie die darunter stehende Kühltruhe genauso voll wie sein eben entleerter Magen. Ach ne, falsch. Ganz weit, in der linken Ecke ersah Franz eine übriggebliebene Milchschnitte, die er sogleich mit der Gier eines Verhungernden verschlang. Mehr war aber trotz aller Suche nicht da.

"Ist nicht so schlimm" überlegte Franz. Schließlich haben wir ja, was haben wir da? Ein kurzer Blick durchs Fenster. Ja, viele Leute auf der Straße - also ein Werktag. Dann kann man ja einkaufen gehen. Rasch zog er sich an, nahm sein Portmonat, halt! Der Portmonat war verdächtig leicht. Ein kurzer Blick hinein, Scheiße!!! Nur ein elender Zehnmarkschein! Wo ist denn das ganze Geld hin? Keine Ahnung antwortete sein widerspenstiges Gedächtnis. Na ja, mit einem Zehnmarkschein kann man nicht gerade viel anfangen, für was zum Essen reicht es aber schon. Also, nur Mut. Franz ging aus dem Haus ins nächste Geschäft und versorgte sich mit Lebensmitteln in Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten. Eine halbe Stunde später saß er am Küchentisch und kaute das letzte Brötchen fertig. Seine Gedanken waren ziemlich trübe und der Verstand finster. Mittlerweile erinnerte er sich an alles, was gestern geschehen ist. Er hat mit Freunden den Verlust seiner Arbeit gefeiert. Für Manche wird dieser Anlass wahrscheinlich komisch erscheinen, aber für Franz und seine Freunde war jedes Ereignis ein Grund zum Feiern. Hauptsache man kann saufen bis zum Umfallen, ist doch egal unter welchem Vorwand. Einmal hat ihm diese Einstellung schon einen Job gekostet, als er nämlich zum Begräbnis seines Chefs in einem ziemlich angeheiterten Zustand kam. Das ist jedoch eine ganz andere Geschichte, wollen wir uns nicht ablenken lassen. Also, Franz hat den Verlust seiner Arbeit gefeiert, wozu er das ganze restliche Geld gebraucht hat. Die ein paar Pfennige, die nach den Einkäufen noch in der Manteltasche übrigblieben, betrugen sein gesamtes Vermögen zum Zeitpunkt. Die Richtung seines Gedankenflusses war demnach leicht vorauszusagen, er dachte nämlich intensiv darüber nach, wo man wohl in so einer Situation ein bisschen Kohle besorgen könnte. Das erste, was ihm einfiel, waren seine Eltern. Die haben schließlich schon immer ihrem Lieblingssohn aus der Patsche geholfen. Dann verwarf Franz doch den Gedanken. Beim letzten Mal hat der Vater ihm gedroht, ihn die Treppe hinunterzuwerfen, sollte er wieder zu ihnen betteln kommen. Die Möglichkeit fiel also schon mal weg. Was blieb übrig? Da war noch seine Tante. Die hat ihm aber auch mittlerweile mit ähnlichen Folgen seines Kommens wie der Vater gedroht. Die liebe Frau fiel also auch weg. Von Freunden braucht man überhaupt nicht zu denken, die haben eher nie Geld. Wenigstens sagen sie so.

Die einzige Person auf der Welt, die dem Franz noch in den Sinn kam, war seine Exfrau. Trotz ihrer Scheidung, hatten sie noch ein gutes Verhältnis zueinander, und soweit er sich erinnern konnte, hat er sie nicht mehr als fünf Mal um Geld gebeten. Und drei Mal von diesen fünf kriegte sie das Geld sogar nach einer Weile zurück. Für Franz schon eine fast unglaubliche Leistung. Ja, ja, es existierte eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass diese Frau ihm wirklich behilflich sein könnte. Zu dieser Zeit ist sie sogar normalerweise schon zu Hause. Was sitzt er also hier rum?! Schnell zu ihr, damit man auch morgen was zum Essen hat. Gesagt - getan.

Die Exfrau von Franz wohnte am anderen Ende der Stadt, so dass er für den Weg zu ihr das letzte Geld verbraucht hat. Jetzt bestand nur die Hoffnung, dass sie ihm wenigstens etwas gibt, damit er nach Hause kommen kann. Notfalls könnte man sie ja dadurch erpressen, dass er bei ihr solange bleiben wird, bis sie ihm Geld für den Rückweg gibt. Das Treppenhaus war dunkel und es verging eine beträchtliche Zeit bis Franz den Stockwerk und die Tür seiner Exfrau fand. Schließlich war er schon seit einer Ewigkeit nicht mehr bei ihr. An der Tür hörte er irgendwelche komischen Geräusche. Es hörte sich so an, als ob jemand mit einer tiefen, gedehnten Stimme etwas vor sich hin gemurmelt hätte. "Was das wohl sein könnte?", - wunderte sich Franz. Na ja, bald wird er es sehen. Entschlossen drückte er den Knopf der Klingel in die Wand hinein. Ein leichtes Summen drang aus der Wohnung. Die Stimme brach abrupt ab, und nach einer kurzen Weile hörte Franz leise Schritte Richtung Tür. Dann wurde sie spaltbreit aufgemacht. Es war dunkel in der Wohnung, doch konnte er trotzdem erkennen, das die Frau an der Tür alles andere als seine Exfrau war. Sie war viel kleiner, älter und schmählicher als die Luise und trug dazu noch eine Unmenge von Make-up auf dem Gesicht. "Entschuldigung" fragte er verstört. "Aber sagen Sie, ist das nicht die Wohnung von Luise Schreiner?".

"Doch, doch" antwortete die Frau. "Das ist ihre Wohnung, sie kann aber jetzt unmöglich mit ihnen sprechen. Sie ist noch nicht vollständig zurückgekommen. Die Meisterin ist noch bei ihr und begleitet sie auf dem Rückweg in das Leben."

" Hören Sie" meinte Franz müde. "Ich weiß wirklich nicht, was Sie mit der ganzen Sache meinen, aber ich muss wirklich dringend die Luise sprechen. Es geht um Leben oder Tod."

"Junger Mann, was wollen Sie denn vom Tode wissen? Von dieser geheimnisvollen Welt des Jenseits, wo nur die Auserwählten von den Lebenden für eine kurze Zeit hineinschauen dürfen. Wagen Sie nicht von Dingen zu sprechen, wovon Sie nicht die geringste Ahnung haben. Denn dafür wurde die Menschheit schon in ihrer gesamten Geschichte, von Adams Zeiten bis heute auf fürchterliche Weise bestraft."

Langsam bekam Franz den Eindruck, dass die alte Hexe nicht ganz bei sich war. Aber ehrlich gesagt, es war ihm auch scheißegal. Er kam hierher nicht wegen ihr, sondern wegen der Kohle. Also muss Luise her, unabhängig davon auf welchem Weg sie da auch immer war.

"So, jetzt hören Sie mal" meinte Franz. " Sagen Sie mir endlich, ist sie zu Hause oder ist sie nicht? Und wenn nicht, dann wann kommt sie zurück? Und außerdem bin ich ihr Exmann, würden Sie mich bitte in die Wohnung reinlassen."

"Ich sage Ihnen doch, sie ist zu Hause. Aber momentan ist Luise nicht für Sie zu sprechen. Aber Sie verstehen ja nichts davon. Ich sehe schon, Sie sind einer von denen. Von den ungläubigen Seelen, die am Tage des Jüngsten Gerichts mit untergehen werden. Doch Ihre Frau hat den Fuß auf den richtigen Weg gesetzt und sie wird gerettet werden. Unter der weisen Führung von Meisterin Mathilda."

Jetzt hatte Franz aber wirklich genug. Er hat sein Job verloren, kein Pfennig in der Tasche und diese Hexe da will ihn noch dazu mit ihrem psychisch gestörten Kram voll stopfen. Er nahm die Alte am Kragen, schob sie ziemlich unhöflich beiseite und betrat endlich den Flur. Es war stockfinster in der Wohnung, sodass er sofort gegen eine Blumenvase gelaufen ist, die mit einem Krach am Fußboden zerschellte. Die Alte hinter seinem Rücken schnappte nach dem Atem, war wahrscheinlich einem solchen Umgang nicht gewohnt. Nach einer kurzen Weile gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und er merkte, dass es doch ein bisschen Licht gab. Es drang aus dem Schlafzimmer, soweit er sich an die Wohnung erinnern konnte. Ein schimmerndes, schwaches Licht, dass bestenfalls nur einem Lemuren genügen würde. Und vielleicht der verrückten Alten hinter ihm.

