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Timmy-Boy

"Cheers, Timmy-Boy!"
Es folgte ein leichter, aber nachhaltiger Stubser mit der Handfläche in Timmys stoppeligen Nacken, der ihm keine andere Chance ließ, als den Inhalt des Pappbechers (Gläser waren bereits vergriffen gewesen, als Timmy hier aufgetaucht war) mit dem 98er "Veuve Cliquot Brut" (die Flasche für 45 Dollar), den er gerade an die blassen Lippen angesetzt hatte, zu mehreren Teilen über seinen hoffnungslos veralteten, knitterigen Tweed-Anzug mit den an den Knöcheln eine Spur zu kurzen Hosen, seine schon leicht geröteten Pausbacken, sein Doppelkinn und (was am nachteiligsten war) über Mr. Summers' waschmittelwerbungsweißes Flanellhemd zu schütten. Mit einem kieksigen Lachen, das so klang, als hätte eine Feldmaus Schluckauf, und diesem für sie so typischen arroganten Augenaufschlag (mit dem sie seltsamerweise alle, aber auch wirklich alle männlichen Angehörigen der Abteilung "Investment & Consulting" des Bankhauses "Thoresby & Livingston" um den Finger wickeln konnte, nur Timmy nicht) flog Celia Witherspoon, zukünftige Celia Thoresby (ja, ja, genau der Thoresby von "Thoresby & Livingston") mit den Worten "Nicht so zittrig, Timmy-Boy, der Abend ist noch jung, nicht schlapp machen!" an ihm vorüber und verschwand, sich den vor vierzehn Tagen frisch eingestellten, noch ganz pubertätspickligen Briefboten Taylor Shobinski für weiß was für Ungezogenheiten greifend, hinternwackelnd im Gewühl der zappelnden, sich windenden Menschenmenge auf der improvisierten Tanzfläche im Foyer des Bankhauses, die zu dumpf dröhnenden Breakbeats irgendeines Detroit-House-Samplers, die ein kahlgeschorener DJ mit Zickenbart gerade eben aufgelegt hatte, wie eine wild-west-artige Büffelherde mitstampfte. Eine Armada von verschiedenfarbigen Stroboskop-Scheinwerfern feuerte ein infernalisch flackerndes Blitzlichtgewitter auf die Tanzenden ab und ließ sie in ihren spasmischen Bewegungen unwirklich und dämonisch erscheinen. Ihre Schatten an den Wänden erzeugten den Eindruck, als wohne man einem Tanz von Derwischen um das Höllenfeuer bei.

Mr. Summers blickte in einer Mischung aus Überraschung und Entsetzen auf Timmy-Boy herab. Er war gut einen Kopf größer und von imposanter Statur als ehemaliger College-Football-Spieler. Timmy wußte, daß es überhaupt nicht gut war, wenn er seinen Champagner ausgerechnet auf das (so, wie er ihn kannte, bestimmt erst gestern für den heutigen Anlaß brandneu erstandene) Hemd von Mr. Summers schüttete, denn Mr. Summers war zum einen Kollege von Timmy, aber zum anderen (und das war entscheidend) der Schwager von Mr. Sundstrom, und der wiederum war der Leiter der Abteilung "Kreditwesen" des Bankhauses, ja, und damit war er Timmys Boss (abgesehen von Mr. Thoresby und Mr. Livingston natürlich). Für einen kurzen Moment hatte Timmy den Eindruck, Mr. Summers' Kopf würde mutieren, sich zum unförmigen Schädel eines fleischfressenden Höllenmonsters verwandeln mit blutunterlaufenen, rotädrigen Glupschaugen, die ihn voller Haß anstarrten und fast aus ihren Höhlen platzten und einem Maul mit Zahnreihen gigantischer Wildschweinhauer, das er immer weiter aufriß, bis fast ein 40-Tonner hineinpasste, um den kleinen Timmy-Boy zu verschlingen und in den Windungen seiner apokalyptischen Gedärme zu zersetzen und zu verdauen. Aber das mußte ein Trugbild sein.

