© der Geschichte: Jakob Anderhandt. Nicht unerlaubt
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Geh', wohin kein Rat Dich trägt

Nicht nur anhand einschlägiger Standardwerke, sondern auch per Internet wird man demnächst feststellen können, wieviel Zehennägel ein Dwarfula hat, was ein Superhelix-Synchrotron kann und was nicht, und wieviele Zigarren Ludwig Erhard in jener Sitzung rauchte, die entscheidend zur Einführung der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik beitrug.
Leser aller Sparten werden es dann mit dem "Falsch!"-Rufen kinderleicht haben. Aber auch Autoren werden nicht leer ausgehen. Unter "www.plot-hits.com" wird wöchentlich neu gelistet sein, welcher der sechsundvierzig nach ISO vereinheitlichten Verläufe einer Erzählung auf den Wunschlisten von Belletristikfreunden ganz oben steht. Hat man falsch strukturiert, wird "www.lit-pannendienst" weiterhelfen. Fachkundige Literaturberater passen hier binnen vierundzwanzig Stunden einen Handlungsverlauf aktuellen Tendenzen an. Für drei bis fünf Hunderter wird die Aussicht auf volle Kassen gern wiederhergestellt.
Wenn trotz dieser Entwicklungen der Eintritt ins Literaturparadies um keinen Millimeter näherrückt, dann wird das womöglich an zwei Sätzen liegen: Erstens, daß nach Fehlern nur die Dummen suchen, und zweitens, daß jedes verkaufsstarke Werk der schönen Literatur Ausdruck einer individuellen Welt ist, die sich niemals einer Faktensammlung verdankt oder aber einer literarischen Gesetzmäßigkeit.

Gut, es ist richtig, daß man sich je nach Gattung an bestimmte Recherchemethoden hält. Gut, es ist wichtig, daß man literarische Gesetzmäßigkeiten kennt. Doch wer sich als Autor Forderungen von außen vorschnell fügt (und sei es auch, um später mit ihnen zu brechen), der läuft gezielt in die Falle. Denn damit ist es wie mit den Aphorismen vor hundert Jahren, die man leicht auf einen einzigen reduzieren konnte: "Ich lese gern Aphorismen, weil ich es erfrischend finde, wenn man spätestens beim zwanzigsten merkt, wie er dem ersten widerspricht."
Freunde von mir, die es mit Schreibblockaden zu tun hatten, wußten allesamt nicht zu wenig über ihr Genre, sondern zu viel. Keiner hatte die gängigen Ratgeber gerne gelesen, die meisten von ihnen gläubig oder unterwürfig, wie ein religiöses Werk. Wenig erfrischend, was sie daraufhin an eigenen Versuchen zu präsentieren hatten.

Jedes Buch, das den Leser eintauchen und zuletzt mit dem Gefühl der Wehmut zurückläßt, birgt ein Geheimnis der anderen Art. Es bringt eine Welt zum Ausdruck, die in sich selbst stimmig ist. Personal, Handlungsverlauf, Stilmittel, selbst die Rolle von Fakten ergeben sich bei ihm aus einheitlichen Prinzipen, denen die gesamte erzählte Welt ihre Gestaltung verdankt. Was an einem solchen Buch gut ist oder schlecht, kann gerade nicht unter Rückgriff auf eine Stilfibel entschieden werden, sondern nur, indem man die genannten Prinzipien erforscht und zum Maßstab der individuellen Beurteilung macht.
Eine Häufung von Adjektiven muß noch lange kein Stilfehler sein. Genauso kann es sich bei ihr um ein bewußt eingesetztes Mittel handeln, welches in der Rede einer Figur deren Charakter zum Ausdruck bringt. Einer Forderung nach faktengetreuer Recherche muß sich auch der historische Roman nicht fügen. Warum sollte er es, wenn er in einem Einzelfall das Anliegen hat, gegen die eigene Tradition anzuschreiben? Fakten, das sind ‚facti', die Gemachten. Die Geschichte hat einen Konjunktiv. Wessen Aufgabe, wenn nicht diejenige von Literatur ist es, solche Thesen namhaft zu machen?
Zuletzt kann ein Roman darauf abzielen, mit Lesererwartung und Leserenttäuschung zu spielen. Was für ein Erstaunen wird ein Kriminalroman hervorrufen, bei dem einzelne Tatsachen vom Autor bewußt gefälscht worden sind, wenn dies zugleich den Bestandteil eines Plots bildet, der den Leser von A bis Z in Bann schlägt?

Jeder Marktstratege weiß: Was wenig kostet, das ist nicht viel wert. Weit teurer als Wörterbücher, Stillehren, Ratgeber, Seminare kommt der Verzicht auf sie als bequemer Instanz. Der Veranstalter eines Schreibseminars, der Autor eines Ratgebers hat ein berechtigtes Interesse, vor allem junge Schriftsteller an sich zu binden. Wer aber mehr im Schreiben sieht als perfektes Handwerk, der wird schon bald einen Ort finden müssen, von dem aus er Regeln und Ratschläge anderer sicher beurteilen lernt. Oder, wie ich es sage: Er wird sich eingestehen, nahe am Nichts zu wohnen. Dort, wo das Eigene zu Hause ist, dasjenige, was niemand schöpfen kann außer er selbst.

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