© der Geschichte: Jakob Anderhandt. Nicht unerlaubt
vervielfältigen oder anderswo veröffentlichen. Alle Rechte
dieses Werkes liegen bei dem Autor. Diesen Disclaimer bitte
nicht entfernen


Müller besucht eine ultimative Ausstellung

Das letzte Mal als ich Müller an der Theke traf
hatte er schlechte Laune
Furchtbar,
sagte er,
bald
sehr bald
ja sehr bald
geht es einfach nicht mehr
es geht einfach nicht mehr
einfach
weil es nicht mehr geht
vor allem nicht
mit diesen Konzentrationen am falschen Ort
man möchte fast sagen
‚Konzentriertheiten'

Ariel ultra
Dash drei
Meister Proper super concentrate
maximale
nein maximalste
Wirkkraft bei minimalem Volumen und
natürlich
minimalstem Verpackungsaufwand
nahezu kein Abfall trotzdem grüner Punkt
aber selbstverständlich

also bald
werde er jedes Wasch- oder Scheuermittel
mit Eure Ergiebigkeit anreden
Eure Ergiebigkeit ich möchte Euch untertänigst bitten
mir bloß einen einzigen Tropfen Eures Inhaltsreichtums
zu höchstpersönlichem Belang
abzwecken zu dürfen
bloß ein Tropfen genügt voll und ganz
konzentrativen Dank
denn der Mensch
der Mensch
der werde ja immer dünner
besser gesagt verdünnter
und die Kunst, ja, die Kunst des Menschen
die erst recht
also einmal über den Daumen gepeilt bevor man das
genau untersucht habe:
die unendlich verdünnte Kunst als
Ausdruck und Sinnbild
des unendlich verdünnten Menschen
oder
die unendliche Verdünnung des Menschen
als historische Ursache
für die unendliche Verdünnung der Kunst des Menschen
bald haben uns die Affen wieder eingeholt
jedenfalls so ungefähr

nein, jedenfalls
und hier hob Müller das erste Mal den Finger
homöopathisch
jawohl, homöopathisch
nur, im negativen Sinn,
von homo gleich Mensch und griechisch
pathein, zu leiden
also
der an seiner unendlichen Verdünnung
unendlich leidende Mensch
genau wie bei der Herstellung homöopathischer Mittel
habe man nämlich
durch fortwährende Vermischung mit Wasser
besser gesagt und um im Vergleich zu bleiben
etwas wie Wasser
die Substanz des Menschen
infinitisimal dividiert
das heißt zerteilt,
auseinandergerissen,
und auf eine Unmenge von Einzelwesen
aufgeteilt
eben fast
bis
ins
Unendliche
jedenfalls bis im einzelnen Glas Wasser also Mensch
von der ursprünglichen Substanz durchschnittlich weniger
als ein Atom
übriggeblieben sei
und man deswegen heute
wenn es um das Wesen des einzelnen Menschen gehe
nur noch ganz vage und im übertragenen Sinn
von ‚Essenz'
nicht aber ‚Substanz'
sprechen könne,
Eure Essenz dürfte ich Euch in Eurer ätherischen Verdünntheit...
und der verfahrensbedingte
substanzielle Abfall hier und da
damit auch wirklich alles raus sei
- das einmal außerhalb des Gleichnisses und unter uns gesagt -
werde jetzt sicher
mittels eines besonderen verfahrenstechnischen
vielleicht aber auch kulturpolitischen
jedenfalls eines Tricks
aber dazu später...