"Tsch..., tsch..., tschuldigung, Mr. Summers..., Sir..., die, ääh..., die, also..., Mrs. Witherspoon, also, ääh..., sie hat..., ääh..., angestoßen...", gluckerte es heiser aus Timmys hasenschartigem Mund.
"Ach, halten sie bloß die Klappe, Mr. Meraskoff, von ihnen habe ich eigentlich auch gar nichts anderes erwartet; warum sollten sie sich ausgerechnet heute abend anders anstellen als sonst!" Mr. Summers machte mit zornverzerrtem Gesicht auf der Stelle kehrt und nahm dann champagnertropfend direkten Kurs durch die hüpfende Menge über das schweißvernebelte Tanzparkett in Richtung der Toiletten.

Timmy humpelte (sein linkes Bein war von Geburt an ein wenig kürzer als das rechte) in Richtung der großen Fensterfront, die den gesamten vorderen Bereich des Gebäudes einnahm. Draußen herrschte der typische Trubel einer sylvestertrunkenen Großstadt kurz vor dem mitternächtlichen Jahreswechsel. Menschen strömten durcheinander, Autos wälzten sich über die Straßen, ihre Insassen von einer lärmenden Party zur nächsten chauffierend. Hier und da zündeten einige Kids Kracher und Raketen in siffigen Hausecken und verbeulten Mülltonnen. Hin und wieder torkelten Betrunkene vorbei, sich gerade einen weiteren tiefen Schluck aus einer billigen Sektflasche genehmigend. Irgendwo kotzte jemand seinen ganzen abendlichen Sylvester-Suff samt dem übers Jahr angesammelten Frust auf das Pflaster des Gehwegs. Es war eben einfach so, wie es immer am Ende eines Jahres zuging.

Timmy fuhr sich nachdenklich durch seine fettigen Haarsträhnen. War es wirklich eine so gute Idee gewesen, die gemeinsame Sylvesterparty der Belegschaft von "Thoresby & Livingston" zu besuchen? Es war eine allgemein formulierte Einladung an alle Mitarbeiter gewesen, ausgedruckt auf einem der billigen Standard-Tintenstrahldrucker, die zuhauf in jeder Etage rumstanden, entworfen von irgend einem anonymen Praktikanten aus der Personalabteilung. Wer die Idee zu dieser Party gehabt hatte, blieb im Dunkeln, bisher hatte es noch nie eine derartige Veranstaltung innerhalb des Bankhauses gegeben. Aber es hatte auch niemand ernsthaft nachgefragt. Der Geistesblitz dürfte wohl kaum vom alten Livingston gekommen sein, der war ja noch nicht mal aufgetaucht an diesem Abend und würde auch nicht mehr reinschauen. Der hockte mit Sicherheit draußen auf seinem Landsitz, unweit von Aspen, Colorado, und baute mit seinen Enkeln Schneemänner oder zog sie mit dem Schlitten durch die Landschaft oder bedachte sie am Kaminfeuer schon mal vorsorglich in seinem Testament oder irgend sowas in der Art. Und Mr. Thoresby wäre an diesem Abend wohl lieber mit Celia allein gewesen, für so dies und das. Vielleicht war es ja sogar Mrs. Noch-Witherspoon-aber-bald-Thoresby höchstpersönlich gewesen, die den Stein ins Rollen gebracht hatte. Ihr traute Timmy das zu, sie stand auf laute, unübersichtliche Partys mit vielen jungen Kerlen und alten Geldsäcken, sozusagen ein amouröses Freiwildgehege. Womöglich hatte sie Mr. Thoresby damit gedroht, ihn so lange nicht ranzulassen, wie er einer solchen Fete nicht zustimmte. Aber das war reine Spekulation Timmys. Jedenfalls hatte er eine Einladung erhalten, denn schließlich war er ja auch Mitarbeiter des Bankhauses, und das nun schon seit genau 2 Jahren 4 Monaten und 16 Tagen (Timmy hatte jeden beschissenen Tag mitgezählt, einfach nur so, um zu sehen, wie lange er es aushalten würde in seinem neuen Job). Er hatte lange hin und her überlegt, zu Hause auf seiner durchgelegenen, fleckigen Matratze auf dem rostigen Metall-Bettgestell, während die staubumhüllte Birne seiner schirmlosen Nachttischlampe ein fahles, unbehagliches Licht über die verblichenen Papiertapeten mit den dunklen Schlieren einiger zerdrückter Fliegen streute. Sollte er wirklich hingehen, wollten sie ihn überhaupt dabei haben? Timmy, eigentlich Tim Meraskoff, 23 Jahre, alleinstehend, Eltern geschieden und irgendwo am anderen Ende des Landes in einem winzigen Reihenhaus mit abblätterndem Anstrich lebend (na ja, das Übliche eben), wußte, daß er nicht allzu beliebt war in der Firma, er liebte sich ja nicht mal selber (höchstens mal unter der Bettdecke, wenn er das Ausklappbild der neuesten Playboy-Ausgabe mit dem blonden oder brünetten Playmate des Monats aus Florida oder Kalifornien oder so vor seine dickbebrillten Augen hielt und seine Hand dann ein Stückchen tiefer rutschte).

