© der Geschichte: Stefan T. Pinternagel. Nicht unerlaubt
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Wie in Kroatien

"Ich kann hier nicht aufs Klo gehen", sagte Elisabeth. Sie klang verzweifelt. "Hast du gesehen wie es da aussieht?"
"Und die Türe kann man auch nicht schließen", sagte er.
"Im Ernst?" Sie stöhnte demonstrativ. "Du meinst, man kann sie nicht absperren?"
Er drehte sich auf den Rücken, kreuzte die Arme hinter den Kopf und starrte zur Decke hoch. Die Straßenbeleuchtung vor dem Fenster tauchte das Schlafzimmer in ein lichtes Dunkel.
"Nein", antwortete er. "Ich meine damit, dass die Tür immer wieder einen Spalt aufgeht, weil das Schloss nicht mehr einschnappt."
Sie sah ihn entgeistert an. Er konnte es nicht sehen, weil er noch immer nach oben blickte, aber er konnte es fühlen.
"Was für Menschen sind das nur, dein Freund und seine Familie! Wilde?"
Peter reagierte nicht.
"Ich kann hier nicht aufs Klo gehen", wiederholte sie. "Vor allem wenn dann auch noch die Türe immer offen steht und jeder, der am Flur vorkommt, rein sehen kann. Das ist doch widerlich."
"Du solltest nicht so laut reden", sagte er. "Sie könnten uns hören."
"Dann hören sie nur ihre eigene Schande. Ich weiß nicht wie sich eine Frau, noch dazu eine Mutter, so gehen lassen kann."
Peter versuchte zu schlafen, schloss die Augen und betete, Elisabeth würde endlich Ruhe geben, aber sie fing wieder an.
"Die armen Kinder."

Peter wollte sagen, dass er die Kinder ganz in Ordnung fand - zumindest im Vergleich zu den verzogenen Bälgern ihrer Schwester, diesen beiden Jungen, die alles bekamen was sie wollten und es aus reinem Übermut auch gleich wieder kaputt machten. Oder die Tochter seines Stiefbruders, die auf keinen Kindergeburtstag gehen wollte, wenn sie nicht auch etwas geschenkt bekam, weil sie es einfach nicht verkraften konnte, andere zu beschenken ohne selbst beschenkt zu werden. Und der Sohn der Nachbarn: Den ganzen Tag fuhr er mit seinem autobatteriebetriebenen Bagger im Garten im Kreis herum und am Abend wunderte sich seine Mutter, dass er nicht müde war. Das wollte er Elisabeth sagen, aber er tat es nicht. Dass die Kinder seines Freundes zwar in sozial schwachen Verhältnissen aufwuchsen, aber dass sie dafür einen Blick für die wesentlichen Dinge des Lebens hatten. Dass sie sich über Kleinigkeiten freuen konnten. Dass sie miteinander ganz natürlich umgingen, dass es keine falsche Scham gab und keine bösen Blicke, wenn einer mal rülpste. Dass ihm diese Kinder tausendmal lieber waren als ... Er sagte nichts. Er sagte nur:

"So schlimm ist es nun auch wieder nicht", und biss sich gleich darauf auf die Lippen.
"Was soll hier nicht schlimm sein, frage ich dich? Dass die Wände so dünn sind, dass man alle Geräusche hört, die auf der Toilette fabriziert werden? Ich habe dich gehört, mein Bester, und ich kann dir sagen, dass du dich nächstes Mal beim pinkeln hinsetzen solltest, damit es nicht so laut plätschert."
Peter hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten wie ein Kind oder wäre aufgestanden und ins Wohnzimmer gegangen, aber dort schliefen Klaus und Beate auf der Couch - sie hatten ihnen ihr Schlafzimmer zur Verfügung gestellt. Es konnte ja schließlich nicht jeder ein Gästezimmer haben. Das war auch etwas, was Elisabeth nicht verstand; aber dafür konnte sie nichts: Ihre Eltern waren vermögend. Sie hatte alles in ihrer Kindheit gehabt, war aber nicht übermäßig verhätschelt worden. Sie glaubte, sie hätte sich ihr jetziges Leben und den Wohlstand verdient, aber das hatte sie nicht. Es gab einfach Menschen, die nie eine Chance wie sie bekommen würden.
Nicht jeder konnte sich eine Eigentumswohnung in der Stadt und ein Ferienhäuschen in Spanien leisten. Nicht alle konnten sich mit Plasmabildschirmen, Designermöbeln, Wasserbetten, Cabrios und sonstigem Firlefanz umgeben.
In der Wohnung seines ehemaligen Schulkameraden und späteren Freundes Klaus stand nur ein einziger alter PC im Arbeitszimmer. Keines der Kinder hatte ein Handy. Ein TV mit Videorecorder und DVD-Player im Wohnzimmer. Nur die älteste Tochter hatte eine Stereoanlage im Zimmer. Die anderen beiden mussten sich mit Kassettenrecordern zufrieden geben. Und gaben sich damit zufrieden.

