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Variationen über eine unwichtige Begebenheit
Das Schema der nächsten Texte
basiert auf der Idee von Raymond Queneaus "Stilübungen". Queneau hat,
ausgehend von einer knappen Beschreibung einer Alltagssituation 98 (!) literarische
Stilvariationen dieses Ausgangstextes geschrieben. Dieses Konzept griff ich
auf mit einem eigenen Ausgangstext und eigenen Variationen. So wird aus dem
Bericht einer S-Bahnfahrt eine Fussballspielreportage, ein Drama, usw... Hier
ein paar Ausschnitte:
AUSGANGSTEXT
In einer vollbesetzten S-Bahn, Richtung Innenstadt, später Nachmittag.
Es ist Winter und deshalb schon dunkel draußen. Ein junger Mann, um
die 24 Jahre alt, Traurigkeit in seinem Blick. Auf seiner auffallend krummen
Nase sitzt eine kleine Nickelbrille. Ein Mädchen spricht zu ihm. Als
ich näher komme, um mich auf einen freigewordenen Platz zu setzen, höre
ich, wie das Mädchen sagt: " Kapier` es endlich, es ist aus zwischen
uns. " Der Mann fängt an zu weinen. Vor allen Leuten.
Etwa zwei Stunden später begegne ich dem Kerl wieder. Er spaziert mit
einem anderen Mädchen durch die Fußgängerzone und erzählt
ihr eine interessante Geschichte.
IM STIL VON JOHN LENNON
Darf ich mich vor- oder nachstellen? Mein Name ist John Lenin...oder warīs
Lennon? Ist ja auch egal. Eins weiß ich jedenfalls sicher: " Iīm the
walrus."
Ich möchte euch, liebe Laser, eine Geschichte, nein besser ein Gedicht...
eine Gedichte erzählen. Es ward in der Eis-Bahn und zu spät, um
"Good morning" zu singen. Wir fuhrwerkten gerade oder vielleicht auch schief
die "Penny Lane" entlang, vorbei an den "Strawberry Fields". Ich kam,sah und
siegte einen "Nowhere Man", dessen Mädchen mit ihm Schluss zu machen
wie die Sonne schien. Er wieherte und weinerte als hätte er die Message
"All you need is love" verstanden. Apropos -verstunden - Stunden später
- und das ist dämlich der Grund und Boden warum ich euch dash3 alles
berichtige - hatte der "Fool on the Hill" schon einen Ersatz. Tja Leute,das
war "A day in the life" von mir.
P.S.: Hab ich eigentlich schon ergähnt, daß der Typ die gleiche
Brille hatte wie meinerseits?
FUSSBALLREPORT
Das Stadion ist vollbesetzt. Nur noch wenige Minuten bis zur Halbzeit. Der
neue Abwehrspieler der Mannschaft in den schwarzen Trikots wird vom gegnerischen
Mittelstürmer angegriffen. Foul ! Oh, das ging unter die Gürtellinie!
Der Abwehrspieler liegt schmerzgekrümmt am Boden! Seh ich da Tränen?
Das muss wehtun! Das Publikum sieht gebannt zu.
Etwa zwei Minuten später gibt es einen Elfmeter. Und - Toooor!
SYNONYME
In einem noch kaum Sitzplätze bietenden öffentlichen Verkehrsmittel,
auf dem Weg ins Zentrum der Stadt, am frühen Abend. Es sind die letzten
Tage des Jahres und deshalb ist es bereits um diese Zeit finster. Ein Bursche,
schätzungsweise Mitte 20, Melancholie in den Augen. Auf seinem bemerkenswert
schiefen Riechorgan sitzt eine winzige John Lennon-Brille. Eine junge Dame
sagt ihm etwas. Als ich mich zu ihnen geselle, um auf einer unbesetzten Sitzgelegenheit
Platz zu nehmen, bekomme ich die Worte der jungen Frau mit: "Checkī es doch
endlich, ich mache Schluß!" Der Jüngling bricht in Tränen
aus. Vor den anderen Fahrgästen.
Ungefähr 120 Minuten nach diesem Erlebnis sehe ich den Mann wieder. Er
schlendert mit einer neuen weiblichen Begleitung durch die Innenstadt und
teilt ihr einen hörenswerten Sachverhalt mit.