Er war einfach nicht "hip", nie "hip" gewesen, basta. Gut, er wußte auch, daß er mit seinem Aussehen so jemanden, wie Celia Witherspoon nie würde beeindrucken können (oder all die anderen Kollegen, die eigentlich, wenn Timmy es sich recht überlegte, alle so waren, wie Celia Witherspoon, fast wie seelische Abziehbilder und aus Timmys Empfinden einfach nur stromlinienförmig doof). Nun, daß sie mit seiner Erscheinung nicht klar kamen, störte Timmy nicht die Bohne, sollten sie doch spotten, wenn ihnen nichts Besseres einfiel, diese gelglänzenden Schwachköpfe. Doch eines ärgerte ihn maßlos. Sie hielten ihn für dumm. Und für am dümmsten hielt ihn Mr. Thoresby persönlich und das schon, seit Timmy hier angefangen hatte. Hinter vorgehaltener Hand hatte Timmy gehört, daß Thoresby gegen seine Einstellung gewesen war und er seinen Job letzten Endes nur dem klapprigen, alten Mr. Livingston zu verdanken hatte, der in ihm so etwas, wie einen verlorenen Enkelsohn oder irgend etwas in der Art gesehen hatte oder einfach nur seniles Mitleid für diesen Außenseiter empfunden hatte, wer weiß. Thoresby hatte Timmy daraufhin in jeder Minute spüren lassen, für wie dämlich er ihn hielt. Mal waren ihm die Kopien, die er für ihn anfertigte, zu hell, mal zu dunkel, mal war ihm seine Schrift auf den Notizen, Belegen und Durchschlägen zu krakelig, sein Schreibtisch zu unaufgeräumt, seine Krawatte zu lang, zu kurz, zu bunt zu einfarbig, bla, bla, bla. ‚Arrogantes Arschloch', hatte Timmy gedacht, aber auch wirklich nur gedacht, ansonsten hatte er immer stillgehalten. Denn es war sein erster Job nach 3 langen Jahren ohne; endlich mußte er sich nicht mehr mit 276,32 Dollar mickriger Sozialhilfe durchquälen, nein, jetzt hatte er 1146,78 Dollar im Monat raus, und zwar netto, ha!

Aber Mr. Thoresby (und all die anderen) hielten ihn für dumm. Und das war aus Timmys Sicht ein Fehler, ein großer Fehler. Er war nicht dumm, oh nein, und es wurde verdammt nochmal Zeit, es Thoresby (und all den anderen) zu zeigen. Also hatte Timmy beschlossen, doch zur Party zu kommen. Und er hatte sich etwas ganz Besonderes vorgenommen.

