© der Geschichte: Jelena Große-Bley. Nicht unerlaubt
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Tomaten

Mit aufgestelltem Kragen stand sie in einer Gondel und wies den Matrosen an, sich rechts zu halten.
Es wurde Herbst. Die Bäume, die die Kanäle Venedigs säumten, kämpften um ihre letzten Blätter und durch die Gassen jaulte der Wind. Eine kalte Briese presste die getönte Sonnenbrille gegen ihre Wimpern. Nervös massierte sie sich ihre Schläfe.
Vor zwei Jahren hatte sie ihren Job bei der Mafia aufgegeben. Es war nicht einfach gewesen, die Kontakte abzubrechen und unterzutauchen, aber seit längerer Zeit war es still. Doch nun, vor zirka drei Wochen, fand sie einen Brief vor ihrer Tür. Auf den ersten Blick hatte es wie ein Liebesbrief ausgesehen und so hatte sie ihn mit flüchtigem Interesse geöffnet. Ihr Interesse stieg mit jedem Wort - wie auch ihr Entsetzen.
"Signora!" Ein starker Ruck durchfuhr die Gondel und ließ sie aufschrecken. Sie warf dem Matrosen einige Münzen zu und sprang an Land.
Sie wusste nicht mehr genau, wer die Nachricht signiert hatte, aber das was sie gelesen hatte, würde sie nicht vergessen - egal wie sehr sie es sich auch wünschen mochte.
Jemand rempelte sie an und sie bog in eine Seitenstraße. Ihr Ziel war ein kleines Straßencafé. ‚Dort wird jemand auf Sie warten. Die Person wird draußen sitzen und frühstücken.' Es war kurz vor vier Uhr nachmittags und der Wind winselte an den Fensterläden der Häuser.
Natürlich hatte sie erwogen nicht aufzukreuzen, indes hatte es in dem Brief weiter geheißen: ‚Entsprechen Sie nicht den oben angegebenen Forderungen, sehen wir uns gezwungen Sie persönlich aufzusuchen.'
Wie ein Blitzgewitter jagte es unaufhörlich durch ihren Kopf: Sie haben mich.

