© der Geschichte: Josef Bühler. Nicht unerlaubt
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Der Tag lag in den letzten Zügen

Der Tag lag in den letzten Zügen, als ich die Liebe meines Lebens verlor.
Ab Abend zuvor bestieg ich das Flugzeug nach London. Ich war freudig aufgeregt, hatte zum ersten Mal mein Zuhause verlassen und sollte zum ersten Mal fliegen.
‚Glück macht attraktiv' hatte ich einmal in einer Klatschillustrierten gelesen und für Schund gehalten. Als ich mich auf der Flughafentoilette im Spiegel betrachtete, begann ich an meiner Meinung zu zweifeln. Ich fühlte mich stark und frei und bei Gott, damals war ich es. Beim Betreten des Flugzeuges sahen mir die blonden Stewardessen in Ihren kurzen Röcken hinterher. Ich setzte mich auf die bequemen Ledersessel und wartete gespannt auf unseren Start. In der Zwischenzeit betrachtete ich die einsteigenden Damen und Herren. Die meisten waren Manager und Banker, der Kleidung nach zu beurteilen.
Ich hatte mich für den Flug zum London-City-Airport entschieden, der nur die Leder-Einheitsklasse kennt und entsprechend etwas teuer ist, als die Standard-Heathrow oder Billig-Stansted oder Gatwick-Flüge. Ich flog zudem an einem Donnerstag, um sicher zu gehen, dass ich nicht in einem Touristenbomber reisen musste. Und ich hatte gut daran getan. Ich hatte einen Fensterplatz, neben mir zwei Sitze frei und konnte meine Beine nach Belieben ausstrecken. Nicht dass ich aussergewöhnlich gut bemittelt oder gar wohlhabend gewesen wäre, ich gönnte mir diesen Hauch von Luxus, weil es das erste Mal war.
Als Letzte stieg eine braunhaarige Dame ein. Ich schätzte Sie auf vielleicht 25; zu alt für mich. Sie trug einen dunkelgrauen Rock, der kurz über den Knien endete, dazu das passende Jäckchen über einer weissen Bluse. Sie hatte über ihr Gesicht einen hübschen Schleier aus Wangenrouge und Wimperntusche gelegt. Als sie sich auf den äussersten Sitz in meiner Reihe setzte, stieg mir ein sanfter Frühlingsduft in die Nase.
Sie begrüsste mich lächelnd, verstaute Ihre Handtasche und setze sich vornehm. Sie zog den Cartier-Faltprospekt aus dem Lektürenhalter am Rücken des Vordersitzes und begann zu lesen. Ihre Silhouette war aussergewöhnlich. Ich spürte wie der Ozean der Sinne an meine Bauchwand brandete und mir mit der Gischt wunderschöne Gedanken in den Kopf spülte. Alles um mich herum begann zu vibrieren und ich meinte schon explodieren zu müssen. Doch die Sache legte sich umgehend, als wir abgehoben hatten.
"Fliegen Sie beruflich nach London?" fragte Sie mich. "Nein, ich besuche eine Cousine" antwortete ich etwas verlegen. Ich war es nicht gewohnt, dass mich Frauen vom Format dieser Dame ansprachen. Ich spürte, wie ich errötete. Sie sah mir in die Augen und lächelte sanft. Ich getraute mich kaum, sie länger anzusehen, aus Angst, noch röter zu werden. Ich hätte mir eine Frau in meinen Träumen nicht schöner vorstellen können.
Wir sprachen nicht mehr weiter. Sie las ihre Tageszeitung. Ich las die Bordkarte, den Cartier-Katalog, die Broschüre der Fluggesellschaft, sogar die Vermerke auf der Übelkeitstüte.
Kurz vor der Landung, bot sich uns ein überwältigendes Bild. Der Himmel war sternenklar und soweit das Auge reichte breitete sich unter uns das orange-gelbe Lichtermeer Londons aus. Tief beeindruckt sah ich durch mein kleines Fenster auf diese, mir fremde, grosse Welt. "Darf ich mal schauen?" fragte sie. "Natürlich", antwortet ich. Sie setzte sich auf den Sitz neben mir und streckte ihren Kopf an mein Fenster. Ihr Haar roch nach Leben, einem Leben, das ich nur aus Büchern und Filmen zu kennen glaubte. Ein sonderbarer, tief beeindruckender Duft, gemischt aus Abenteuer, Leidenschaft und Freiheit. Als sie ihren Kopf zurückzog, sah ich ungewollt in ihr Décolté. Mir wurde schwindlig.