Er blickte auf die große Uhr über dem Eingangsportal (die im übrigen auch die Zeit in Kapstadt, Kalkutta, Tokio und weiß der Teufel, was für Orten, anzeigte). Es wurde Zeit. Die ersten Partygäste begannen bereits, sich in Richtung der Fenster zu drängeln, um die besten Plätze für den Blick auf das mitternächtliche Feuerwerk zu ergattern. Timmy durchquerte die Menge in entgegengesetzter Richtung. Im Augenwinkel sah er abseits der Leute in einer dunklen Ecke Celia Witherspoon eng umschlungen, zungenküssend mit Taylor Shobinski stehen. Timmy erreichte den Lift gerade in dem Augenblick, als Celias Finger sich nestelnd an Taylors Hosenschlitz vergingen. Kurz hatte er den Eindruck, als hätte sie für einen Moment zu ihm herübergeblickt und...gelächelt. Aber wahrscheinlich hatte er sich getäuscht, na ja, egal. Timmy drückte den Knopf mit der ‚58', oberstes Geschoß. Die Tür schob sich scharrend zu, und dann war es still, nur noch das zarte Surren des aufsteigenden Fahrstuhls drang an Timmys Segelohren. Er schloß die Augen, und ein beseeltes Lächeln trat in sein Gesicht. Fast hätte man den Eindruck gewinnen können, er habe sich gerade einen Schuß reinsten Heroins gesetzt, so entrückt grinsend lehnte er da an der blechernen Wand des Aufzugs. Er verschränkte die Arme, fest an seine Brust gedrückt, vor sich und sog einen tiefen Atemzug klimaanlagendurchwalgter Luft in seine Lungen. Er freute sich auf das, was jetzt kommen würde, ja, er hatte es sogar schon ganz deutlich vor Augen. Heute würde alles gut werden, für immer und alle Zeiten. Ja, verdammt nochmal, es hatte sich wirklich gelohnt herzukommen!

Mit einem sanften Ruck hielt der Fahrstuhl und riß Timmy aus seinen vorfreudlichen Träumen. Er schaute auf seine Uhr. 23:54. Er schritt den langen, schummrigen Flur entlang. Hier oben gab es keine Büros mehr, nur noch ein paar Lagerräume und den Maschinenraum des Fahrstuhls, aus dem hin und wieder metallisches Ächzen und Knacken zu hören war, sowie ein konstantes dumpfes Brummen des Windenmotors. Ansonsten sirrten nur noch die dünnen, minzgrünes Licht abstrahlenden Neonröhren der Notbeleuchtung. Man kam sich vor, wie in einem imperialen Schlachtkreuzer aus "Krieg der Sterne". Am Ende des Ganges angekommen, klappte Timmy die Feuerleiter herunter und kletterte behutsam Sprosse für Sprosse hinauf zur Dachluke. Er konnte sich vor lauter Glück ein grelles Auflachen nicht verkneifen. Oh Mann, fühlte Timmy sich gerade gut! Mindestens so gut, wie, als er damals mit Mimmy Cornbaker aus der Nachbarklasse geschlafen hatte (eigentlich war es auch das einzige Mal gewesen, daß er mit einer Frau geschlafen hatte, na ja, und eine richtige Frau war Mimmy Cornbaker eigentlich auch noch nicht gewesen mit ihren damals 15 Jahren, und daß sie völlig abgefüllt gewesen war, wegen der High-School-Party, auf der sie beide den ganzen Abend rumgehangen hatten, mußte man ja der Fairness halber auch noch mit erwähnen, aber das tat jetzt alles ohnehin nichts zur Sache). Er klappte die unverschlossene Stahlluke nach oben. Mit einem renitenten, metallenen Quietschen gab sie den Blick auf das streng rechteckige Flachdach frei. Er kletterte schnaufend aus der Luke. Ein eisiger Dezemberwind blies Timmy den grimmigen Winterzorn entgegen, zauste durch sein strähniges Haar und ließ seinen dünnen Tweed-Anzug heftig flattern. Die unbarmherzige Kälte fraß sich unaufhaltsam von seinen Knöcheln aufwärts, an den Beinen weiter hinauf und breitete sich in Windeseile über seinen gesamten Körper aus. Seine Augen begannen zu tränen, aber Timmy bemerkte nichts davon. Er war im Rausch, im Rausch des Wissens, daß er jetzt vollenden würde, was er sich vorgenommen hatte, damals vor 3 Wochen auf der fleckigen Matratze. Und das wärmte ihn, vertrieb die Eiseskälte aus seinem brodelnden Leib.