Sie rückte entschlossen ihre Sonnenbrille gerade und strich sich durchs Haar. Vor ihr lag das kleine Café. Es war nicht gut besucht, nur ein Pärchen war hinter den Scheiben zu erkennen. Eine Böe fuhr unter ihren Mantel und ließ sie erzittern. Vor dem Café standen ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Sie straffte ihre Schultern und trat an den Tisch. Auf ihm lagen einige Cherrytomaten und ein Teller, an dessen Rand ein wenig Butter klebte. Über den Tisch gebeugt saß ein Mann mit einer verschlissenen Melone auf dem Kopf.
Ungebeten setzte sie sich dem Mann gegenüber. Dieser sah auf und lächelte sie an, dann sprach er: "Ich hatte schon befürchtet, ich würde Sie hier nicht treffen."
Er war alt. Doch seine Augen waren wach und seine Züge weise. Seine Brauen waren weiß und sein Gesicht sauber rasiert, aber seine Kleidung sah, wie sein Hut, verkommen und abgerissen aus.
Er legte das Brötchen in seiner Hand hin und steckte eine Hand in seine Tasche.
"Ich habe etwas für Sie, Mädchen." Er blickte auf. "Sie wissen von wem." Er schob ihr einen kleinen Zettel zu. Sie nahm ihn nicht sondern sprach: "Sie wissen was drin steht. Sagen Sie es mir." Der Alte schüttelte bedauernd den Kopf und deutete mit einem Finder zum bewölkten Himmel. "Befehl von oben. Es tut mir Leid, Täubchen."
Mit starren Fingern entfaltete sie das Papier. ‚Wir müssen ihnen mitteilen, dass wir ihre Dienste in Anspruch nehmen werden. Eine bestimmte Person hat bestimmte Forderungen nicht korrekt erfüllt. Wir hoffen auf ihre Unterstützung.' In sauberer Druckschrift folgten ein Name, Adresse und kurze Stichpunkte zu Aussehen und Gewohnheiten.
Kerzengerade saß sie auf ihrem Stuhl. Erst nach einigen Augenblicken ließ sie den Zettel sinken und richtete ihren Blick wieder auf den alten Mann. Dieser lächelte immer noch warmherzig. Mit ausdruckslosen Augen starrte sie durch ihn hindurch. Doch sie hatte eine kalte Hand an der Gurgel gepackt, die sie würgte.
Seufzend wandte der Alten sich wieder seinem Frühstück zu. "Wissen Sie, meine Liebe, das Geschäft des professionellen Mordes kann man mit dem Essen einer Tomate vergleichen." Er ließ eine der roten Früchte durch seine Finger gleiten. "Wenn man zu schnell und gierig hineinbeißt, zerplatzt sie am anderen Ende, wird matschig, der Saft läuft aus und deine Hände werden dreckig. Sofern du es nur einmal machst und es danach nicht wiederholst, kannst du ein wenig Tomate essen ohne zu deutliche Spuren zu hinterlassen. Doch ein kleiner Fehler oder ein schlauer Verfolger und du hast einen fetten Fleck auf deinem Hemd, den du bis zum Ende deines Lebens behalten wirst.
Wenn du jedoch überlegst und vorsichtig die Schale mit den Zähnen eindrückst, um erst den Saft herauszusagen und anschließend genüsslich reinzubeißen, verlierst du keinen Tropfen der Frucht. Du bekommst alles. Das kannst du so oft du willst wiederhohlen und du erhältst immer das Optimum an Gewinn.
Du siehst also, Erfahrung, Wissen und genaue Einschätzungen sind unverzichtbar. Ohne diese drei Dinge kannst du nicht planen, ohne einen Plan keinen Erfolg erzielen."
Er grinste und schnitt seine Tomate mit seinem Messer in mundgerechte Stücke und legte sie vor seinem Zuhörer auf den Tisch. Dann nahm er eine zweite Tomate und biss schmatzend hinein, sodass der Saft auf den Teller klatschte. Immer noch breit grinsend schluckte er und leckte sich die Lippen.
"Gute Ausrüstung, um einem die Arbeit zu erleichtern, und Freunde, die auch mal was auffangen, wenn mal was daneben geht, sind aber trotzdem unentbehrlich."
Er nahm eine dritte Tomate und steckte sie in sein Brötchen. Die Öffnung die dadurch entstand, füllte er mit einem Salatblatt und strich etwas Butter darüber. Er schien sich köstlich zu amüsieren, als er das Brötchen platt drückte und seinen Beobachter interessiert anschmunzelte.
"Aber am wichtigsten ist immer noch die Phantasie, erst sie macht einem die Sache schmackhaft. Und sie lässt dich Dinge in einer anderen Weise betrachten. Meine Kleine, alles ist eine Sache der Ansichtsweise."
Er nickte zufrieden und verspeiste, immer noch grinsend, sein Brötchen.
Sie sprachen nicht, bis der Alte sich erhob. "Du weißt also was niemals fehlen darf, hörst du, niemals?" Er lüpfte seinen Hut zum Abschied. "Der Wille, mein Mädchen, der Wille ist ein starkes Werkzeug. Wenn du weißt was du willst, ist vieles einfacher." Er nahm sich die letzte Tomate und schob sie sich als Ganzes in den Mund. "Ich wollte Tomaten essen."
Leise summend verließ er sie. Sie saß unverändert stocksteif auf ihrem Stuhl.