Beim Aussteigen war sie direkt vor mir.
"Hätten Sie Lust auf einen Kaffee?" fragte sie mich noch auf der Gangway. "Gerne", antwortet ich. Sie lächelte. Ich hatte Mühe, meine Beine in Ordnung zu halten. Nach der Passkontrolle lotste sie mich zum Café. Sie war schon öfter in London gewesen "und hier machen sie den besten Cappuccino der ganzen Stadt." Ich trank zum ersten Mal in meinem Leben einen Cappuccino. Natürlich lud ich sie ein. Ich, in meinen verwaschenen, von meiner Mutter gekürzten Jeans, der abgegriffenen Jeansjacke und den extra frisch gekauften braunen Halbschuhen. Sie liess mich bezahlen und bedankte sich herzlich. Ob ich mich in London auskenne, fragte sie. Ich verneinte und fügte an, dass ich noch eine Bleibe suchen müsse. Glauben Sie mir, ich sagte das ohne den Hauch eines Hintergedankens.
"Kommen Sie doch mit mir, in meinem Hotel ist bestimmt noch ein Bett für Sie frei", antwortete Sie, ohne mir den geringsten Anlass zu geben, daran zu Zweifeln, dass Sie dies nicht ohne den Hauch eines Hintergedankens gesagt hatte. Es war schon sehr spät in London in dieser Nacht und ich war froh, dass ich nicht alleine ein Zimmer suchen musste. Ich nahm daher ihren Vorschlag dankend und gerne an.
Wir bestiegen die U-Bahn zum Piccadilly-Circus. Als der Zug anrollte fiel mir auf, dass Sie kein Gepäck bei sich hatte. "Haben Sie denn kein Gepäck?" fragte ich und bemerkte, als ich es gesagt hatte, dass man sich einer Dame gegenüber auch höflicher und sprachgewandter hätte ausdrücken können. Sie zögerte kurz. "Es wird mir ins Hotel geschickt", antwortete sie. Und ich sah in Ihren Augen, dass sie mich belog. Ich beliess es dabei.
"This is Piccadilly-Circus, please mind the gap", ertönte die Durchsage. Ich packte meinen Tramper und liess sie vor. Wir traten aus der U-Bahn-Station auf den Piccadilly-Circus. Über uns leuchtete hell und klar der Mond. Der kühle Herbstwind trug ein Gefühl zu mir, das ich noch nie in derartiger Klarheit erlebt hatte: Freiheit.
Ich bestaunte die mächtigen Leuchtreklamen, die schwarzen Taxis, die roten Doppeldeckerbusse und all die verschiedenartigsten Menschen. Und sie, sie liess mich staunen. Ich war überwältigt. Ich schloss die Augen und atmete die Luft meiner Welt. "Ist es nicht wunderschön?" Die Frage schien mir rhetorisch, angesichts dieses puren Lebens. Trotzdem nickte ich leicht. Ich öffnete die Augen und sah die Welt, wie noch nie vorher; klar, einfach und unsagbar schön. Sie liess mir alle Zeit, die ich brauchte, um zu sehen, bis sie mich weckte: "Wollen wir?" "Wir wollen."
Wir bogen in eine grosse Strasse ein, gingen einige Schritte und blieben vor einer Pendeltüre, stehen. Der Herr im historischen schwarzen Gewand und dem schwarz glänzenden Zylinder begrüsste uns; den Kopf leicht senkend und zur Türe weisend. Wir standen unter einem roten Baldachin mit goldenen Kanten. Wir traten einen Schritt vor, auf einen roten Teppich. Ich sah sie an. "Keine Angst, das ist schon in Ordnung." Ihr Lächeln machte mich trunken vor Gefühlen. Wir traten in die Empfangshalle des Hotels und begaben uns an die Rezeption. Sie fragte, ob noch ein Zimmer frei wäre. Überall im Raum ragten Marmorsäulen an die Decke. Wie in der Kirche unseres Dorfes; nur dass die Säulen hier wohl nicht aus bemaltem Holz waren. Der Boden war mit stilvollen Teppichen belegt. An den Wänden hingen Landschaftsbilder in mächtigen Rahmen. Über uns leuchteten vielarmige Kronleuchter. Sie tünchten die Halle in einen erhabenen Gold-Ton. "Sie haben leider nur noch ein Doppelzimmer..." sagte sie. "Das ist schon in Ordnung", antwortete ich. Ihr Blick verriet mir, dass ich etwas missverstanden haben musste. "Das macht mir nichts aus", war das einzige, das ich hervorbrachte; in der Hoffnung, sie würde mir erklären, was ich falsch verstanden hatte. Sie begann zu lächeln und wandte sich wieder dem gut gekleideten Herrn hinter der Theke zu.