Timmy blickte sich um. Das Dach war ein Flachdach, wie tausend andere Flachdächer von tausend anderen Wolkenkratzern auch, eine unansehnliche, langweilige Betonebene, zu nichts mehr nutze, als den Regen vom Eindringen in die einzelnen Stockwerke abzuhalten. Timmy erinnerte sich, daß sie mal geplant hatten, hier oben einen Hubschrauberlandeplatz einzurichten, aber dann doch recht schnell von diesem größenwahnsinnigen Plan abgerückt waren. Der alte Livingston war viel zu konservativ und reiste deswegen konsequenterweise nur mit dem Zug, und Mr. Thoresby hatte panische Flugangst. Und so allgewaltig und bedeutend war das Bankhaus aus wirtschaftlicher Sicht nun auch wieder nicht, daß man so etwas unbedingt benötigt hätte. Man lag von den Umsatzzahlen her momentan gerademal auf Platz 18 der landesweiten Bankhäuser (was speziell Mr. Thoresby mächtig auf den Sack ging). Es wäre reine Aufschneiderei gewesen, sich solch einen Landeplatz auf das Dach zu klatschen, hätte ansonsten aber nur unnötige Kosten für Wartung und Instandhaltung verursacht. Die Finanzabteilung hatte sehr schnell abgewunken, und weder Thoresby noch Livingston hatten ernsthaft Einspruch erhoben.

Dies alles schoß Timmy durch den Kopf, und er mußte kurz darüber kichern, als er geraden Schrittes auf den Sims des Daches zuging. Rund um ihn herum stiegen immer zahlreicher vielfarbige Raketen auf, in gold, in rot, oh, so wunderschön. Der Mond und die Sterne schauten vom wolkenlosen Nachthimmel fragend herab, was tut dieser Irre da, um 23:56 in dieser unerträglichen Grabeskälte auf dem Dach des achtundfünfzigstöckigen Bankhauses "Thoresby & Livingston"?!

Timmy trat auf die blechumhüllte, durch Regen und Wind stumpf geschmirgelte Simsumrandung des Daches und breitete die Arme aus, hinaus in den Sylvesterwind, der ihn sofort einhüllte und an ihm zerrte, ihn fortziehen wollte, fort von "Thoresby & Livingston", fort von Mr. Summers, Celia Witherspoon und all den anderen. Timmy wagte einen Blick hinab in die unsägliche Tiefe der Wolkenkratzerschluchten, und alles dort unten verschmolz zu einer winzigen Spielzeuglandschaft aus ameisengleich hin- und herwuselnden Menschen und Autos. Er spürte, wie diese Tiefe sofort einen hypnotischen Sog auf ihn auszuüben begann. Oh ja, es wäre so verdammt leicht gewesen, sich einfach langsam nach vorne kippen zu lassen und fort zu sein, für immer...

Aber Timmy hatte etwas Anderes vor.
Er drehte sich um, und seine Augen erfaßten das Ziel seines Ausflugs. 23:58. Timmy kramte in seiner Hosentasche und fand zwischen benutzten Taschentuchresten und klebriber Bonbonfolie den kleinen Gegenstand, den er suchte, den er auf keinen Fall hatte vergessen dürfen, hier mit heraufzubringen. Nur wenige Schritte vor ihm saß jemand auf einem Stuhl, einem schlichten Bürostuhl, ein Mann, halb erfroren, zitternd, bebend, die einstmals frisch frisierten und gescheitelten Haare vom Wind zerzaust. Aber selbst, wenn dieser Mann gewollt hätte, er hätte nicht zurückkehren können in die wohlige Wärme und Geborgenheit des Gebäudes, denn er war gefesselt mit Unmengen von Klebeband an Lehne und Stuhlbeine. Fast wie eine latexschimmernde Mumie sah er aus. Unter dem Klebeband war er vollkommen nackt. Seine Haut schimmerte in sämtlichen Farbnuancen rot- und blaugefroren zwischen den Klebestreifen hindurch. Seine Kleidung (nur das Beste, Anzug von Armani, Hemd von Gucci, ach ja, Unterwäsche von Clavin Klein, und alles farblich perfekt aufeinander abgestimmt) lag wild verstreut um den Stuhl herum. Um Hilfe rufen konnte er nicht, denn auch sein Mund war dick mit diesem ekelhaft harzig schmeckenden Band verklebt (abgesehen davon, hätte ihn hier oben sowieso niemand gehört).