Mit den Armen um sich herumtastend begab sich Franz zum Schlafzimmer, wo er ein wirklich äußerst ungewöhnliches Bild sah. Seine Ex Luise lag mit geschlossenen Augen auf einem Bett in der Ecke des Zimmers. Das Bett war von einem Halbkreis von halbverbrannten Kerzen umgeben, die das aus dem Flur sichtbare Licht ausstrahlten. Die Flammen der Kerzen flackerten im Zugwind. Neben dem Bett kniete eine nach mittelalterlichen Art angezogene Frau, die etwas leise vor sich hin murmelte. Als Franz sich dem komischen Paar näherte, sah er, dass die kniende Frau, wahrscheinlich die "Meisterin", aus einem sehr alt erscheinenden Buch etwas vorlas. Die beiden Frauen schienen ihn gar nicht zu bemerken, anscheinend haben sie auch nichts von seiner Konfrontation mit ihrem "Türwächter" mitgekriegt. Wie dem auch sei, jetzt wollte er ihre Ruhe stören. "Hallooo" rief er. Nicht die geringste Reaktion. "Äh? Wollen die zwei mich verarschen oder was?" dachte Franz.

"OK, kein Problem. Wenn ihr ein Spielchen spielen wollt, spiele ich gerne mal mit" sagte er und pustete dabei fünf der Kerzen aus. Dies schien endlich eine Wirkung zu haben. Die kniende Frau drehte sich langsam um. Das hätte sie aber doch lieber lassen sollen, ihr Alter schien noch fortgeschrittener als bei der Türwächterin zu sein, und das Gesicht erinnerte Franz an seinen alten und verkrusteten Badeschwamm, den er letzte Woche dem Mülleimer überführt hat. Jetzt schien der Schwamm aus dem Totenreich zurückgekehrt zu sein.

"Hey, Sie" rief die "Meisterin" empört, "sind Sie denn im Begriff, was Sie mit Ihrer Tat begangen haben?". " Wissen Sie, dass Sie eben den höchsten Augenblick, den diese arme verlorene Seele je erlebt hat, unterbrochen haben? Es kostete mir Stunden und Stunden von Arbeit, sie in diesen Zustand zu bringen und ihren Geist von all dem irdischen Kram zu befreien, der die Köpfe der Menschheit heutzutage zu beherrschen scheint. Und da kommen Sie, der nichts von diesem heiligen Ritual versteht und zerstören alles. Und ich weiß nicht, wann die Sterne noch Mal so günstig stehen werden und dabei die Karma von der Luise zum Empfang des göttlichen Lichts bereit ist. Verlassen Sie bitte sofort dieses Zimmer, junger Mann, und erweisen Sie Respekt zum "Heiligen Orakle-Kultus."

Also das war dem Franz schon eindeutig zuviel. Die Weiber verhalten sich, als ob sie bei sich zu Hause wären und sind sogar so frech, dass sie ihn rausschmeißen wollen. Er kann schon Einiges über sich ergehen lassen, doch irgendwo muss auch die Grenze sein. Entschlossen ging er zum Angriff hinüber. Mit den Worten: "Raus hier, ihr alten Fratzen" packte er die "Meisterin" an dem Ellbogen und schleppte die vor Überraschung kein Widerstand leistende Frau in den Flur. Dort zog Franz sie über dem Fußboden zur Ausgangstür und beförderte sie mit einem heftigen Tritt in den Hintern ins Treppenhaus. Danach kehrte er in die Wohnung zurück, um dieselbe Prozedur mit dem "Türwächter" zu wiederholen. Doch der Bodyguard erwies sich schlau genug, mittlerweile ohne fremde Hilfe zu verschwinden. Nur sein ekelerregendes Parfüm hing noch in der dicken Luft.

Das erste, was Franz machte, nachdem er die Hexen losgeworden war, war alle Fenster aufzumachen und, endlich, die frische Luft in die Wohnung hereinzulassen. Dann ging er zum Schlafzimmer, um nach der Luise zu sehen. Sie lag immer noch da und murmelte etwas im Schlaf (oder war das eine Art Trance?), war ihm aber auch egal. Auf jeden Fall war sie noch nicht bei sich, und konnte folglich ihm kein Geld geben. Nach einem kurzen Überlegen, entschloss er sich, sie wachzurütteln. Das war jedoch nicht so leicht, wie man sich vielleicht denken könnte. Luise wach langsam, mit Stöhnen und Schluchzen auf. Erst etwa nach einer halben Stunde war sie soweit, dass man mit ihr mehr oder weniger vernünftig kommunizieren konnte. Zuallererst fragte sie nach der Meisterin und ihrer, wie sie sagte "Ordensschwester". Franz beschloss, sie nicht über ihr Schicksal zu informieren und sagte einfach, dass sie vor kurzem gegangen wären, um nach einem in Not geratenen Bruder zu sehen. Und da er gerade gekommen war, und einen sehr vertrauensvollen Eindruck auf die Schwestern gemacht hat, überließen sie ihm ihre Schülerin. Besonders schlau war seine Ex noch nie, und er war sich auch ziemlich sicher, dass sie ihm die Geschichte abkauft. So geschah es auch. Sie wunderte sich nicht einmal, dass die "Meisterin" sie einem unerfahrenen Menschen überlassen hat, sei es sogar ihr Exmann.

Nachdem all diese Unklarheiten beseitigt waren, fragte die Luise endlich, mit welchem Zweck er sie plötzlich besucht hat. Schließlich war es schon eine ziemlich lange Weile her, dass Franz hier zum letzten Mal gewesen ist. Das war dann der Augenblick, auf den der gute Mann so lange gewartet hatte. Mit empörter und geheimnisvollen Stimme berichtete er von seinem Unglück. Er erzählte, wie schwer es heutzutage ein durch und durch anständiger Mensch hat. Welche ausgefeilte Intrigen gegen ihn gewoben werden, nur mit dem Zweck, ihn von seinem Platz zu stoßen und einen Hochstapler an die befreite Stelle zu setzen. Wie dieser Mensch nur um das nackte Überleben zu kämpfen hat, und schließlich an der Gemeinheit dieser Welt scheitert. Denn die Welt besteht fast ausschließlich aus Lumpen und Räuber aller Art, die den Weg einem einfachen Mann aus dem Volke versperren und mit ihren scharfen Krallen nach ihm greifen.

Diese Predigt dauerte dann ungefähr eine halbe Stunde, bis Franz endlich auf den Punkt kam. Er wolle nämlich ein tausend Mark für nur eine "sehr kurze Weile", um auf den Beinen zu bleiben, und dann finde er schon etwas und gebe das Geld zurück. Und das Komischste daran war, dass die arme Frau schon wieder darauf reinfiel, obwohl sie dieses oder ein ähnliches Lied schon mindestens zum dritten Mal von ihm hörte. So war sie aber nun mal, gut und vertrauensselig. Gerade das, wovon ein solcher Mann wie Franz nur träumen kann. Das einzige, was noch fehlte, waren die Papierscheine. Hier erwartete unseren Helden aber eine große und sehr unangenehme Überraschung. Die gute Frau hatte es nicht. Das heißt, sie hatte es noch vor kurzem, noch vor drei Tagen. Vorgestern wurde aber das gesamte Bargeld im Haus sowie das ganze Sparbuch für einen "guten Zweck" gespendet.