FRAGLICH
Ob die S-Bahn wohl so voll ist, weil die Leute ihre Weihnatseinkäufe
machen? Ob es am Winter liegt, daß es schon so dunkel ist? Ob der junge
Mann da schon 24 ist oder nur so jung aussieht? Ist da nicht eine gewisse
Traurigkeit in seinem Blick? Ist die Brille nicht ein bißchen zu klein
für diese auffallend krumme Nase? Ob es seine Freundin ist, die da mit
ihm spricht? Ob ich mich auf den freigewordenen Platz setzen sollte? Habe
ich das gerade richtig verstanden? Beendet sie gerade ihre Beziehung mit ihm?
Sehe ich recht, fängt der Kerl an zu weinen? Vor allen Leuten?
Ist das nicht derselbe Junge, den ich in der S-Bahn gesehen habe? Das ist
doch aber ein anderes Mädchen mit dem er jetzt redet?
SUBJEKTIV - Aus der Sicht eines Arschlochs
Ich war gerade auf dem Weg in die Stadt. Wollte beim Kaufhof noch eins dieser
Plüschtiere im Sonderangebot ergattern. Dachte mir, das ist das richtige
Weihnachtsgeschenk für Susanne, billig, aber sieht teuer aus. Und dann
noch Augen zu und īne schnelle Nummer, dabei einfach an Pamela Anderson denken.
Und dann habī ich wieder īne Weile Ruhe...Aber zurück zur Story: Da war
vielleicht ein schräger Vogel! Mit der Nase hätte er früher
in īner Freakshow auftreten können! Warum fährt so einer S-Bahn,
dachte ich mir, der sollte sich lieber auf die Schienen legegn! Wäre
die billigste Art einer Schönheitsoperation... Na ja, seine Freundin
war auch keine Schönheit. Na, was heisst Freundin! Sie hat ja gerade
mit ihm Schluss gemacht. Da schaute der Typ noch blöder als davor und
fing an zu heulen wie ein Balg, dem man die Batterien aus dem Spielzeug nimmt.
Jedenfalls, langer Rede kurzer Sinn: Zwei Stunden später kommt mir die
Gurkennase wieder entgegen und hat ein Superbabe im Schlepptau. Wie so ein
Schleimbatzen an so īne Braut kommt ist mir schleierhaft. So ein Wichser!
WÖRTERSCHLANGE
S
S-Bahn
S-Bahnabteil
S-Bahnabteilungsleiter
S-Bahnabteilungsleiterwagen
S-Bahnabteilungsleiterwageneigentümer
S-Bahnabteilungsleiterwageneigentümer-
versammlung
S-Bahnabteilungsleiterwageneigentümer-
versammlungsverbot
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versammlungsverbotsschild
S-Bahnabteilungsleiterwageneigentümer-
versammlungsverbotsschildbürger
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versammlungsverbotsschildbürgerstreich
S-Bahnabteilungsleiterwageneigentümer-
versammlungsverbotsschildbürgerstreichorchester
S-Bahnabteilungsleiterwageneigentümer-
versammlungsverbotsschildbürgerstreichorchesterleiter
S-Bahnabteilungsleiterwageneigentümer-
versammlungsverbotsschildbürgerstreichorchesterleiterwagen...
...
ELLIPSEN
Eine S-Bahn. Vollbesetzt. Richtung: Innenstadt. Winter, deshalb kalt und dunkel.
Ein junger Mann. Auffallend krumme Nase. Darauf eine kleine Brille. Ein Mädchen.
Worte des Abschieds. Und die dazugehörigen Tränen.
Zwei Stunden danach: der selbe Kerl, neben ihm eine Schönheit. Und als
Überraschung: die Pointe.
DIE DARSTELLER IN DER REIHENFOLGE IHRES AUFTRETENS
eine S-Bahn, altmodisch und stur
der Winter, totkrank und lebensmüde
ein junger Mann, schüchtern und leise
die Traurigkeit, verbittert und auf einem Auge blind
eine Brille, Student der Philosophie
ein Mädchen, die femme fatal des Stückes
der Erzähler, Stimme aus dem Off
einige Leute, bunt gemischt
zweites Mädchen, kaugummikauend, sexy
DIKTATFEHLER
In Heiners trollbenetzter U-Bahn, richtig Indien satt. Spaten Nacht mit Tag.
Es ißt Winfried und das halbe schohnt Dünkel außen. Bein
Junker Hahn bumst die 21 Fahre halt, saure Zeit in deinem Zick. Hauff deiner
umfallend dummen Vase spitzt eine Leine Nicki Pille. Ein Madchen bricht Sue
him. Pfalz dich Näher kämme, um Michi auf keinen breigewordenen
Satz zu ätzen, Möhre wicht, Ihh! Das Mädchen Sack: "Capri es
End-Wicht, ätz ißt Haus wischen Hund." Wer man hängt ab und
zu Wein. Vor allem Läuten. Etwas weiter unten späht er be gne gne
ich dem Karl Widder.