Timmy lief um den Stuhl herum. Der Mann wand sich zuckend hin und her und schien wie am Spieß zu brüllen, wenn man sich sein hochrotes Gesicht und die dickgeschwollenen Adern auf der Stirn betrachtete, doch es drang nur ein dumpfes Grunzen nach außen. Timmy meinte so etwas wie "elendes Schwein" und "..werden sie auf keinen Fall mit durchkommen" herauszuhören, aber es interessierte ihn ohnehin nicht weiter. Trotzdem der Mann wie wahnsinnig hin- und herruckte, bewegte sich der Stuhl keinen Millimeter, denn Timmy hatte ihn festgeschraubt.
Er kniete sich hinter den Mann und begann das große Paket mit den drei gewaltigen, dickwandigen Plastikröhren daran, das ebenfalls an der Lehne befestigt war, ein wenig zurecht zu rücken. Er hatte es selbst gebaut, genauso, wie er den Stuhl präpariert und heimlich hier heraufgeschleppt und montiert hatte (alles immer brav nach Dienstschluß), und er war darüber sehr stolz auf sich, denn sowas brachte nicht jeder fertig und schon gar nicht diese Baby-Popo-glattrasierten Clowns da unten im Foyer. Oh nein, er war nicht dumm, verdammt, wer sowas wie das hier hinbekam, der war bei Gott nicht dumm.

Noch einmal kontrollierte Timmy alles auf das Genaueste, nichts durfte undicht oder feucht sein, wenn es funktionieren sollte. Dann schritt er wieder um den Stuhl herum und baute sich vor dem Mann auf. Er blickte ihn nur stumm an, versuchte zu ergründen, was jetzt wohl in dessen Hirn vorging. Das ganze dauerte vielleicht 20 Sekunden, die Timmy aber nahezu wie 20 Stunden vorkamen. Der Mann war jetzt ganz ruhig geworden, vielleicht hatte ihn die Kälte betäubt, vielleicht wurde er sich aber auch genau in diesem Moment bewußt, daß es kein Entkommen mehr gab und daß es zu spät war für alles, was er bis jetzt nicht erledigt, nicht verstanden, nicht wahrgenommen hatte. Timmy sah die geplatzten Äderchen in den Augäpfeln des Mannes, die Wut darin, die Ohnmacht und seine...Angst. Er sah, daß der Mann jetzt endlich begriffen hatte, nach so langer Zeit, endlich, endlich, endlich, und das er jetzt endlich wußte, daß Timmy am längeren Hebel saß.