"Was??!!!", schrie die innere Stimme von Franz. "Was für ein gutes Zweck, zum Teufel! Ich kenne keinen besseren Zweck, als seinem am Rande des Verhungerns befindendem Exmann zu helfen!!!". Laut wurde aber nichts davon gesagt, so blöde war er auch wieder nicht. Langsam kamen auch die Details des "Deals" zum Vorschein. Das Geld von Luise werde zum Aufbau der Gemeinde genützt, sowie zum Anschaffen von verschiedenen teuren Chemikalien und magischen Gegenständen, die für die Ausübung des "Heiligen Orakle-Kultus" notwendig sind. Für ihre großzügige Spende ("eine äußerst großzügige", summte es Kopf ihres Exmannes) wurde sie in die Runde der Vergebenen aufgenommen. Mit einfachen Worten - Absolution plus ewige Wonne nach dem Tode. "Und der wird bald kommen", wütete das Innere von Franz. Luise merkte aber nichts davon, und fuhr immer weiter fort, ihn über ihre Seligkeit aufzuklären. Sie würde dann mit Engeln schweben und die Früchte im garten Eden pflücken. Und jetzt eben, bevor er sie aus der Trance riss, hat der Erzengel Gabriel höchstpersönlich zu ihr gesprochen und eine kurze Führung durch das Paradies gemacht.

"Na ja, was wohl der arme Gabriel mit diesem Orakeldingsbums auf dem Hut hat, leuchtet mir zwar nicht sofort ein", dachte Franz. "Was mir aber klar ist, ist dass wenn ich noch mehr von diesem Unsinn höre, werde ich vielleicht noch selber durchdrehen." Jetzt aber zurück auf die Erde. Die Kohle ist weg, hier gibt's nichts mehr rauszuholen. Was gleichbedeutend mit dem Verlust jeglicher Interesse an dem weiteren Schicksal von Luise und ihren Erzengel war. Die Gedanken unseren Geldsuchers schlugen schon einen anderen Weg ein. Sofort wurde eine schöne Geschichte erfunden, die seine Ex dazu brachte, ihm doch ein paar Pfennige zu geben, sodass er wenigstens nicht für die Rückfahrt aufkommen musste. Der Höflichkeit wegen blieb er noch eine Zeitlang, dann begab er sich aber nach Hause. Dort angekommen, versank Franz ins tiefe Grübeln. Irgendwo musste er ein paar Mark herkriegen. Aber wo? Luise war seine bis jetzt einzige Hoffnung, die sich aber als ein Schuss ins Leere herausstellte. OK, er kann schon annehmen, dass sie nach einer Weile wieder ein bisschen Geld zusammengekratzt hat. Das Geld wird aber bestimmt schon wieder für "einen guten Zweck" verbraucht. Und an der Güte dieses Zweckes hatte Franz so seine Zweifel. Wer die Frauen in der Wohnung von Luise auch immer waren, sie machten einen nicht gerade vertrauenswürdigen Eindruck. Sie waren vielleicht gut genug, um so ein Dummchen wie Luise zu überzeugen. Für so einen alten Hasen, wie Franz es war, müsste man aber etwas Schlaueres erfinden können.

Und da kam die Erleuchtung! Aber natürlich! Im Erfinden war er schon immer gut. Jemand hat sogar mal gesagt, dass er den Eskimos am Polarkreise ohne Probleme einen Kühlschrank andrehen könnte. Das war vielleicht etwas übertrieben, jedoch kam genau auf den Punkt. Franz nahm sich noch eine Tasse Wasser ( für Bier hatte er ja kein Geld) und versank noch tiefer ins Überlegen. Jetzt schlugen seine Gedanken aber einen bestimmteren, festen Weg ein. Langsam reifte in seinem Kopf ein Plan heran.

"Es gibt doch bestimmt ein Haufen von unglücklichen, enttäuschten und leichtgläubigen Menschen, die alles glauben würden, was ihnen nur eine Erleichterung verspricht", dachte er. Und es wäre eigentlich gar keine Sünde, ihnen die lang erwartete Hoffnung zu geben. Und, dass man Geld dafür verlange, ist ja gar nicht so schlimm. Schließlich muss man für alles in diesem Leben zahlen, warum also nicht auch für das Glück. Glück ist doch das höchste Ziel des Menschen, folglich muss auch der Preis stimmen. Es wäre ja sogar eine Wohltat. Die Leute würden zahlen und die Leute würden genau das kriegen, was sie wollen. Genau das, worauf sie vielleicht ihr ganzes Leben lang vergebens gewartet haben. Und da kommt der gute alte Onkel Franz und besorgt es ihnen. Welche Tätigkeit könnte wohl frommer und ehrenhafter sein?

Je mehr Franz darüber nachdachte, desto mehr gefiel ihm die ganze Sache. Er war zwar nie der Meinung, dass man sein Leben der Wohltätigkeit widmen sollte, was soll's, er hat sogar die Menschen verachtet, die so etwas gemacht haben. Eine ganz andere Vorstellung faszinierte ihn. Die Vorstellung von den Unmengen von unglücklichen, verzweifelten und hoffnungslosen Menschen, die ihr eigenes und hartverdientes Geld freiwillig und sogar mit großer Freude zu seinen Füßen werfen. Das war eigentlich schon sein Jugendtraum. Nur früher wusste er nicht, wie man ihn verwirklichen soll. Und jetzt, dank den verrückten Alten in Luises Wohnung (oder waren die vielleicht gar nicht so verrückt, wie sie zu sein schienen) rückte die lang unterdrückte Vision ein bisschen näher! Und mit diesen fröhlichen und ermutigenden Gedanken trank Franz seine letzte Tasse heißen Wassers und ging ins Bett. In dieser Nacht schlief er sehr schlecht und wälzte sich in Vorfreude des morgigen Tuns ständig im Bett herum.

Nichtsdestoweniger wachte er am nächsten Morgen voller Energie und Enthusiasmus auf. Nach einer Tasse starken Kaffee begab er sich auf den Weg. Franz wollte eine ziemlich weite Verwandte von sich besuchen, die er schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Sie standen eigentlich nie nahe und trafen sich nur fast ausschließlich bei Familienangelegenheiten wie zum Beispiel Hochzeit oder Begräbnis. Und der Grund für seinen Besuch war deswegen auch nicht der Wunsch, eine verwandte Seele zu sehen, sondern eher pragmatisch. Franz hat nämlich schon vor einiger Zeit gehört, dass die gute Frau sich für Esoterik begeistert hat. Und da er selbst überhaupt keine Ahnung von solchen Sachen hatte, entschloss er sich bei ihr einen Rat einzuholen. Davor musste er jedoch noch bei seinen Eltern vorbeischauen, um ihre Adresse zu bekommen. Gleichzeitig hatte Franz auch eine gewisse Hoffnung, dass Vati und Mutti diesmal nicht so gierig sein werden und für ihren einzigen Sohn doch eine kleine Spende machen. Und die Hoffnung war nicht vergebens. Trotz der letzten Drohung, ihn die Treppe hinunterzuwerfen, sollte er noch wegen Geld kommen, waren sie ziemlich freundlich. Und sogar als er mit der Bitte aufkam, ihn ein wenig materiell zu unterstützen, haben sie ihm das nötige Geld gegeben. Zu seinem Erstauen musste er nicht einmal darum betteln. Wahrscheinlich haben die Eltern schon die Hoffnung aufgegeben, dass aus ihrem Sohn etwas Vernünftiges werden kann. Und entschlossen sich, ihn so zu nehmen, wie er ist. Wie dem auch sei, eine Sorge hatte Franz jetzt weniger. Stolze 500 Mark lagen in seiner Jackentasche, sollte dann für einen Monat reichen. Die Adresse der von ihm gesuchten Verwandten gab es noch auch mit dazu. Ein kurzer Anruf reichte dann, um sich zu überzeugen, dass sie ihn auch empfangen wird. Franz verabschiedete sich dann ganz herzlich von den Eltern und begab sich zu der Esoterikerin. Die Frau wohnte am anderen Ende der Stadt, so dass er noch ungefähr zwei Stunden brauchte, um schließlich ihre Straße zu finden. Endlich angekommen, klingelte er an der Eingangstür.