Der Spatz irrt mit seinem Wandern Männchen Lurch die Busgelderzone und
er zählt hier eine intrapassante Gedichte.
VERWECHSLUNGEN
In einem vollbesetzten Mädchen, Richtung Fussgängerzone, später
Winter. Es ist Nachmittag und deshalb um die 24 Jahre alt. Ein junger Mann,
schon dunkel, ein freigewordener Platz in seinem Blick. Auf seinem auffallend
krummen Mädchen sitzt eine kleine S-Bahn. Als ich näher komme, um
mich auf eine Traurigkeit zu setzen, höre ich, wie seine Nase sagt: "Kapierī
es endlich, es ist aus zwischen uns!" Die Innenstadt fängt an zu weinen.
Vor allen Plätzen.
Zwei Leute später begegne ich dem Mädchen wieder. Sie spaziert mit
einem anderen Kerl durch eine interessante Geschichte.
VERGLEICHE
In einer S-Bahn, voll wie eine Sardinenbüchse. Es ist Winter und dunkel
wie in einem Sarg. Ein junger Mann, Traurigkeit in seinem Blick, wie die Traurigkeit
eines Clowns nach der Vorstellung. Seine Nase ist wie ein Krummsäbel.
Darauf sitzt eine Brille wie die von John Lennon. Ich setzte mich auf einen
Platz, der leer ist wie ein italienisches Strandhotel im Winter. Ein Mädchen
spricht zu dem jungen Mann, eindringlich und langsam, wie zu einem geistig
Behinderten. Sie macht Schluss mit ihm, kaltblütig wie eine femme fatale
aus einem Schwarzweiss-Krimi. Der Mann weint wie ein kleines Kind, das vom
Fahrrad gefallen ist.
Etwa zwei Stunden später sehe ich ihn wieder. In seiner Begleitung ist
ein Mädchen, schön wie der Traum eines pubertierenden Teenagers.
KONKRETE POESIE
Suche nach Liebe im Schwarzweiss der Innenstadt-Realität.
Die Liebe ist eine Blume im Asphalt.
Die Liebe ist kalt und dunkel wie die Nacht.
Die Liebe ist die Liebe ist die Liebe
und ihr Ende ist eine krumme Nase auf einem S-Bahngleis,
eine Nase wie ein Fragezeichen
und die Welt ist die Frage.
Fussgängerzonen erzählen interessante Geschichten
COMIC
ratter ratter! bla bla bla! heul, schluchz, wimmer!
klapp klapp! bla bla bla! ha, ha, ha!
METAPHORISCH
Ein vollgefressener Stahlwurm bohrt sich durch die Eingeweide der Nacht. Ein
Nashorn wird mit Sprechblasen beworfen, bis es in einem Meer der Trauer fast
ertrinkt. Applaus in der ersten Reihe.
Im Menschenmeer der Großtadt sucht das nashorn Halt an einem Baumstamm.
GEGENTEILIGES
In einer leeren S-Bahn, Richtung stadtauswärts, früh am Morgen.
Es ist Sommer und noch hell im Inneren. Ein Greis, um die 84 Jahre alt, Heiterkeit
in seinem Blick. Auf seiner auffallend wohlgeformten Nase sitzt eine grosse
Sonnenbrille. Eine alte Frau schweigt. Als ich weggehe, um mich an die Tür
zu stellen, höre ich nicht, wie die Alte ihm einen Heiratsantrag macht.
Der Mann lacht. Im leeren Abteil.
Unmittelbar danach sehe ich ihn nicht mehr. Er steht mit einer anderen alten
Frau auf der Autobahn und spricht kein Wort.
ALLITERATIONEN - Auch als Zungenbrecher benutzbar...
In einer schnellen S-Bahn, schnurstracks zur Stadt. Hinter den Scheiben schneit
es schrecklich stark. "Schluss!", schreit die Schöne schallend, sichtlich
sauer. Säbelnase seufzt schamlos vor den staunenden Stehenden. "Schade,
schöne Scheisse! Schaurige, stinkende Schlampe! Seuchensicherer, schreckschraubiger
Spulwurm!", säuselt Säbelnase, sofort selbstsicher.