"Nicht mal ein Sozialhilfeempfänger lebt heute noch in so einem Haushalt" hatte Elisabeth Peter zugeflüstert, als sie für einen kurzen Augenblick alleine im Wohnzimmer saßen. Klaus und Beate und die Kinder waren in der Küche verschwunden und bereiteten das Abendessen vor. Käse, Tomaten, Schinken und Wurst aus dem Supermarkt. Brötchen vom Bäcker an der Ecke.
Peter hätte sich über Elisabeths Anmerkung aufregen können, aber er tat es nicht. Sie konnte nichts dafür. Sie meinte es nicht böse. Sie war einfach ... Elisabeth.
"Ich finde es einfach unverantwortlich, die Kinder so aufwachsen zu lassen", sagte sie jetzt.
"Sprich nicht so laut", sagte Peter und sah sie von der Seite her an.
"Sollen wir uns auf französisch unterhalten?"
"Sie sind vielleicht arm, aber nicht dumm, Elisabeth", sagte Peter.
"Na, ist ja auch egal. Jedenfalls möchte ich, dass wir morgen hier ausziehen und in ein Hotel gehen. Du kannst dich ja mit Peter und Beate treffen, mir reicht es. Am liebsten würde ich abreisen."
"Denkst du nicht, dass du etwas überreagierst?"
Ihre Stimme schwankte, als sie antwortete und Peter merkte, dass ihr das alles doch ziemlich nahe ging.
"Ich kann nicht auf die Toilette, weil jeder mich hören und sehen kann. Ich kann mir die Zähne nicht über dem Waschbecken putzen, weil es einen Sprung hat. Stattdessen muss ich über einer Badewanne, in der Haare, und ich meine damit Schamhaare, liegen, beugen, um mir die Zähne zu putzen. Ich kann mir auch nicht über dem Spülbecken in der Küche die Zähne putzen, weil Geschirr und Besteck darin liegen. Nur Gott alleine weiß, wie lange schon. Auf dem Boden in der Küche liegen Krümel und Fussel, wie überall in der ganzen Wohnung. Sie hätten wenigstens aufräumen können, bevor wir kommen."
Die letzten Worte schienen in einem Schluchzen unterzugehen.
Peter dreht sich zu ihr hin und nahm sie in die Arme.

"Das alles erinnert mich an unseren Urlaub in Kroatien, als sämtliche Toiletten in der Bungalowanlage verstopft waren und irgendwo auf dem Gelände ein Rohrbruch war und wir sind vom Strand gekommen und über die Grünanlage gelaufen und alles war nass und hat nach Urin und Kot gestunken. So ist es hier auch", sagte sie.
"Okay", sagte Peter. Er wusste, dass es keine andere Lösung gab. "Wir ziehen morgen in ein Hotel."
Elisabeth atmete hörbar auf.
"Jetzt geht es mir besser", sagte sie.
Peter hoffte, damit hätte sich der Fall erledigt und er könnte endlich schlafen. Er drehte sich auf die andere Seite und schob sich das Kissen zurecht.
"Weißt du, ich finde es schon irgendwie unverantwortlich drei Kinder in die Welt zu setzen und dann auf Schriftsteller zu machen", sagte Elisabeth in das Halbdunkel hinein.
Peter antwortete, ohne sich zu ihr umzudrehen.
"Klaus hat schon vorher auf Schriftsteller gemacht", sagte er. "Er hat schon in der Schule geschrieben. Und später ..."
"Aber er kann nicht davon leben, wie man sieht." Er hasste es, wenn sie ihn unterbrach.
"Ich sehe hier durchaus ein Leben", gab Peter gereizt zurück. Sie hatte es wieder einmal geschafft ihm den Nerv und den Schlaf zu rauben. Dabei hatte er sich schon gefragt, was er in dieser ersten Nacht in einem fremden Bett träumen würde.
"Ich sehe hier sogar ein sehr erfolgreiches Leben", sagte Peter. "Immerhin ernährt Klaus mit der Schreiberei die ganze Familie seit Beate arbeitslos geworden ist. Er arbeitet sich bucklig. Er übersetzt und verfasst Artikel, schreibt Kurzgeschichten und findet auch noch Zeit, sich seiner Familie zu widmen."
"Aber wenn sie sich schon keine Putzfrau leisten können und seine Frau arbeitslos ist, könnte sie sich doch ein bisschen um den Haushalt kümmern", sagte Elisabeth.
"Sie macht eine Umschulung", sagte Peter, als wäre es eine Entschuldigung. Er fühlte sich nicht wohl in der Situation des Advokaten. Warum nur hatte er das Gefühl, er müsse sich rechtfertigen? "Können wir das Thema jetzt lassen? Ich bin müde." sagte er.
Elisabeth sagte nichts, atmete tief ein und aus, drehte sich um und so lagen sie da, Rücken an Rücken, bis Peter eingeschlafen war. Er fing gerade an vom Urlaub in Kroatien zu träumen, als ihn Elisabeth anstupste.
"Schatz, ich muss mal", sagte sie.

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