Die Gestalt, die ihm die Tür aufmachte, schien eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den Alten aus Luises Wohnung zu haben. Derselbe Alter, dieselbe Menge von Make-up und schließlich auch derselbe Gesichtsausdruck. Nichtsdestotrotz sprach Franz sie freundlich an und erklärte auch das Ziel seines Besuches. Er interessiere sich leidenschaftlich für die Mächte des Jenseits und die Welt der Geister, sowie für deren Auswirkungen auf die irdische Welt. Per Zufall habe er von ihrer Beschäftigung erfahren und würde sich sehr freuen, wenn sie ihn in das geheime Wissen einführt. Die Frau schien sehr begeistert von seinen Erklärungen zu sein. Sie berichtete Franz ihrerseits, dass sie es sehr schön finde, wenn junge Menschen sich endlich von der Hast des Tages loslösen können und Zeit für wichtigere, grundlegendere Dinge nutzen. Nach dieser kurzen Einleitung kam Franz dann zur Sache. Er möchte die ganze Kunst der Kommunikation mit dem Jenseits erlernen sowie auch andere Gebiete des Okkulten kennen lernen. Und wenn es ihr nicht viel ausmache, wäre er sehr dankbar, wenn sie ihm in dieser Wissenschaft Unterricht gibt. Von solchen Reden schien die Frau, völlig aus dem Häuschen zu sein.

Wahrscheinlich war das das erste Mal, dass eine außenstehende Person so viel Interesse für ihre Beschäftigung zeigte. Die Antwort lautete natürlich ja. Franz hatte sogar den Eindruck, dass sie ihm fürs Zuhören sogar Geld zahlen würde, so groß war ihre Freude. Sie machten es dann so ab, dass er alle zwei Tage bei ihr vorbeischauen wird und sie ihn dann "unterrichtet". Mit einem Gefühl der Genugtuung kehrte Franz an diesem Tag nach Hause zurück. Er ging dann früh ins Bett, denn morgen stand noch ein Tag voller Taten bevor. Diese Nacht schlief er aber schon viel ruhiger und hatte sogar einen schönen Traum, nämlich wie er für seine Verdienste auf dem Gebiete der Wohltätigkeit einen Nobelpreis bekommt.

Am nächsten Morgen fühlte sich Franz wie neugeboren. Er versprühte gerade die Energie. Nach einem kurzen Frühstück ging er in die Stadtbücherei. Dort lieh er einen ganzen Stapel von Büchern über Esoterik, Schwarze sowie Weiße Magie und Geisterbeschwörung aus. Zu Hause legte er sich dann hin und widmete sich dem Lesen. Nach einigen Stunden wusste er schon eine Menge über sein zukünftiges Arbeitsgebiet. Nach dem Mittagessen begab sich Franz dann zu seiner "Lehrerin". Sie haben einen Termin um 4 Uhr nachmittags ausgemacht, und den wollte er einhalten. Punkt um vier klingelte er an der Tür und begrüßte die Esoterikerin. Sie lobte ihn für die Pünktlichkeit und zeigte auf ein Sessel. Franz bedankte sich und nahm Platz. Die Frau verschwand für ein paar Sekunden im anderen Zimmer und kam dann mit einem Berg von Büchern zurück. In manchen davon erkannte Franz die, die er mittlerweile selbst zu Hause hatte. Die Frau (sie hieß übrigens Martha, wie Franz von seinen Eltern erfahren hat) begann mit einer ziemlich langen Einleitung, die Franz nicht besonders interessiert hat. Schon wieder kamen die Reden von der Vergänglichkeit des Irdischen und der Ewigkeit des Jenseits, sowie die Klagen über die Abwesenheit von Interesse zu diesem Thema bei der breiten Öffentlichkeit. "Kein Wunder", dachte Franz, "bei dem Quatsch, was ich gelesen hab". Nach einer guten halben Stunde, während derer er sich gezwungen sah, bei dieser blöden Unterhaltung mitzumachen, begann die Alte endlich mit dem Wichtigen. Sie erzählte ihm über die Kräfte die in dem jenseitigen Reich regieren und über die verschiedensten Methoden, mit denen in Kontakt zu treten. Sie selbst behauptete, schon einmal mit ihrem toten Vater gesprochen zu haben, und jetzt hatte die gute Martha vor, ihren längst verstorbenen Onkel Thomas heraufzubeschwören. Dies sei ihr jedoch noch nicht gelungen. Anscheinend waren die Geister in der Gegend, wo der Onkel sich aufhielt, nicht sehr hilfsbereit. Weiter sprach sie von den häufigsten Erscheinungen der jenseitiger Welt in der Unseren. Sachen wie Poltergeist, Ufos und plötzlich verschwundene Gegenstände fanden hier plötzlich ihre Erklärungen. Langsam entstand vor den Augen von Franz ein Bild volles Geheimnisse, Rätsel und Mystik. Zugegeben, für eine kurze Weile hat ihn das Bild sogar fasziniert. Aber nur für eine sehr kurze. Franz schüttelte die Vision entschlossen ab und hörte weiter der Frau zu. Am Ende zerstreute sich jedoch seine Aufmerksamkeit. Es stellte sich nämlich heraus, dass trotz ihrer Begeisterung die Kenntnisse von Martha sehr oberflächlich waren und schon die einfachsten Fragen, die etwas tiefer gingen, sie in Verlegenheit brachten. Sie wiederholte sich deshalb öfters und ihre Erzählung wurde immer vager und uninteressanter. Zum Schluss beschloss Franz, sie nicht mehr zu besuchen. Er bedankte sich herzlichst bei ihr und versprach noch Mal zu kommen. Er sagte aber, dass er jetzt plötzlich viel zu tun gekriegt habe, Jobsuchen und so, und deshalb nicht so oft kommen kann. Er werde sie anrufen, sobald er Zeit habe.

Auf dem Weg nach Hause bedauerte Franz überhaupt, dass er zu Martha gekommen ist. "Die ist doch halb verrückt! Was soll man von so einer Frau lernen?!", dachte er. "Wenn schon, dann mache ich das selbst." Und mit diesem Gedanken ist er an diesem Tag auch eingeschlafen.

Am nächsten Morgen machte Franz sich wieder an die Arbeit. Im Laufe des Tages studierte er noch zwei seiner Mystikbücher durch. Am Ende des zweiten Buches stellte er mit großer Freude fest, dass er höchstwahrscheinlich keine weitere zu lesen braucht. Das Wichtigste wusste er schon und den Rest kann man ja notfalls selbst ausdenken. Es kennt sich ja sowieso niemand von seinen zukünftigen Opfern in diesen Sachen richtig aus. Er schnappte das Buch zu aß eine Kleinigkeit und ging ins Bett.

Ein Tag darauf konnte man auf vielen Pfosten in der Stadt folgende Botschaft lesen:
"Liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen, Brüder und Schwester. Während wir im unseren Alltag leben, geschehen schreckliche, furchtbare Dinge in dieser Welt. Viele Menschenleben werden täglich in sinnlosen Kriegen dahingeopfert. Viele Menschen hungern, sterben an heilbaren Krankheiten, weil sie kein Geld für Medikamente haben, oder leben ein elendes Dasein. Und wir, die angeblich zivilisierte westliche Welt sehen gelassen hin, und lassen die Menschen leiden, ohne dass eine einzige Zelle unseren verkrusteten Herzens sich über ihr Schicksal Sorgen macht. Wir haben uns abgeschnitten von unseren Mitmenschen, von unseren Schwestern und Brüdern. Und schließlich auch von der Mutter Natur. Wir leben in Städten aus Beton und Stahl und essen Lebensmittel, die aus abscheulichen gentechnischen Laboren stammen. Wir reden von Politik und Wirtschaftswachstum und dabei haben wir das Wichtigste vergessen. Unser menschliches Wesen. Wir haben vergessen, wer wir eigentlich sind, woher wir kommen, und das ist DIE Ursache für unser tägliches Leiden. Gibt es denn Jemanden in diesem Land, der nicht öfters nachdenkt, was der Zweck seiner Existenz ist? Wofür er das alles macht, was er eben macht? Gibt es denn jemanden, den diese Gedanken nicht quälen, den sie manchmal nicht einschlafen lassen? Es gibt vielleicht solche, aber ich sage euch, das sind schlimme Menschen. Menschen, deren Glauben schon vollständig erloschen ist. Denen ist nicht mehr zu helfen. Doch wenn Sie all das erleben, heißt es, dass noch nicht alles verloren ist. Beeilen Sie sich, sie haben noch Zeit aber nicht viel. Rufen Sie diese Nummer unten an und nutzen Sie ihre Chance auf Rettung. Ich werde Ihnen dann Näheres erklären.
Ihr Franz Peters."