Sekunden später sehe ich Säbelnase schmachtend mit einem sagenhaft
scharfen Schatz, mit schicken, süssen, stattlichen Schenkeln. Schampus
für das starke Stehaufmännchen! Super, stuzigmachende story, schöner
Scherz!
ÜBERTREIBUNGEN
In einer zum Bersten gefüllten S-Bahn, fast Mitternacht, eiszeitliche
Temperaturen. Ein junger Mann mit einer Sprungschanze statt einer Nase. Als
ich mein Ohr an den Mund seiner Freundin lege schreit sie, so laut, dass man
es noch in Tokyo hört: "Kapier es endlich, es ist aus!" Der junge Mann
bekommt einen Nervenzusammenbruch. Er hat dabei mehr Publikum als die Beatles
bei ihrem Abschiedskonzert.
Zweihundert Jahre später sehe ich den Kerl mit dem Eiffelturm im Gesicht
wieder - mit der schönsten Frau der Welt hüpft er, Konfetti schmeissend,
durch die Innenstadt.
KLASSISCH
Mich dünkt, es ward zur Winterszeit, als ich jenes eigentümlichen
Ereignisses zufälliger Zeuge wurde. Ein Jüngling von eher unfeiner
Gestalt, doch, wie es des Lebens und der Schöpfung verworrenes Spiel
oft grausam treibt, dennoch von edelster Gesinnung. Die Ahnung einer unendlichen,
bittersüssen Traurigkeit umgab seine Züge. Sein Antlitz schien in
der Tat die saure Frucht einer üblen Laune des Schöpfers zu sein!
Er schien mir ein Hüter der Weltenweisheit, ein Studiosus der Universalwissenschaft
zu sein. Sein Liebchen sprach zu ihm. Aber es waren sicht die süssen,
bezaubernden Poeme der Liebe, die, beflügelt von Amors Pfeilen, die Herzen
der glücklichsten Erdenkinder treffen. Nein, vielmehr waren es die vom
Gift der Ungunst getränkten Pfeilspitzen des Abschieds, die sie kalt
in seine zarte Seele bohrte.
Doch, wie, es der launischen Dame Fortunas bald höllisch grausames, bald
himmlisch berauschendes Spiel will, fand sich noch diesentags ein neuer Engel,
den ein gütiger Gott diesem guten Erdenkinde schickte und der ihn von
neuem von den süssen Elixieren der Lebensfreude berauscht machte.
DER G-TEXT
Die Original-Idee des nächsten Textes ist von Heinz Erhardt, der einen
Sketch geschrieben hatte, bei dem jedes gesprochene Wort mit "G" begann...
Grüss Gott! Gestatten großstädtische Geschichtenerzählung?...
Gut!
Gelände: Gleise, graue Gegend. Geschwindigkeit: geht. Gäste: Gefasel.
Gelegenheit: geräumiges Gesäss-Gebiet, gleich gemütlich geparkt,
gutes Gefühl! Garstiges Gespräch gehört:
Gehorsamer Genosse (gebogenes Geruchsorgan gleicht Gurke): "Geachtete Geliebte!"
Gebieterische Grazie: "Geh, Geck!"
Gedemütigter Genosse: "Garantiert?"
Gefühlskalte Göhre, geringschätzig: "Geh, Gammler!"
Gurkennase, gereizt: "Gemeine Gans!"
Gesichtsausdruck: gedrückt. Gram, Gefühle gähren. Gesellschaft
gafft, gelegentlich Gelächter. Gestern Geliebte gehen getrennt, geschiedenen
Gemahlen gleich.
Ganz gegenteilig: Gebiet: Gehsteig. Grinsender Gentleman geht gutgelaunt.
Gesellschaft: gebräuntes, geeignetes Gegenstück, Geschenk Gottes.
Gegenüber gehässiger Geliebter: Gedächtnisschwund, glanzvolle
Genugtuung. Glückspilz!
Gekünstelte, geistreiche, geheimnisvolle Geschichte, gell?!
NICHTS ZUR SACHE
Im zweiten Abteil in Fahrtrichtung einer 1991 in Betrieb genommenen S", die
ihre Reise in Holzkirchen startete, befindet sich eine Anzahl von Fahrgästen,
die die vom Münchner Verkehrsverbund, abgekürzt MVV, vorgesehene
Aufnahmekapazität mehr als ausschöpft. Aber das tut nichts zur Sache.