Über einem Durchgang, durch den man die Eingangshalle verlassen konnte war ein Schriftzug angebracht: "Burlington Bar". Ich sah lederne Sessel neben Salontischen aus Edelholz. An den Wänden hingen schwarz-weisse Bilder eines Schiffes; der Titanic. Das Licht war gedämpft. Ich hörte die Klänge eines Klaviers.
"Bist du soweit?" "Aber ja, natürlich", antworte ich in Gedanken. Wir bestiegen den Lift. Mein Zimmer befand sich im dritten Stock. Es hatte Blick auf die Strasse, durch welche wir zum Hotel gelangt waren. Wenn man weit genug aus dem Fenster hing, konnte man sogar den Eros-Brunnen auf dem Piccadilly-Circus sehen. Oder wenigstens einen Teil davon. Wir standen uns im Zimmer gegenüber. Ich stellte meinen Tramper an den Schrank. Sie legte ihre Handtasche auf den Sessel daneben. Wir sahen uns schweigend in die Augen.
Ein Doppelzimmer.
Mir wurde etwas schwindlig.
"Mein Zimmer ist schon weg. Sie meinten, ich hätte morgens um 11 ankommen sollen." "Das ist schon in Ordnung." Ich regte mich nicht. Auch nicht, als sie ihre Schuhe auszog und die Jacke über den Stuhl neben der Tür hängte. Ich atmete schwer. Sie war unbeschreiblich schön. Makellos. "Ist alles in Ordnung?" "Ich bin zum ersten Mal in London."
Natürlich war ich das. Sie trat zu mir und nahm meine Hände. "Wenn du es willst, gehe ich." Ich fühlte, wie sich mein Gesicht aufhellte. Ich begann zu lachen. Ich konnte meinen Gedanken und Gefühlen auf keinem anderen Weg Ausdruck geben. Sie lachte auch.
Ich trat ganz nahe an sie heran. Wir verstummten. Als ich sie in meine Arme schloss, weinte sie. Ich fühlte ihre Tränen auf meiner Wange. Ich spürte Trauer, ich spürte Leid. Ich liess sie weinen und hielt sie fest.
Als wir um Mitternacht die Burlington Bar betraten, spielte der Mann am Klavier noch immer. Am Tisch in der Ecke sass ein altes Ehepaar bei einem Glas Whisky. Hinter der Bar stand der Barkeeper. Wir setzten uns. Man sah nicht mehr, dass sie geweint hatte. Ich bestellte uns zwei Gin-Tonic. Sie betrachtete die Bilder an der Wand. Ich betrachtete sie. Als sich unsere Blicke trafen, fühlte ich tiefste Stille in mir. Es war das Gefühl daheim zu sein. Nach dem ersten Schluck Gin schoben wir unsere Sessel näher zusammen. Nach dem zweiten Schluck sassen wir direkt neben einander. Nach dem dritten Schluck setzten wir uns auf das Sofa unter dem grössten Bild mit dem mächtigsten Rahmen. Sie nahm mich in ihre Arme und wir sprachen über die Bilder, die wir sahen. Über den bärtigen Mann, der ein Kapitän gewesen zu sein schien. Über die Arbeiter, die grosse Kisten auf das Schiff trugen. Und über die Zeitungsausschnitte, die in grossen Lettern unsägliches Leid zu beschreiben versuchten. Nach dem zweiten Gin sprachen wir über die Liebe. Nach dem dritten Gin schwiegen wir und lauschten dem Spiel des Klaviers und der Brandung des Meeres im Hafen von Southampton. Als die grosse Standuhr zwei Uhr schlug, gähnte der Barkeeper zum wiederholten Mal und wir beschlossen, den Tag für beendet zu erklären.
Als wir auf unserem Zimmer waren und sie ihre Kleider auszog, meinte ich, der Gin erschlage mich. Ich musste mich setzen. Als sie nackt vor mir stand, fühlte ich, dass im Buch meines Lebens ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde. Ein Moment, dessen Tragweite mir vollkommen bewusst war und der deshalb noch berauschender wurde. Ich erhob mich, trat zu ihr und streichelte ihren Kopf. Vor mir stand die Erfüllung all meiner Träume. "Lass uns ins Bett gehen", sagte ich leise zu ihr. Sie sah mich erst lächelnd an und hüpfte dann unter die Bettdecke. Ich zog mich aus, putzte meine Zähne, ging auch ins Bett und löschte das Licht. Wir schwiegen beide. Ich hörte, wie sie sich in meine Richtung wandte. "Ich bin eine verlorene Seele." "Ich weiss", antwortete ich mit heiserer Stimme, "ich weiss." Sie fuhr mit ihrer Hand über mein Gesicht, durch meine Haare...ich schloss meine Augen und spürte warmen Sommerwind in mir.
