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Verschwinde, Sam!

Als Siegfried Krainmüller aus dem nagelneuen metallicroten Mercedes stieg, den er sich erst vor ein paar Stunden geleistet hatte, schwankte er beträchtlich.
"Bleib' doch stehen," sagte er zu der Straße, die sich unablässig um ihn drehte. Wenn jetzt die Bullen vorbeikämen, wäre es um seinen Führerschein geschehen. Kichernd drückte er den Knopf nach unten und schlug die Tür zu. Na und? Mit der Kohle, die er heute gemacht hatte, könnte er sich zehn neue kaufen und einen Chauffeur dazu, wenn es sein mußte. Er würde es ihnen schon zeigen. Siegfried Krainmüller war ein gemachter Mann. Oja, Senor Leck-mich-am-Arsch-Morales, das war er. Etwas unsicher setzte der gemachte Siegfried Krainmüller sich in Richtung Haustür in Bewegung. Auf halbem Weg blieb er stehen und sah nach oben. Hatte er nicht gerade eben ein Licht gesehen, links im dritten Stock?

Wahrscheinlich spannte Mira Graffunder wieder hinter der Gardine. Nein, nichts. Um diese Zeit lag die verrückte Alte schnarchend in ihrem Bett und sägte einen ganzen Wald voller Holz. Lächelnd schüttelte er den Kopf und ging weiter. Aber schon beim nächsten Schritt erstarb ihm das Lächeln auf den Lippen. Mira wohnte im dritten Stock rechts. Links konnte gar kein Licht brennen, weil niemand zuhause war; denn im dritten Stock links wohnte Mister gemachter Mann Siegfried Krainmüller. Wieder sah er nach oben. Dunkel starrten die Fenster auf ihn herab. Er zuckte die Achseln und setzte schwankend seinen Weg fort. "Ich habe mich getäuscht," sagte er sich, als er vor dem Lift stand und auf den Knopf drückte. "Ich muß mich getäuscht haben!" Mußte er das? Wann hatte er sich zum letzten Mal ...

Der Lift kam nicht. Suchend glitt sein Blick über die Anzeigen und blieb auf dem Schild hängen, auf dem in der etwas krakeligen Kinderschrift des alten Kaminski stand: "Außer Betrieb!" Das Scheißding war schon wieder kaputt. Natürlich! Diese Türken, die letzten Monat hier eingezogen waren, kriegten alles hin. Fluchend wankte er zur Treppe. Schon auf dem letzten Absatz fummelte er nach dem Wohnungsschlüssel. Er hatte mehr als genug geschluckt bei seiner Ein-Mann-Party heute abend, oja, das hatte er, und er brauchte eine ganze Weile, bis er ihn draußen hatte. Dennoch sagte ihm ein sechster Sinn, daß etwas nicht stimmte, als er vor der Tür stand.