Ein 25-jähriger Mann, der nebenbei bemerkt, einen Tag zuvor Geburtstag
hatte, sitzt auf einem mit weinroten Kunstleder bespannten Platz, der an der
rechten Seite ein durch den Messerstich eines betrunkenen Neonazis hervorgerufenes
Loch hat. Genau diesselbe Traurigkeit, die ein aufmerksamer Beobachter im
Gesicht des jungen Mannes entdecken kann, hatte übrigens aber das ist
natürlich reiner Zufall - Humphrey Bogart in Casablanca, als er voll
bitterer Ironie zu Ingrid Bergmann sagte: "You understand me". Die Brillenstärke
des Burschen ist drei Dioptrin, aber das tut ebenfalls nichts zur Sache. Seine
Freundin macht bezeichnenderweise genau an der Stelle der Gleisstrecke Schluss
mit ihm, wo drei Jahre zuvor ein 16-jähriger, den seine Klassenkameraden
"Konfetti" nannten, mit dem Leben Schluss gemacht hatte. Der Mann sagt nichts
mehr, aber ich, der ihn in einem Abstand von circa zwei Metern beobachte (das
ist, nebenbei bemerkt, genau der Abstand, den Julius Cäsar von Brutus
hatte, als er seine berühmten letzten Worte sprach...), sehe die erste
Träne, lange bevor die anderen Fahrgäste ihre Aufmerksamkeit auf
den Ärmsten lenken. Lange bevor der frühpensionierte Siemens-Mitarbieter
kurz den Blick von seiner Zeitung nimmt, lange bevor die alte Frau den Burschen
ausgiebig betrachtet und dabei an ihre erste Liebe denkt und lange bevor die
zwei Grundschülerinnen, die mir gegenüber sitzen, auf den jungen
Mann deuten und grinsen. Die eine hatte am Frühstückstisch eine
Ohrfeige bekommen, weil sie zur Mutter "Was geht dich das an!" gesagt hatte
- aber das tut nichts zur Sache.
Warum ich das alles erzählt habe: Ich traf den Jungen wieder. Und an
seiner Seite war ein anderes Mädchen. Wenn ich sie mit der Vorgängerin
aus der S-Bahn vergleiche, ist das ein Unterschied wie zwischen einem roten
Ferrari und einem rostigen Klapprad. Ihr blondes Haar schimmerte in der Sonne
und überhaupt wirkte sie, wie ein Engel, der vom Himmel gefallen war
als Gottes Entschuldigung für alles was er in den letzten Jahrhunderten
so verbockt hat. Ich gab die Kette, die ich für Susanne gekauft hatte,
übrigens sofort danach zurück, aber das tut wiederum nichts zur
Sache.
TIERLEXIKON
Der Gurkennasenbär ist ein Säugetier, das sich, wie die U-Bahnratte
oder das Kanalkrokodil, im Laufe der Evolution erstaunlich gut an das urbane
Leben angepasst hat. Er scheut das Tageslicht und ist tagsüber eigentlich
nur zur Nahrungssuche und Partnerwahl unterwegs. Am häufigsten findet
sich dieses Tier von eher plumper Gestalt in S-Bahnen, wo es oft ein Balzverhalten
zeigt, das wir gern vermenschlicht als "Weinen" deuten wollen.
Wie alle hochentwickelten Tiere lebt die Gurkennase polygam.
COMPUTERLYRIK
Die "Computerlyrik" ist entstanden, indem ich die
einzelnen Worte des Ausgangstextes vom Computer alphabetisch ordnen und untereinander
schreiben liess. Damit mehr oder weniger Sinn daraus entstand, strich ich
manche Worte und fügte Leerzeilen ein. Die Reihenfolge der Worte verblieb
aber alphabetisch geodnet.
24
alt
anderen
auffallend
blick
deshalb
dunkel
endlich
erzählt
er
es
fussgängerzone
höre
ich
interessante
geschichte
junger
kerl
kleine
mädchen
mann
mit
nase
später
spaziert
spricht
weinen
wieder
winter
AUS DER SICHT DES JUNGEN MANNES
Du, ich muss dir was erzählen! Ich habī heute in der S-Bahn auf dem Weg
zu dir eine Kollegin aus meinem Theaterkurs getroffen. Sie hat mir ihr Leid
geklagt, wie schwer es ihr fällt, in ihrer Rolle auf Knopfdruck zu weinen.
Ich habī ihr den Tip gegeben, ganz fest an etwas Trauriges aus ihrer Vergangenheit
zu denken. Um ihr das zu demonstrieren, schlug ich vor, eine kleine Szene
zu spielen, in der sie ihren Text sagen sollte. Was meinst du, wie blöd
die Leute geguckt haben, als ich losgeheult habī!
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