Ja, jedenfalls sehe man das
diese Verdünnung
nicht nur an der Kunst
aber auch an der Kunst
letzte Woche sei er auf einer Ausstellung gewesen
er habe es nicht begreifen können
beim besten Willen
und auch Tage
Tage
danach nicht
und habe diese Ausstellung
in seiner ganzen Hilfs- und Fassungslosigkeit
und
um weltanschaulich überhaupt wieder an Land zu kommen
also gleichsam Substanz, festen Boden
unter den Füßen gewinnen zu können
klammheimlich und nur für sich
ultimative Ausstellung genannt
von ultimo höchstes und letztes
höchstes denn darüber käme er nicht hinweg
und letztes denn jetzt brauche er keine Ausstellung
und überhaupt keine Kunst mehr
nie
mehr
Der erste Raum der Ausstellung sei ja noch problemlos
zu verkraften gewesen
aber der zweite
im ersten hätten verschiedene Kunstobjekte rumgelegen
alle in braunes Packpapier eingewickelt
nichts von den Objekten selbst habe man sehen können
wahrscheinlich eine Art Totalverweigerung
dem Kunstkonsumenten gegenüber
Denk dir gefälligst selber was aus
Erst zahlen und dann auch noch
was dafür sehen wollen
wär' ja noch schöner!
stattdessen
‚art is creativity on your own'
jedenfalls so ungefähr, naja
aber im zweiten Raum
also der sei
als Müller ihn betreten habe
ganz und gar weiß gewesen
und Müller habe gedacht Aha, also wieder nichts
Totalverweigerung hello again
bloß ein weißer Raum
doch in genau diesem Augenblick sei der Raum
schlagartig
pechschwarz geworden
pech-
schwarz
über diesen Schreck
habe er sich aber in sage und schreibe
sechs Sekunden
damit beruhigen können
daß er gedacht habe
Also insgesamt halt ein farbloser Raum
nur weiter so
bloß woher wissen sie daß ich
doch sei, mitten in diesem Gedanken, der Raum genauso schlagartig
grellbunt geworden
immerhin noch alles uni und hübsch auf Distanz
nur sei bei diesem Gedanken
sofort
eine scheußliche rosa Blümchentapete auf mauvenem Grund
auf ihn zugekommen
und habe ihn zu umkleben versucht
"Schlagartig und ohne Menschen!"
habe Müller sich jetzt
intellektuell der Lebensgefahr schon ein ganzes Stück näher
zu verteidigen versucht
doch sei nun
äußerst allmählich und raffinierterweise
ihm in seinem nächsten Gedanken bereits zuvorkommend
nämlich auch
in ganz und gar undefinierbarem Abstand
aus einem diffusen Nebel eine bildhübsche Thailänderin
zu ihm aufgestiegen
und habe ihm lächelnd
fünf
fünf!!!
Chiquita-Bananen präsentiert
von denen drei auch schon geschält gewesen seien
und Müller, inzwischen völlig außer sich, habe geschrien:
"Freud, Fallussymbol!"
"Sextourismus!" und
"Product placement!"
aber auch das sei in diesem Raum unmittelbar, schlagartig und
knallhart
widerlegt worden
und auch alles darauffolgende
und schließlich, natürlich, auch die Widerlegung selbst
und selbst als Müller sich in einem absoluten gedanklichen Nirvana
gewähnt habe
habe es nicht aufgehört
da
habe sich ein langhaariger unrasierter Typ mit Walkman neben ihn gestellt
ihn habe Müller natürlich für ein weiteres Produkt des Raumes gehalten
nur dazu da
um ihn endgültig und restlos
weltanschaulich fertigzumachen
weswegen er ihn mit verzweifelter Stimme gefragt habe,
was er denn noch, noch hier wolle
er, Müller, sei doch schon am Ende
nur habe es sich bei dem Typen
um einen Besucher gehandelt wie ihn selbst
der habe sich zuerst fast angemacht gefühlt
dann aber doch
einen Knopf seines Walkmans aus dem Ohr genommen
und geantwortet:
"Ja weißt du, draußen ist doch so viel los
und alles ständig genau bestimmt
da ist das hier endlich mal'n Ding
womit du total abschalten kannst."

Schön und gut, sagt Müller
und stützt sich mit dem Ellenbogen auf die Theke
schön und gut
grüner Punkt Umweltschutz virtual reality mal ausspannen
alles ganz wunderbar wichtig
inzwischen
gehe es ihm ja auch wieder besser
nur
und hier hebt er das zweite Mal den Finger
nur eines wolle ihm nicht in den Kopf
nach wie vor nicht
Warum
müsse jetzt neuerdings
der feste Kern eines Menschen
also wenn zufällig in einem Glas Wasser
doch einmal ein Atom Substanz übriggeblieben sei
also zum Beispiel
sein eigener fester Kern
warum müsse der per Kulturpolitik
unbedingt auch noch aus ihm raus und
ins Waschmittel
wo, ja wohin denn sonst
- alles klar?!

zurück