Unten war noch seine Telefonnummer angegeben.
Für das Verfassen dieser Schrift verbrauchte unser Held ungefähr zwei Stunden. Obwohl die Menge an Text nicht gerade überwältigend war, verlangte sie ziemlich viel Denkarbeit. Der Aufruf sollte möglichst überzeugend und ans Herz zerrend werden. Dabei musste eine bestimmte Gruppe von Menschen angesprochen werden. Die Vernünftigen und die Realisten sollten von Anfang an von der Restmenge gefiltert werden. Mit ihnen konnte man ja schließlich sowieso nichts anfangen, sie würden die ganze Sache nur mit ihren dummen Fragen und Zweifeln stören. Was ein solcher Unternehmer wie Franz brauchte, waren die leichtgläubigen, möglichst wenig gebildete Menschen, die zur Zeit in einer Krise waren. Seien es Familienangelegenheiten, Probleme im Beruf oder auch Liebeskummer. Solche Menschen hätten dann die Symptome, die in dem Aufruf beschrieben wurden oder sie würden sich einbilden, sie hätten die. Und sogar wenn sie nichts der Gleichen verspürten, kämen sie trotzdem zu ihm, weil er nämlich eine Rettung und Heilung versprach. Und das war genau sein Ziel. Dann in einem näheren Gespräch wird er genauer auf die Probleme des jeweiligen Opfers eingehen und die Grundsätze seiner Lehre entsprechend anpassen. Und solange es noch keine Opfer in Sicht gibt, wird Franz noch etwas in den Büchern lesen, sein Grundlagenwissen vertiefen. Und dieser Tätigkeit hat er sich auch leidenschaftlich gewidmet, sodass als das erste Opfer anrief, er schon auf die bestmögliche Weise vorbereitet war. Der erste Fisch am Haken war eine Frau. Eine hysterische noch dazu. Sie erzählte etwas von ihrem Ehemann, der sie letzten Monat mit "irgendeinen dreckigen Nutte" verlassen hat, und dass sie jetzt nicht mehr weiter weiß. Sie mache sich schon Gedanken, was der Sinn der ganzen Sache ist (wahrscheinlich hat sie das Leben unter der ganzen Sache gemeint) und wohin das alles führt. Nachts könne sie nicht mehr ruhig schlafen und tagsüber leide sie an Neurosen und anhaltenden Depressionen. Lange Rede kurzer Sinn, gerade das Passende für Franz. Während einer kurzen Unterhaltung zeigte Franz das volle Verständnis für ihre Probleme. Das Neutschakronismus und seine Anhänger vertraten schon immer die Ansicht, dass eine Familie fest und einig sein sollte und unter keinen Umständen zerfallen darf. Die Menschen, die das nicht verstehen, begehen eine der schwersten Sünden dieser Welt. Und ihr Mann scheint leider zu solchen Menschen zu gehören. So wird das Übermenschliche über ihn richten und er wird seine Schande noch zu spüren bekommen. Und so weiter und so fort. Die Frau schien am Ende des Gesprächs schon viel beruhigter zu sein, und versprach, in zwei Tagen bei ihm vorbeizuschauen. Mit Genugtuung legte Franz schließlich auf. Der Anfang war da, jetzt nur nicht alles vermasseln!

Der zweite Anrufer war ein Mann. Er hatte seinerseits ein ganz anderes, man könnte sogar sagen ein gegensätzliches Problem. Er war ein unbezwingbarer Frauenheld, und verheiratet noch dazu. Das führte selbstverständlich zu gewissen Auseinandersetzungen in der Familie mit ziemlich unangenehmen Folgen. Und jetzt wusste dieser Mann auch nicht mehr weiter. Auch hier fand Franz eine Antwort. Es stellte sich nämlich heraus, dass Neutschakronismus und seine Anhänger schon immer für Polygamie waren, und es einfach nicht verstehen konnten, dass eine so zivilisierte Gesellschaft, wie die europäische noch in solch primitiven und menschenunwürdigen monogamen Verhältnissen leben kann. Die Frau des Mannes sei eine veraltete, traditionsbehaftete arme Seele, die sich der Modernisierung der Gesellschaft einfach nicht öffnen kann. Und leider wird auch an ihr die Strafe für die Sturheit nicht vorbeiziehen. Auch der Mann war mit der Doktrin von Neutschakronismus völlig einverstanden und versprach, in nächster Zeit bei Franz persönlich vorbeizukommen.

So verlief dann der ganze Tag, die Menschen haben angerufen, ihr Herz ausgeschüttet und der liebe Onkel Franz fand immer die passende Lösung. Mal war es Das, mal Jenes und öfters war Jenes sogar ein direkter Gegensatz zu Das. Gegen Abend war der Unternehmer schon ziemlich müde von den ganzen Gesprächen und dem Quatsch, den er all den Trotteln verkauft hat. Müde jedoch aufs Äußerste zufrieden mit der gemachten Arbeit. Langsam begann Franz das Licht am Ende des langen Tunnels zu sehen. Und die Farbe dieses Lichts war Gold, die Farbe des Geldes.

Wie versprochen kam die von ihrem Ehemann frisch verlassene Frau nach ein paar Tagen in die Wohnung. Zu diesem Zeitpunkt hat Franz sie schon entsprechend arrangiert. Auf den Fenstern hingen dicke dunkelblaue Gardinen, die Lampen wurden mit dunklem Stoff überdeckt, um eine Atmosphäre des Mystischen und Geheimnisvollen zu schaffen. Außerdem hing an der Wand ein großes Bild vom "Meister", der wie man Franz' Erklärungen entnehmen konnte, die religiöse Bewegung Neutschakronismus 1895 ins Leben rief. Kurz nach der Gründung der Bewegung musste er samt seinen treusten Anhänger in den südlichen Teil von China fliehen, weil sie von der Regierung auf brutalste Weise verfolgt und erniedrigt wurden. Dort erlebte die Bewegung ihre Blüte und wagte erst jetzt, in den letzten Jahren einen Schritt in ihre Geburtsstätte. Der Meister ist natürlich schon lange tot, doch seine Lehre blüht weiter und gewinnt immer neue Anhänger. Und der Auftrag von Franz sei, jetzt auch in Deutschland eine starke Gemeinde aufzubauen, damit auch hier die Menschen das Licht der heiligen Lehre endlich ersehen können.

Nach dieser kurzen Einleitung, die Franz vor kaum einer Stunde ausgedacht hat, kam das eigentliche Wesen der Lehre. Jede Woche müssen die Gläubigen sich in seiner Wohnung versammeln und gemeinsam unter seiner Leitung die Texte der Lehre studieren. Zu Hause müssen sie dann das Gelernte wiederholen und gewisse Ausschnitte aus den Texten laut vorsingen. Und mit der Zeit, wenn sie gut im Lernen sind, werden die heiligen Mächte ihre Mühe entsprechend belohnen. Alle Sorgen werden langsam verschwinden, Probleme wegschmelzen und langsam aber sicher schütteln die Lehrlinge die irdische Hülle ab und öffnen sich der göttlichen Wonne. Und dann, dann ist das Ziel erreicht. Die Menschen schreiten den weißen Mächten entgegen und sie werden sie ihrerseits in ihrem Heim willkommenheißen.

