© der Geschichte: Robert Herbig. Nicht unerlaubt
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Waldspaziergang

Eigentlich mochte Kurt es nicht, wenn jemand ihn bei seinen Spaziergängen begleitete. Aber andere kam einfach auf diese Kreuzung des Waldweges zugelaufen, die etwa so aussah wie eine Wünschelrute. Aus zwei Wegen wurde ein Weg. Kurt kam von der rechten Seite des Weges, der andere kam von links. Beide gingen ohne Eile etwa mit der gleichen Geschwindigkeit. Na ja, was tut man in so einer Situation? Ihnen war klar, dass sie den einzelnen, den gemeinsamen Weg weitergehen würden. Keiner wollte, nur um alleine zu bleiben, in die Richtung gehen, aus der der Andere gekommen war. Man nickte sich zu und ging weiter.

Irgendwie seltsam, wenn man minutenlang schweigend nebeneinander hergeht, morgens gegen 9.00 Uhr, auf einem schmalen Waldweg.
Kurt hatte den Anderen hier im Wald noch nie gesehen. Er war etwa im gleichen Alter wie er, etwa gleich groß, auch dunkelhaarig. Etwas schlanker vielleicht. Aber nicht viel.

Nach einiger Zeit merkte er, wie ihn auch der andere aus den Augenwinkeln musterte. Irgendwas müsste man jetzt sagen. So was wie:
"Kommen Sie oft hierher?", oder
"Sie laufen wohl auch gerne früh am Morgen?"
Aber Kurt sagte nichts. Der andere auch nicht. Kurt wusste, dass ihn der Weg noch etwa zwei Kilometer weit in den Wald und am Schluss dann ein kleiner Weg zurück zu seinem Ausgangspunkt, der alten Fabrik führen würde. Auf dem dortigen Parkplatz würde sein Spaziergang wie immer enden.

Aber was, wenn der Andere auch zur alten Fabrik wollte? Ob er einfach mal eine Zeitlang langsamer laufen, das Tempo seiner Schritte verringern sollte? Sollte er so tun, als habe er einen Stein im Schuh?
Herrgott noch mal, das war doch absurd! Da gehen zwei erwachsene Männer gemächlich nebeneinander auf einem Waldweg und schweigen sich an! Und keiner traut sich, etwas zu dem anderen zu sagen.
Gerda hätte längst eine Unterhaltung mit dem Fremden begonnen. Kurt schmunzelte still vor sich hin.
Wahrscheinlich hätte sie schon alles über ihn herausgefunden, wo er lebt, was er beruflich macht, wie alt er ist, wie seine Frau heißt.
Aber Gerda war seit drei Jahren tot. Sie war damals an Brustkrebs gestorben. Es begann ganz langsam, unbemerkt, bis sie eines Tages etwas von einem Knoten erzählte und davon sprach, mal zum Arzt zu gehen. Das Ergebnis der Untersuchung war niederschmetternd. Es hatten sich bereits Metastasen im ganzen Körper gebildet, ein Jahr später war sie dann gestorben.

"Laufen Sie auch so gerne früh am Morgen?"
Kurt erschrak.
"Wie?"
"Der Spaziergang! Früh am Morgen ist es hier doch am Schönsten, finden Sie nicht auch?", sagte der Fremde und lächelte Kurt an.
"Ja, früh am Morgen, da haben sie Recht."
Eigentlich hatte Kurt gar keine Lust sich zu unterhalten. Was sollte er ihm auch erzählen? Dass seine Frau vor drei Jahren gestorben war? Warum sollte den anderen das interessieren? Vielleicht war er ja auch Witwer? Ob er Kinder hatte?
Kurt und Gerda hatten keine Kinder. Kurt wollte immer einen Sohn, aber Gerda konnte keine Kinder bekommen. Ob ihn ein Kind damals über den Tod Gerdas hinweggetröstet hätte? Ein Sohn oder eine Tochter wäre jetzt wohl auch schon über zwanzig Jahre alt, Kurt und Gerda waren immerhin dreißig Jahre glücklich miteinander verheiratet gewesen, bevor sie starb.

Wie es wohl gewesen wäre, einen Sohn zu haben, überlegte Kurt zum wiederholten Male. Ihn aufwachsen zu sehen, mit ihm zu spielen, mit ihm schwimmen zu gehen, angeln vielleicht.
Blödsinn. Kurt hatte in seinem ganzen Leben noch nie eine Angel in der Hand gehabt, warum hätte er, falls er einen Sohn gehabt hätte, mit diesem angeln gehen sollen?
Obwohl, mit seinem Sohn wäre es bestimmt interessant gewesen, das Angeln. Interessanter als alleine auf jeden Fall.
Kurt musste lächeln, als er sich vorstellte, stundenlang an einem See oder einem Fluss zu stehen, um eine Angel ins Wasser zu halten.

"Haben Sie einen Sohn?", hörte er sich plötzlich seinen Begleiter fragen.
"Ich? Nein, ich habe zwei Töchter", sagte der. "Warum fragen Sie?"
"Ach, nur so." Er machte eine kurze Pause.
"Es muss schön sein, mit seinem Sohn angeln zu gehen", setzte er dann hinzu.
"Angeln Sie?", fragte interessiert der Andere und blickte ihn an.
"Äh, nein, nicht wirklich." Kurt wurde es jetzt fast schon peinlich, überhaupt damit angefangen zu haben. Dann gingen sie wieder schweigend mehrere Minuten nebeneinander her. Es war Kurt plötzlich gar nicht mehr so unangenehm, mit jemandem gemeinsam zu gehen. Vielleicht könnte man sich ja öfter treffen und Waldspaziergänge machen. Wenn das Eis erst mal gebrochen war, wer weiß, vielleicht würde sich so eine Art Freundschaft entwickeln? Kurt ging automatisch an der Weggabelung rechts, weil er bei der alten Fabrik abbiegen wollte. Er bemerkte gar nicht, dass sein Begleiter sich mehr links hielt. Erst als dieser schon aus einiger Entfernung: "Einen schönen Tag noch!" rief, fiel es ihm auf.
"Ja, danke, Ihnen auch", entfuhr es ihm noch, dann wurde der Fremde auch schon vom Unterholz verdeckt.

Kurt fühlte sich plötzlich irgendwie alleingelassen.
Schon seit vielen Jahren war er morgens ohne Begleitung im Wald unterwegs.
Noch nie hatte es ihm irgendetwas ausgemacht, nie hatte er sich dermaßen alleine gefühlt. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen. Bald hatte er die alte Fabrik erreicht und verließ den Wald, den er genau an dieser Stelle vor zwei Stunden betreten hatte. Er liebte diesen Rundweg, trotzdem beschloss er, beim nächsten Mal nicht wieder hierher zu kommen.

Das nächste Mal würde er am See spazieren gehen. Er kannte dort ein paar Stellen, an dem immer die Angler saßen.
Er freute sich plötzlich auf sie.

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