Der Wind seufzte wie zuvor und sie stand vor der Adresse ihres Opfers. ‚Der Wille', hallte es in ihrem Kopf. Die Waffe lag schwer in ihrer Hand; der Ekel vor ihrer Aufgabe auf ihrem Geist.
Es waren sechsundzwanzig Stunden vergangen, seit ihrem Treffen mit dem Alten. Sie hatte jede Sekunde mitgezählt, gebeugt über schwarzem Kaffee.
Nun stand sie knapp neben dem Lichtkegel einer Straßenlaterne und rieb ihre Finger nervös am Lauf ihrer Waffe. Die Nacht war lang gewesen und der folgende Tag länger, doch sie hatte eine Entscheidung getroffen. Das gab ihr die Entschlossenheit und Kraft ihre Schritte zur Haustür zu lenken.
Als sie sich über den Lautsprecher als Postbotin ausgab, hörte sie bereits Sirenen und hektisches Reifenquietschen. Die Tür summte und sie gelangte ins Treppenhaus.
Die Tür zur begehrten Wohnung war bereits geöffnet und eine Person erwartete sie.
Sie presste ihre Hände in die Taschen und ging die paar Stufen empor.
"Für wen soll ich ein Paket annehmen?" Diese Stimme - sie musterte die Person im fahlen Licht genauer. Sie erstarrte - ihr Opfer war fast noch ein Kind!
Sie blieb nicht stehen, sondern näherte sich weiter. In ihrem Kopf zuckten Bilder umher. Bilder von der Mafia gefolterter Menschen, hilflose Menschen: entkleidet, verprügelt, zerfetzt und zerstört. Sie sah den Jungen an, der vor ihr stand und sie fragend ansah.
Die Zeit stockte.
Sie zog ihre Waffe, entsicherte und zielte. Sie sah den Jungen zurückweichen und gegen den Türrahmen prallen. Mit verzweifelten Augen und hochgerissenen Armen versuchte er seinen Körper zu schützen. Seltsam verzerrt drangen seine Schreie und sein Flehen an ihr Ohr.
Sie würden ihn finden. Sie würden ihn überall finden.
Ihre Augen brannten. Ihr geübter Finger legte sich um den Abzug und drückte zu.
Ein Jaulen entfuhr dem Jungen und eine rote Blüte begann auf seiner Stirn zu pulsieren. In letztem Reflex krallten sich die kleine Finger an den Türrahmen, dann kippte der Körper zur Seite und blieb seltsam verdreht liegen.

Es schien ihr wie eine Ewigkeit, bis sie die heulenden Sirenen der Polizei und die hysterischen Schreie der Mitbewohner hörte.
Sie sah die Eltern des Jungen aus der Wohnung stürmen und über dem Jungen zusammenbrechen. Mittlerweile war der Boden benetzt mit Blut. Sie stand immer noch regungslos im Flur.
Deshalb hatte sie ihren Beruf geschmissen, hatte versucht die Mafia zu verlassen. Sie hatte all das hinter sich lassen und ein neues Leben anfangen wollen. Jetzt hatten sie sie wieder und würden sie auch nicht mehr freigeben. Sie würde wieder Werkzeug sein, Menschen zu töten, die vielleicht Geschäften nicht zugestimmt oder einen Mord bei der Polizei gemeldet hatten.
Sie sah die Mutter zuckend über ihrem Sohn liegen und den Vater, wie er mit erhobener Faust auf sie losging.
Ihre Augen brannten nicht mehr. In stiller Trauer rannen Tränen über ihre Wangen.
Der Mann holte gerade aus und nahm Anlauf um sie die Treppe hinunter zu schmeißen. Doch ein lauter Befehl durchschnitt die Luft und er hielt inne um sich zu seiner Frau zurückzuziehen.
Sie verstand den Ruf nicht, aber wandte sich um. Als sie den Polizisten in der Tür sah, dachte sie nur: Endlich!
Der Mann kam mit gezückter Waffe vorsichtig auf sie zu. In der Tür gaben ihm drei seiner Kollegen Deckung. Sie richtete ihre Waffe auf ihn, wohlwissend keine Kugel mehr geladen zu haben. Er zögerte eine Sekunde. Seine Augen musterten sie. Sie lächelte und er drückte ab.
Die Kugel bohrte sich in ihre Brust und schreiender Schmerz verzehrte sie. Mit einem Seufzer sackte sie zusammen. Alles wurde schwarz und Kälte begann sie einzuhüllen. Dankbar durchfloss sie ihr letzter Gedanke: Ich bin frei.

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