Für diese rosenfarbige Beschreibung verbrauchte Franz dann ganze anderthalb Stunden. Das Interessante dabei war, dass er sie ganz spontan im Unterschied zur Geschichte mit dem Gründer erfand. Franz wollte sich etwas im Spontanlabern üben. Und er hatte Erfolg. Die Frau hörte ihm mit dem geöffneten Mund zu, als ob ein wahrhaftiger Engel vor ihr gesprochen hätte. Und als Franz zum Ende kam, saß sie noch eine Zeitlang still unter dem gewaltigen Eindruck seiner Visionen. Das Anwerben war vollkommen. Er hatte sie jetzt fest in den "heiligen" Händen. Nachdem sie endlich zu sich kam, setzte Franz einen neuen Termin an, an dem er sie zusammen mit anderen Neuankömmlingen in die Geheimnisse der Lehre einführen würde. Die Begeisterung war unermesslich, so etwas hat Franz, ehrlich gesagt, sogar in seinen wildesten Träumen nicht erwartet. "Wenn es so weiter geht, bin ich bald ein reicher Mann", dachte er zufrieden. Und es ging so weiter. Die Menschen kamen und hörten aufmerksam zu. Es gab zwar Einige, die schon nach ein paar Minuten aufstanden und mit den Worten "Hören Sie bitte jetzt mal auf, so blöd bin ich auch wieder nicht" seine Wohnung verließen, doch war das eher eine Minderheit. Die meisten reagierten interessiert bis begeistert, und bei Manchen ließ sich sogar eine ähnliche Reaktion wie bei der ersten Frau beobachten. Im großen und ganzen konnte man mit dem Anfang schon zufrieden sein. Die Frage war nun, wie es weiterlaufen soll.

Für den nächsten Samstag setzte Franz eine Gemeindeversammlung an, an welchen er die Grundprinzipien der Lehre genauer erläutern, sowie die erste Andeutung auf mögliche Beitrittsgebühren machen wollte. Als Vorbereitung auf die Show am Samstag las er noch etwas in seiner mittlerweile stark gewachsenen Esoterikbibliothek, entschied sich dann jedoch, sich nicht weiter zu vertiefen. Schließlich hatte er schon mehr als genug Material, um eine eigene Lehre aufbauen zu können. Die restliche Zeit widmete er dann dem genauen Entwurf und Aufbau der neuen und " einzig wahren Weltreligion", sowie der Zusammenstellung einer Liste von heiligen Schriften, die jeder Gläubige zu lesen und ( das Wichtigste ) zu besitzen hatte. In Wirklichkeit glaubte Franz kaum, dass jemand seiner "Schüler" etwas davon lesen würde. Aber dies war auch nicht erforderlich, Hauptsache dass es solche heiligen Schriften geben soll. Ihre Existenz gibt seiner Lehre einen gewissen Grad an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft.

Am Freitag gegen zehn Uhr abends war schließlich alles komplett und fertig. Die kopierten Schriften zum Austeilen waren da, die Lehre war fast vollkommen und es gab sogar noch zusätzliche Stühle in der Wohnung, damit alle Gäste sich setzen können. Für alles wurde gesorgt und jetzt konnte man endlich sich dem schon lange erwünschten Schlaf widmen, denn morgen stand ein ganz großer Tag bevor.

Am Samstag Nachmittag füllte sich die Wohnung von Franz langsam mit Gästen. Ihre Anzahl war nicht gerade beträchtlich, für den Anfang reichte sie aber schon. Es kamen ungefähr 25 Menschen, die schlau genug waren, auf seine Geschichten hereinzufallen. Obwohl Franz seine Rede schon zehnmal vor dem Spiegel eingeübt hat, fühlte er ein leichtes Zittern in den Knien. Zum ersten Mal im Leben stand er vor so einem großen Publikum. Und seine Aufgabe war jetzt diese Menschen zu überzeugen, noch Mal zu ihm zu kommen, und noch wichtiger - sie reif für das Spendieren zu kriegen. Zwar hatte Franz heute nicht vor, direkt das Finanzielle anzusprechen, jedoch irgendwann (und das sollte ziemlich bald sein) musste die Kohle endlich mal her. Dies waren seine Gedanken während die Gäste langsam in der Wohnung herumspazierten, sich kennen lernten und die vorsorglich vorbereitete Gläser mit verschiedenen Getränken leerten.

Schließlich nahm er sich in die Hände und fing an. "Meine Damen und Herren, Brüder und Schwester. Erlauben Sie mir wenige einleitende Worte..." Und es begann. Die wenigen "einleitenden Worte" verwandelten sich unbemerkt in einen zweistündigen Bericht mit anschließender reger Diskussion. Die Übung vor dem Spiegel ließ sich deutlich erkennen, die Stimme von Franz floss wie Honig aus dem Munde und löste die kläglichen Reste vom Verstand in seinen Gästen endgültig auf. Die Menschen hörten mit einem geöffneten Mund und weit aufgerissen, hoffnungsvollen Augen, in denen sich schon bald ein schnell wachsendes Glauben zeigte. Anscheinend war Franz ein geborener Redner. Ich werde hier nicht auf die Details von dem eingehen, was er den Menschen erzählt hat. Es ist auch nicht besonders relevant. Das Wichtigste ist, dass jeder, absolut jeder von ihnen sich mit der Sache identifizieren konnte und gerade dort endlich die lang ersehnte Rettung sah. Die Wirkung war dementsprechend. Für das nächste Treffen haben sich alle angemeldet. Der Kultusabend dauerte noch bis zur Mitternacht und einige der neuen Mitglieder blieben sogar bis zwei Uhr nachts bei Franz. Als der letzte von ihnen endlich die Tür hinter sich schloss, war Franz schon wie ausgelaugt. Es stellte sich heraus, dass es gar nicht so einfach ist, ein professioneller Hochstapler zu sein. Nicht viel leichter als einen normalen Beruf auszuüben. Jedoch bestand hier das Potenzial von einem bedeutend größerem Verdienst. Müde und erschöpft sank Franz ins warme Bett und schlief sofort wie ein Baby ein.

Das nächste Treffen wurde von ihm für den nächsten Sonntag angesetzt, dort hatte er jetzt auch vor, einen finanziellen Beitrag für die Bewegung einzusammeln. Seine Eltern haben ihm genug Geld gegeben, jedoch wäre es in ein paar Wochen trotzdem zu Ende. Und noch mal zu ihnen betteln zu gehen, hatte Franz nicht vor. Jetzt waren die Novizen an der Reihe, ihre Geldbeutel zu öffnen. Und ein passender Vorwand war auch schon da. Jeder musste doch die heiligen Schriften des Neutschakronismus zu Hause auf einer auffallender Stelle stehen haben. Und die Schriften waren schließlich nichts anderes als die wichtigsten Auszüge aus dem Chinesischem Buch der Wandlungen, sorgfältig von dem "Meister" zu einer eigenständigen Lehre zusammengestellt. Und die Frucht von so einer vorbildhaften und bewundernswerten Arbeit musste ja den entsprechenden, ihrer Würde zustehenden Preis haben. Dieser Preis belief sich am Ende auf 50 DM pro Stück. Nicht schlecht für den Anfang. Und das besonders Erfreuliche daran war, dass Franz nicht den geringsten Zweifel hatte, dass die Novizen diese Menge an Zahlungsmitteln unbedacht hinblättern würden. Die Wirkung von seinen Worten auf sie hat er doch schließlich gesehen.

Die ganze nächste Woche war gleichzeitig ein Genuss und ein Alptraum. Ein Genuss, weil Franz sich auf Sonntag so freute und auf die damit verbundene unausweichliche Mehrung seines Vermögens. Und ein Alptraum, weil die Zeit sooo langsam lief und dieser Sonntag in einer unerreichbarer Ferne erschien. Vor Ungeduld geplagt, ging Franz immer wieder in seinem Schlafzimmer umher. Ab und zu ging er auch in die Stadt, um sich dort dem sinnlosen Straßenbummel zu widmen. Die ganze Woche fand er keine Ruhe und kein anderer Gedanke als der von der nächsten Versammlung drang in seinen Kopf. Erst am Samstag Abend beruhigten sich die Nerven einigermaßen. Der Augenblick stand unmittelbar bevor, und in solchen Situationen beherrschte Franz normalerweise eine seltsame Ruhe - wie eine Stille vor dem Sturm.