Timmy war zufrieden. Es war nicht so berauschend, wie er gehofft hatte. Die Euphorie, der Rausch, der ihn erfaßt hatte, als er hier herauf gekommen war, war verflogen. Er hatte spekuliert, daß er möglicherweise die ganze Zeit hier oben auf dem Dach mit einer Erektion in der Hose herumlaufen würde, daß er vor Glück und Stolz wie betrunken herumtorkeln würde, aber so war es nicht. Es war einfach nur okay, mehr nicht. Er hatte bis hierhin bewiesen, was er beweisen wollte, so weit, so gut. Eigentlich hätte er jetzt auch wieder gehen können. Er hatte erreicht, was er wollte, er hatte es allen gezeigt, daß er nicht dumm war. Aber er wollte es dennoch zu Ende bringen, er haßte unvollendete Arbeit, und außerdem war es das i-Tüpfelchen auf dem Nachweis seiner Intelligenz, wenn jetzt auch noch der Rest klappen würde. Also hob er den kleinen Gegenstand, den er gerade aus seiner Hosentasche gefischt hatte, hoch und hielt ihn vor die angstverzerrten Augen des Mannes. Es machte kurz "Ratsch", und Timmy hatte das Feuerzeug entzündet. Er blickte auf die Uhr. Noch 20 Sekunden bis Mitternacht. Er ging wieder zur Rückseite des Stuhles. Noch 17 Sekunden. Er löste die Schrauben, die den Stuhl am Dach festhielten, mit Hilfe des Schraubenziehers seines Schweizer Taschenmessers (extra hierfür gekauft) aus dem Boden. Der Mann auf dem Stuhl rührte sich nicht mehr. Noch 6 Sekunden. Timmy hörte ein gedämpftes, sich überschlagendes "Nein" aus der Kehle des Mannes, als er die 3 Lunten, die jeweils unten aus den Enden der Rohre herausragten, entzündete. Noch 2 Sekunden. Er rannte zurück zur Dachluke. Noch 1 Sekunde.

"Hat jemand meinen Zukünftigen gesehen?" flötete Celia Witherspoon, gerade frischgeschminkt aus dem Waschraum zurückgekehrt (das alte Make-up war reichlich verschmiert gewesen, sehr unvorteilhaft), in die Menge, aber niemand achtete auf sie in dem Getöse, das von draußen hereindrang. Sie schob sich vor zu Taylor Shobinski, drückte sich unauffällig an ihn und ließ ihre Hand auf seinem Fitnessstudio-gestählten Arsch zum Erliegen kommen. Zusammen mit den anderen bestaunten sie das gewaltige Feuerwerk über den Dächern der Stadt. "Du warst nicht schlecht, Kleiner", hauchte sie dem Pickelgesicht mit lasziver Stimme ins Ohr. "Ein bißchen zu schnell, aber nicht schlecht. Happy New Year, mein kleiner, ungestümer Hengst!" Celia nahm einen großen Schluck aus ihrem mittlerweile siebenten Champagnerglas. Die explodierenden Böller und Raketen draußen warfen stroboskopartige Lichtreflexe in allen Farben an die marmorglänzenden Wände des Foyers. Begeisterte, staunende und angeheiterte "Aaahs" und "Ooohs" wurden von den Partygästen angesichts dieses überwältigenden Lichtspiels ausgestoßen. Man umarmte sich, prostete sich zu und wünschte dem anderen diesmal ein ganz besonders gutes Jahr (auch wenn es nicht jeder der Anwesenden unbedingt ernst damit meinte). Der eine oder die andere faßten gute Vorsätze für das neue Jahr, so wie jedes Jahr, die sie dann nach spätestens drei oder vier Tagen schon wieder vergessen hatten, auch so wie jedes Jahr.

"Wo steckt dieser blöde Kerl bloß wieder?" dachte Celia kurz, aber eigentlich war es ihr auch völlig egal, wo Luther Thoresby sich jetzt schon wieder herumtrieb, in 2 Wochen war er ohnehin ihr ehelich Angetrauter, dann waren alle Schäfchen im Trockenen. Er war sowieso ein Idiot, sollte er sich doch sonstwo vergnügen. Das gab ihr Spielraum für andere Dinge. Sie spürte bei diesem Gedanken, daß sie schon wieder Lust bekam, mußte wohl auch am Champagner liegen. Sie blickte sich um und entdeckte William Sundstrom in der Menge. Okay, der sah auch nicht besser aus als Luther, aber sie hatte ihn noch nicht gehabt, das reichte. Vielleicht ging da ja was, wenn das Feuerwerk vorbei wäre und die Leute sich wieder in der Halle verstreuten. Sie trat vor bis an die bruchsichere Panzerglasscheibe und schaute hinauf zum Himmel in den explodierenden Farbenwald. Gerade jetzt stieg wieder schrill pfeifend eine Rakete mit drei langen, silbrig funkelnden Schweifen kometengleich zu den Sternen empor, eine ganz besonders große diesmal, genau über ihr, und detonierte mit ohrenbetäubendem Knall...

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