Ich erwachte. 03.30 Uhr. Sie sass auf der Bettkante und weinte.
Ich liess sie.
Als ich erwachte, sass sie neben dem Bett. Sie sass im Polstersessel und sah mich an. "Wie lange bist du schon wach?" "Schon lange", antwortete Sie sanft. Sie trug Jeans und ein feines hellbraunes Kunstlederhemd. Die beiden obersten Knöpfe waren offen. Ihre Haare hatte sie zusammengebunden.
"Wollen wir?" fragte ich. "Wir wollen." antwortete sie lachend.
Die Sonne schien, als wir etwas später das Hotel verliessen. Wir flanierten Arm in Arm durch diese wundervolle Stadt. Wir legten uns im St. James Park auf eine Wiese und lauschten dem Gesang der Vögel. Ich sah in den wolkenlosen Himmel und liess meine Gedanken fliegen.

Und dann - es ging schon gegen Abend - wollte Sie zur St. Pauls Kathedrale. Ich bemerkte, dass sie sich verändert hatte. Ihre Stimme klang bestimmter, ihre Augen wirkten entschlossener. Ich ging mit ihr. "St. Pauls ist die schönste Kirche Londons" sagte sie immer wieder, "ein Meisterwerk." Wir stiegen die Stufen zum Eingang hinauf. Schweigend gingen wir durch die Gänge. Sie begann tiefer und schwerer zu atmen. Ihre Hände zitterten leicht. Ihre Lippen verkrampften sich. Ich schwieg. Wir stiegen hinauf zur "Whispering Gallery", einer Galerie hoch über dem Kirchenschiff. Wir stiegen weiter hinauf zur "Stone Gallery", die sich ausserhalb der Kuppel der Kathedrale befindet und von welcher aus man London überblicken kann. Wir schwiegen. Sie drückte meine Hand immer fester. "Frag nicht", sagte sie mit Tränen in den Augen, "frag nicht." Wir stiegen hinauf zur "Golden Gallery", dem engen Rundgang auf dem Gipfel der Kuppel. Wir waren alleine. Sie schloss mich in ihre Arme und küsste mich. Ihre Tränen rannen mein Wange und meinen Hals hinunter. "Es gibt keinen anderen Weg, das musst du mir glauben." Ich nickte und sie liess mich los. Mit Tränen in den Augen lächelte sie mich ein allerletztes Mal an und stieg dann über das Geländer. "Ich liebe dich", sagte ich leise. Sie liess los und fiel.
Ich sehe sie noch heute vor mir. Sie prallte auf die Kuppel, schlitterte einen Moment über das Dach und fiel dann über den Kuppelrand. Ich stand starr am Geländer. Der Wind blies von der Themse her kühl in mein Gesicht. In der Ferne verschwand die Sonne im Häusermeer und die ersten Sterne glänzten matt am wolkenlosen Himmel. Weit unter mir hörte ich Leute schreien, ein Signalhorn heulen.
Ich stieg die schier endlosen Treppen hinab und verliess die Kathedrale.

Im Hotelzimmer lag Ihre Handtasche auf dem gepolsterten Sessel. Und unter ihr ein Brief. "Es gab keinen anderen Weg, das musst du mir glauben", stand in sauberer Schrift auf dem Umschlag. Ich öffnete ihn. Darin fand ich ein Blatt Papier und einen weiteren Brief.
Sie hatte das Hotel für eine Woche bezahlt und bat mich, nicht nach Hause zu fahren, sondern London kennenzulernen. Es sei die bezauberndste Stadt der Welt. Sie dankte mir, für die Gefühle, die ich in ihr geweckt hätte. Und sie bat mich, nicht über sie zu urteilen, bevor ich den beiliegenden Brief gelesen hätte. "Er erklärt dir, wie es dazu kam. In unendlicher Liebe. Bitte vergiss mich nicht." Ich habe den Brief sowenig gelesen, wie ich ihren Namen je erfahren wollte.
Ich reiste nach dieser einen Woche ab und kehrte in ein Leben zurück, das meines nicht mehr war. Seither lebe ich mit dem schmerzhaften Traum von einem Leben, das ich nie werde führen können.

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