Am Sonntag wurden letztlich die letzten Vorbereitungen getroffen und eine große Rede fertig eingeübt. Endlich gegen 6 Uhr Abends kamen die Leute. Es waren heute schon mehr als letztes Mal. Die Novizen haben ihre Freunde und Verwandte mitgebracht und auch die Anzeigen auf den Stadtpfosten waren nicht untätig. Als Franz mit seiner Rede begann, war die Wohnung schon überfüllt von Menschen.

Und wieder kam die Erzählung von der Entstehung und Entwicklung des Neutschakronismus, allerdings jetzt mit neuen, frisch erfundenen Einzelheiten und Details. Die Bedeutung der pflichtmäßigen Lektüre von heiligen Schriften, sowie ihre heilende Wirkung auf Seele und Körper wurden nochmals ausführlich erläutert und unterstrichen. Letztlich stand es fest: wer auf eine baldige Befreiung von all den Sorgen und Alltagsstress hoffen will, soll jetzt die von Franz vorgefertigte Broschüren kaufen und sie zu Hause aufmerksam durchlesen.

Weitere Anweisungen und die heiligen Rituale des Neutschakronismus würden noch in späteren Versammlungen erklärt. Doch anfangen müsse man schon jetzt - je früher desto besser, desto leichter und schmerzloser werde die Heilung sein. Und auch dieses Mal brachte Franz' Rednerkunst ihre Früchte. Die Broschüren verschwanden wie im Nu vom Tisch und in seinem Beutel klirrte eine beträchtliche Geldsumme. "Das wäre doch endlich was", dachte Franz, "endlich hab ich was von all diesem Rumgequatsche!!!" Nach außen zeigte sich jedoch nichts von diesen Gedanken. Franz' Miene war die Freundlichkeit und Frömmigkeit eigener Person. Im Vergleich zu ihm sah selbst der Papst wie ein berüchtigter Schurke aus. Mit solchem Gesichtsausdruck verabschiedete Franz sich schließlich von den Gästen. Sie lächelten - er lächelte, sie gaben - er nahm, alle waren zufrieden und glücklich. Und das ist doch das Ziel des Lebens!!!

In der Zukunft sah Franz noch andere, größere Spenden. So musste das neue Tempel des Kultus eingerichtet werden. Und dafür brauchte man besondere Gegenstände und Kultobjekte, die jedoch nur im entfernten China zu besorgen waren und deshalb eine Unmenge an Geld kosteten. Für diese Ausgaben musste er aber seine Gästen noch vorbereiten, ihre Köpfe ordentlich mit Reden und Bräuchen durchspülen. Aber ein guter Anfang war schon Mal da. Die Gemeinde wuchs unaufhaltsam, und die Wohnbedingungen ihres Gründers konnten den mit der Gemeinde wachsenden Platzansprüchen nicht Genüge tun. Schon bei etwa dreißig Menschen schien die Zweizimmerwohnung aus allen Nähten zu platzen. Und das Telefon klingelte und klingelte und immer wieder waren neue verlorene Seelen am anderen Ende der Leitung. Deshalb musste Franz sich nach einiger Zeit dazu entschließen, einen passenderen Raum für die Versammlungen zu suchen. Eine alte verwaiste Scheune zehn Kilometer vom Stadtrand entfernt bot da eine gute Alternative. Franz hat sie zufällig entdeckt, als er die Vororte nach einem solchen Raum absuchte. Die Scheune war groß genug, ließ den Regen nicht durch und hat vor allem nichts gekostet. Was besseres hätte man sich auch nicht wünschen können. Die nächste Versammlung wurde dann schon dort abgehalten. Diese Scheune war zwar nicht besonders günstig anzufahren, jedoch bot sie die gewünschte Ruhe und Ungestörtheit. Für die Novizen gab es die folgende Erklärung für den Umzug - erstens war die Wohnung von ihrem Lehrer nicht groß genug (was allerdings stimmte) und zweitens war die Nähe an die Natur schon immer eine der Grundideen des Neutschakronismus. Deshalb stelle der Umzug gar keine Verschlechterung der Verhältnisse dar, sondern eher eine längst geplante Weiterentwicklung der Gemeinde.

Die nächste Reihe von Versammlungen in der Scheune erwies sich noch erfolgreicher als die in der Wohnung. Die unmittelbare Naturnähe sowie die nächtlichen Waldgeräusche hatten eine ausgesprochen gute Wirkung auf die Stimmung und die Willigkeit von Lehrlingen. Sie schafften eine unnachahmliche Atmosphäre, sodass die Kraft von den gehaltenen Predigten um das Vielfache stieg. Und so kam es, dass schon bald eine zweite Spende folgte: für den Transport des Kultusaltars aus China. Der Altar war angeblich so kunstvoll und zerbrechlich, dass spezielle Container dafür gebaut werden mussten und es nur unter der Aufsicht von gelernten Kultusmitglieder zu transportieren war. Kurz gesagt, die Bewegung kann sich so etwas zum Zeitpunkt nicht leisten und ist deshalb auf freiwillige Spenden angewiesen. Jeder gebe nach seinem Gewissen, bedenke jedoch, dass all seine Tate dort oben gezählt werden und er nach dem Tode dementsprechend belohnt wird. Wenn man nach der Summe der am Ende eingeflossenen Spenden urteilen würde, zielten fast alle Novizen darauf ab, nach dem Tode heilig gesprochen zu werden. Langsam aber sicher fing Franz an, sich für sein Unternehmen richtig zu begeistern. Alles war viel einfacher als er sich je träumen könnte. Das Geld floss wie von selbst, man musste nur die Vorwände ausdenken.

Es folgten weitere Spenden. Für die Zutaten für das heilige Getränk der Götter musste man ziemlich viel abblättern, das Zubehör zum Altar musste noch zusätzlich bestellt und die Werbekampagne in anderen Regionen Deutschlands unterstützt werden, und so weiter und so fort. Der Zufluss von neuen Interessierten riss nicht ab. Die Werbeanzeigen erschienen immer öfter auf den Stadtpfosten sowie in der Tagespresse. Bald zählte die Gemeinde schon etwa 100 Mitglieder.

Jetzt beschloss Franz zur neuen Etappe zu übergehen. Der monatliche Mitgliedsbeitrag musste eingeführt werden. Einerseits würde er einen ständigen Geldzufluss sichern und andererseits bekäme die Gemeinde einen solideren Ansehen in den Augen ihrer Mitglieder. Die Zahl der Novizen reichte schon aus, um eine angemessene, nicht überhöhte Summe von jedem einzusammeln und doch insgesamt auf beträchtliche Geldmenge zu kommen. Das einzige Problem wäre das Steuersystem der Bundesrepublik Deutschland. Sie wäre höchstwahrscheinlich damit nicht einverstanden, dass ein gewisser Franz Peters ein Einkommen erzielt und überhaupt keine Lust hat, seinen bürgerlichen Pflichten nachzugehen und etwas an den Fiskus abzugeben. Diese Lust hatte er in der Wirklichkeit nicht. Die Bundesrepublik würde auch so, ohne seinen bescheidenen Beitrag, nicht verhungern. Und so beschloss Franz, die zuständigen Behörden nicht zu informieren.

Wie auch die anderen Neuigkeiten, nahmen die Novizen die neue Ordnung begeistert auf. Ab dem nächsten Monat sollte jeder von ihnen einen Beitrag von etwa 2% des jeweiligen Monatsbruttoeinkommens in die "Gemeindekasse" einzahlen. Und was dabei noch wichtig war, niemand von außen durfte von diesen Spenden erfahren. Weil nämlich "die heutige Gesellschaft zu gierig und zu gottfremd geworden ist, um eine solch edle Sache wie eine freiwillige Kultussteuer zu akzeptieren." Das Geld sollte nicht etwa überwiesen, sondern von jedem Mitglied höchstpersönlich dem Leiter des Kultus (also Franz) übergeben werden. Auf diese Weise werde verhindert, dass der Spender sich von der Bewegung und von dem "Meister" seelisch distanzieren könnte.