Vielleicht hatte sein Unterbewußtsein ein Geräusch registriert, das nicht hierher gehörte, das Scharren von Schuhen auf Linoleum etwa oder das leise Klicken eines Schnappmessers, das jemand öffnet, der hinter einer Tür lauert. Auf jeden Fall war er schlagartig nüchtern. Ein Einbrecher? Unwahrscheinlich, bei ihm gab es nichts zu holen, jedenfalls nicht in der Wohnung.
Morales! Ja, natürlich, das mußte es sein! Morales hatte gemerkt, daß er ihn gelinkt hatte und jetzt wollte er ihm zeigen, wie man in Kolumbien Geschäfte machte.
Auch gut! Wenn Morales es auf die harte Tour wollte, konnte er es haben. Seine Hand wanderte unter das Jackett; aber dort war nichts, was ihm helfen konnte.
Die Achtunddreißiger lag in der Schreibtischschublade im Büro neben einem Supermann-Comic, einer halbvollen Schachtel Marlboro und einem leeren Whiskeyglas, das er vor einem Klienten versteckt hatte. Er verfluchte sich für seine Unvorsichtigkeit. Wie konnte er nur so dumm sein anzunehmen, der größte Dealer der Stadt würde auf einen derart billigen Trick hereinfallen! Natürlich hatten Experten das Zeug geprüft und natürlich war die Qualität einwandfrei. Nahezu wenigstens. Aber die Menge! Die verdammte Menge, dachte er. Er hatte immer nur ganz wenig genommen, und nie hatte jemand etwas gemerkt. Und jetzt das! Herrgott, er hatte doch nur ein bißchen dazu verdienen wollen, seine Finanzen waren knapp und ...
Er sah Morales vor sich, wie er grinste und sagte: "Jorge, Mister Neunmalklug hat uns schon wieder beschissen. Das ist jetzt das dritte Mal. Er hat seine Chance gehabt. Geh und erledige das Problem. Lege ihm eine Krawatte an."
Jorges Augen würden leuchten bei dem Gedanken, er konnte richtig sehen, wie er liebevoll sein Rasiermesser herausholte und sanft mit dem Daumen über den Griff strich, nicht über die Klinge, wie man es bei einem normalen Messer tun würde, denn die Klinge war ... Die Klinge war scharf.
Jorge nickte nur, wie er es immer tat, wenn er einen Auftrag zu erledigen hatte. "Jorge, geh' und fahr' den Jaguar raus." Mit ausdruckslosem Gesicht ging Jorge und fuhr den Jaguar aus der Garage. "Jorge, geh' und besorg' uns was zum Trinken."
Mit ausdruckslosem Gesicht ging Jorge, auch wenn es drei Uhr morgens war, und besorgte etwas zu trinken. "Jorge, geh' und schaff' uns diesen widerlichen Betrüger vom Hals!" Mit ausdruckslosem Gesicht würde Jorge gehen, aber seine Augen würden leuchten, während er lächelnd ...
Er war dabei gewesen, als sie den Indianer gefunden hatten auf dem Schrottplatz unten an der Werft, in einem verbeulten Mercedes sitzend, die Hände im Schoß gefaltet, während die Sonne wie verrückt herunterknallte. Er war zwar erst siebzehn gewesen, aber er kannte die Spielregeln, und er hatte den Bullen trotzdem einen Tip gegeben. Die Schmeißfliegen umschwirrten ihn und in seinem Hals klaffte ein riesiges Loch, das von einem Ohr bis zum anderen reichte. Jorge hatte ihm die Zunge durch die Öffnung gezogen, so daß sie bis zur Brust herab hing. Siegfried war fast übel geworden. Jorge war Spezialist für kolumbianische Krawatten.

Sein Adrenalinpegel stand kurz vor dem Überlaufen, als er den Schlüssel im Schloß drehte. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Langsam, ganz langsam, schob er die Tür einen Spalt weit auf und tastete vorsichtig nach dem Lichtschalter. Hörte er nicht jemanden hinter der Tür atmen? Er ballte die Linke zur Faust, bereit zuzuschlagen, und drehte sich etwas, um dem Angreifer eine möglichst geringe Körperfläche zu bieten. Wieder das Scharren! Gleich würde die Klinge ... Bevor sie heruntersausen konnte, stieß er mit voller Wucht die Tür ganz auf, knipste das Licht an und sprang nach vorn.
Vor ihm stand ein hohlwangiger Mann mit blutunterlaufenen Augen. Er trug einen schäbigen Anzug von der Stange mit Trauerrändern an den Ärmeln und hatte die Fäuste erhoben. Aus reinem Reflex schlug er zu. Im letzten Moment stoppte er ab. Fast hätte er den Spiegel in der Diele zertrümmert. Erleichtert atmete er auf. Dennoch fuhr er sofort herum und ging in Kampfstellung, als er das Geräusch wieder hörte. Sam kam um die Ecke, sah ihm in die Augen und miaute vorwurfsvoll. "Ach, du bist es!" sagte er. Sein Puls beruhigte sich langsam. "Habe ich vergessen, dich heute morgen herauszulassen, Sammykater?"
Hatte er das? Er hatte noch nie vergessen, Sam aus dem Haus zu lassen. Das gehörte zum allmorgendlichen Aufstehritual. Andererseits, die Anspannung der letzten Tage ...
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Ein Mann konnte schon mal etwas vergessen, wenn er so unter Druck stand. Er hatte heute das größte Geschäft seines Lebens hinter sich gebracht, und da war es nur normal, daß er nicht die ganze Zeit an einen dämlichen Kater dachte. Miauend rieb Sam sich an seinem Hosenbein.
"Verschwinde," sagte Siegfried und ging in die Küche. Er holte sich eine Dose Budweiser aus dem Kühlschrank und öffnete sie. Dann pflanzte er sich vor den Fernseher und sah sich Thomas Gottschalks Late-Night-Show an. Er interviewte irgend ein Model, das aufgeregt mit den Wimpern klimperte. Nach dem dritten Bier ging Siegfried ins Bad. Die Tür ließ er offen, während er sich vor die Schüssel stellte, damit er die Polenwitze mitbekam. Sie waren fast so gut wie die über die verdammten Türken. Als er den Reißverschluß wieder hochzog, spürte er eine Bewegung in seinem Rücken.
"Verschwinde, Sam!" sagte er.
"Hallo, Siegfried," sagte Jorge. "Morales schickt mich!"

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