Und so ging es weiter. Die Gemeinde fand immer neuere Anhänger, die Beiträge sammelten sich langsam zu einer beträchtlichen Summe. Jetzt konnte Franz sich schon etwas Luxus leisten. Seine Garderobe bekam ein ganz neues Flair, in dem man ausgezeichneten Geschmack erkennen konnte. Sein Handgelenk schmückte eine goldene Schweizer Uhr und in der Wohnung konnte man wertvolle neue Möbel beobachten. Die Mitglieder der Gemeinde merkten davon jedoch nichts. In ihrer Anwesenheit erschien Franz immer so wie ganz am Anfang. Schlicht gekleidet und mit einem frommen Gesichtsausdruck. Immer und immer wieder wurden flammende Reden gehalten, die zu immer neueren Spenden aufriefen. Jedoch keine einzige Seele wusste, was mit dem spendierten Geld in Wirklichkeit geschah. Er konnte es sich nicht leisten, nur einen winzigen Verdacht in den Novizen zu erwecken. Dann wäre das ganze Unternehmen, diese wunderbare Goldmine endgültig verloren. Und das konnte Franz auf keinen Fall zulassen. Soviel wie nur möglich musste aus dieser Quelle herausgepumpt werden. Und bis jetzt schien sie noch bis zum Rande voll zu sein.

Doch die Zeit verging, und langsam kamen die Ängste. "Es kann nicht ewig so weitergehen", grübelte Franz abends in seinem Bett.

"Irgendwann wird alles ans Licht kommen, und dann bin ich wirklich dran. Die werden mich so richtig in den Arsch treten und nackt auf die Straße laufen lassen. Wahrscheinlich sogar in den Knast!" Franz war sich völlig im Klaren, dass er so gegen manchen Gesetz verstoßen hat. Und diese Gedanken raubten ihm allmählich den Schlaf. In manchen Nachtalbträumen wurde Franz von katholischen Priestern entkleidet durch die Straßen von Berlin gejagt und mit Lederpeitschen geschlagen. In anderen sah er sich zu einer lebenslänglichen Strafe im Hochsicherheitstrakt verurteilt. Und in manchen hat man ihn sogar gekreuzigt.

Das alles führte schließlich zu dem Beschluss, für eine Zeitlang den Schlussstrich zu ziehen. Davor mussten aber die Novizen noch Mal, jetzt aber auch das letzte Mal tief in ihre Taschen greifen. Eine schöne Geschichte wurde erfunden, die von einer Pilgerfahrt nach China zu den irdischen Überresten des großen Meisters und Gründers von Neutschakronismus erzählte. Diese Pilgerfahrt sei ebenso heilig und verpflichtend wie die allen bekannte Pilgerfahrt nach Mekka bei den Moslems. Und jetzt sei es gerade die höchste Zeit, diese Fahrt zum ersten Mal mit den neuen Mitgliedern der Bewegung durchzuführen. Man müsse sich jedoch keine Sorgen machen, wie das Ganze zu organisieren sei. Franz habe schon für alles vorgesorgt. Alle Fragen seien schon geregelt, das einzige was noch übrig wäre, ist zu bezahlen. Und der Preis sei ja wirklich ein Witz für solch eine weite Reise. Die lächerlichen 3500 Mark pro Kopf sind zu entrichten. Billiger kriege man sowieso keinen vernünftigen Angebot.

Als Franz all das auf der nächsten Mitgliederversammlung in der Scheune kundmachte, beherrschte auf einmal Totenstille den Raum. Man konnte plötzlich sogar die kleinste Fliege summen hören. Für einen Augenblick dachte Franz, dass er es jetzt zu weit getrieben hat. Nach solchen Geldsummen hat er noch nie verlangt. Wenn sie jetzt Zweifel bekommen, ist alles verloren. Aber auch dieses Mal kam das Schicksal Franz entgegen. Nach der langen beängstigenden Stille konnte er schließlich doch das volle Vertrauen auf den Gesichtern der Menschen erkennen. Sie würden ihm das Geld geben, die ganze Summe. Es gab zwar einen Aufruhr, dass die heutigen Reiseunternehmen nur hinter dem Geld her sind und keine Rücksicht auf den Zweck der Reise nehmen. Es handele sich doch nicht um einen Vergnügungsausflug, sondern um eine heilige Pilgerfahrt, wo man Verständnis zeigen und einen Nachlass gewähren könnte. Zweifel am ganzen Unternehmen gab es jedoch nicht.

Im Laufe der nächsten zwei Wochen kamen die Novizen einzeln in "das Büro" (wie Franz jetzt seine Wohnung nannte) und übergaben ihm das Geld, dass sie für die Reise mit Mühe zusammengekriegt haben. Dieses Geld wurde dann sofort zur Bank gebracht und auf ein Konto in der Schweiz überwiesen. Als die ganze Summe bezahlt war, erklärte Franz, dass es in der nächsten Zeit keine Versammlungen in der Scheune geben wird, da er sehr damit beschäftigt sei, noch ein paar Ungereimtheiten mit dem Reiseunternehmen zu regeln. Deshalb bittet er um eine Woche Ruhe und Ungestörtheit, sodass er sich dieser Aufgabe voll und ganz widmen kann. Das war das Letzte, was die Lehrlinge von Franz gehört haben.

Ungefähr nach einer Woche kam eine Delegation von den Novizen zu ihm nach Hause, die sich darüber Sorgen gemacht haben, dass ihr Lehrer sich nicht mehr meldet und an das Telefon nicht kommt. Eine böse Überraschung wartete auf sie. Die Wohnung war verschlossen und das Schild "Zu vermieten" hing an der Türklinke. Eine Auskunft bei dem Hausmeister ergab, dass Herr Peters schon vor ungefähr einem Monat angekündigt hat, wegziehen zu wollen, und dass er die Wohnung schon vor sechs Tagen (also ein Tag darauf, als er zum letzten Mal vor seine Novizen trat) geräumt hat.

Die Verwunderung der neutschakronistischen Gemeinde über diese Tatsache hatte keine Grenzen. Was hat den Meister dazu bewegt, so abrupt abzureisen, ohne einer Seele Bescheid zu sagen. Selbst die ältesten und ihm sehr nahe stehende Mitglieder haben davon nichts mitgekriegt. Ist ihm vielleicht etwas zugestoßen? Haben vielleicht die chinesischen Geheimdienste den Wind von seiner Tätigkeit gekriegt und ihn deshalb verschwinden lassen. Die verschiedensten Theorien wurden aufgestellt und auf mehreren darauf folgenden Versammlungen ausdiskutiert. Doch niemand wusste etwas genau.

Der Meister war weg, und mit ihm verschwand auch die Kraft und Inbrunst, die die Bewegung zusammenhielten. Einige der Novizen versuchten in die Stapfen von Franz zu treten und "seine große Sache" fortzusetzen. Jedoch niemand von ihnen besaß auch einen winzigen Bruchteil der Überzeugungskraft und des inneren Feuers, die er täglich seinen Lehrlingen entgegenbrachte. Langsam begann die Gemeinde zu zerbröseln. Immer weniger Menschen kamen zu den wöchentlichen Kultusdiensten, immer weniger meldeten sich bei dem neuen "Vorstand". Und irgendwann kam der Tag, an dem die alte Scheune am Stadtrand, die so viele feurige Reden und so viele spannende Erzählungen gehört hat, zum ersten Mal seit gut einem Jahr leer und verlassen dastand. Niemand kam mehr hierher, um sich von der Kraft des Glaubens mitziehen zu lassen. Neutschakronismus war tot.

"Was passierte denn mit dem Franz", können Sie jetzt sicherlich fragen. "Wohin hat ihn das Schicksal verschlagen? Lebt er noch? Ist er arm oder reich, glücklich oder verzweifelt?" Ich weiß es nicht. Vielleicht nimmt er gerade einen Sonnenbad auf einem Luxusstrand in der Karibik. Oder frühstückt in einem 5-Sterne Hotel auf Mallorca. Oder vielleicht hat er eine neue Gemeinde gegründet, und jetzt andere Menschen das Vergnügen haben, seinen flammenden Reden zuzuhören. Vielleicht sitzt Franz jetzt auch im Knast und verflucht den Tag, an dem ihm der Gedanke von der leichten Verdienstmöglichkeit in den Kopf gekommen ist.
Alles kann sein. Alles Mögliche.

THE END

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