© der Geschichte: Silke Rosenbüchler. Nicht unerlaubt
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Das Taschentuch

Mit einem leisen, klickenden Geräusch fällt endlich die Tür hinter ihr zu, trennt Innenwelt von Außenwelt, schnipp. Tief durchatmen. Müde streift sie die unbequemen, hochhackigen Schuhe ab, reibt den Fuß an ihrer Wade, um ihn ein wenig zu wärmen. Den dünnen Mantel behält sie an, es ist kühl in der Wohnung, das Feuer im Holzofen ist wie immer ausgegangen. Rasch schlüpft sie in ihre Hausschuhe, billige rote Filzpantoffeln, und schlurft ins Zimmer. Das Bett und das Sofa haben in der Dämmerung schon ihre Farben verloren. Der Schneeregen peitscht ein hektisches Stakkato an die Fenster, begleitet vom Rattern einer Straßenbahn. Die Möbel fallen leise erzitternd in dieses Konzert ein, vibrieren, bis der Lärm der Tram verebbt ist und andere, leisere Motorengeräuschen wieder hörbar werden.

Einheizen. Zuerst einheizen, und dann ein heißer Tee und ein Fußbad. Bedächtig nimmt sie ein paar Holzscheite aus der Kiste und sortiert sie im Ofen, kleine, rasch entzündbare Späne vorne unten, die größeren Scheiter darüber und dahinter. Hoffentlich dauert es nicht zu lange, bis das Feuer groß und heiß genug ist, um es am brennen zu halten. Das Spiel mit dem Feuer hat sie schon immer fasziniert. Wilde, verbotene Lagerfeuer im Wald, die zum Glück nie außer Kontrolle gerieten, nie irgendeinen größeren Schaden anzurichten als ein paar Leute zu erschrecken, von denen sie sich anschließend ausschimpfen lassen mußte.

Als letztes kommt das Papier, schnell und hoch brennend, aber auch genauso schnell wieder verlöschend. Die Zeitung von gestern. Laute, wichtige Worte, an die sich heute niemand mehr erinnern kann. Lässig fährt sie mit dem Daumen über das Zündrad des Feuerzeuges, setzt ihren kleinen Scheiterhaufen in Brand. Fasziniert beobachtet sie die Flammen, wie sie sich weich und nachgiebig an das Holz schmiegen, es zum Glühen bringen, ein sanftes, rotes Leuchten, welches nichts zurückläßt als ein feines, weißes Gespinst. Einen Moment lang zeigt das geisterhafte Gebilde noch die Struktur des soeben verbrannten, ein faszinierendes, hauchzartes Gebilde, das im nächsten Augenblick zu graubrauner Asche zusammenfällt.

In der sanften Hitze des Ofens zerbröckelt ihre Maske aus Arroganz und Unnahbarkeit, ihr Gesicht wird weich und traurig, während der Widerschein der Flammen lebhaft daran leckt um die Kälte daraus zu vertreiben. Die immer noch klammen Finger steckt sie in die Manteltaschen. Ihr rechter Knöchel stößt auf etwas ungewohnt weiches. Das Taschentuch, ja richtig. Unentschlossen knüllt sie es zwischen den Fingern, ehe sie ihre Hände wieder hervorholt und gegen den Ofen hält. Während sich die Hitze langsam um ihre Haut legt, erinnert sie sich, wie sie gestern um diese Zeit ziellos in der Stadt umherlief, den Mantel trotz der Kälte offen, den Schirm trotz des peitschenden Regens geschlossen. Sie wollte die Schärfe der Luft spüren, einen realen Schmerz spüren, nicht diese innere Zerrissenheit. Wollte sich eine Erkältung holen mit rasenden Kopfschmerzen, die keine Gedanken mehr zuließen, die jedes Nachdenken unmöglich machten. Sie war mit ihren Hirngespinsten im Kreis gelaufen, rund herum, rund herum, immer um den Hauptplatz rum, immer durch die gleichen Parallel und Nebenstraßen.

Mechanisch greift wie wieder nach dem Taschentuch und holt es aus seinem Versteck in ihrem Mantel hervor. Weißes, feines Leinen mit einem braunen Rand. Wie altmodisch. Ein Erbstück vielleicht? Liebevoll als Andenken an den Großvater bewahrt? Aber wie konnte es ihm dann so leicht aus der Tasche fallen? Irgend wann spät am Abend war sie heimgekehrt, hat sich noch eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank geholt, um besser einschlafen zu können. Heute in der Früh hat sie dafür fast verschlafen, es war saukalt in der Wohnung, weil sie gestern nicht einmal mehr eingeheizt hat, sondern nur noch mit ihrem Bierdusel ins Bett gefallen war. Und beim Verlassen der Wohnung hat sie in der Hektik das rasch entfachte Feuer munter weiter brennen lassen, ohne die Luftzufuhr so weit zu drosseln, daß die Glut bis am Abend reichen würde. In der Firma war es ihr schwer gefallen, so zu tun, als ob nichts währe. Warum um alles in der weiten Welt hat sie ihn aber nach Dienstschluß auch noch auf den Bahnhof begleiten müssen?

So verheißungsvoll hat es angefangen, als der neue Mitarbeiter ihr und ihren Kollegen vorgestellt worden war. Endlich ein richtiger Mann, war es ihr in den Kopf gestiegen, kein solcher gehemmter Kümmerling wie die anderen Bürowallache. Allzuschnell war sie bereit, den Neuling vor den grinsenden Gesichtern in ihre Obhut zu nehmen, ihm den Betrieb, die Stadt, die besten Beisln und ihre hübschen Beine zu zeigen, die sie normalerweise in Dennimblau gehüllt trug. Ihre Lippen röteten sich und ihre Frisur bekam einen neuen Schwung, dankbar ließ er sich davon mitreißen, froh, in der neuen Stadt so rasch Anschluß zu finden. Ihre angeregten Unterhaltungen ließen sie Hoffnung auf Hoffnung schöpfen, ihre blauen Augen übersahen geflissentlich die Distanz, die er trotz aller Freundschaft zu ihr hielt.

Himmelhoch stürzte sie ab, als er ihr mitteilte, am Wochenende heim zu seiner Verlobten zu fahren. Freitag nachmittag ginge sein Zug. Verlobt. Hätte er ja gleich sagen können am Montag, hätte ihr drei Tage Höhenflug erspart, so war der Aufprall in der Wirklichkeit wesentlich schmerzhafter. Ob sich die beiden über ihr offensichtliches Verhalten lustig machen werden? Ihre Kollegen sowieso. Bedächtig legt sie noch ein paar Holzscheiter ins Feuer, schürt mit dem langen schwarzen Haken in der Glut. Verlobt ist noch nicht verheiratet. Da kann sich noch viel ändern. Immerhin hat er dieses Taschentuch fallen lassen. Ob sein Liebling wirklich brav die ganze Woche allein auf ihn wartet? Ist sie eifersüchtig? Wie sie wohl aussieht. Natürlich, wenn es ihr gelingen sollte, ihn ihr auszuspannen, wäre er die Anstrengung schon gar nicht mehr wert. Wer garantierte ihr denn, daß er sich nicht von dem nächsten hübschen paar Beine von ihr ablenken ließe. Sicher hat er einen ganzen Stoß dieser Großvatertüchlein in seinem Schrank, eines für jede Eroberung. Ein Grund, ihn anzusprechen du hast da was verloren oder als Reliquie für das Spiegelschränkchen - wer ist die Schönste im Versandhauskatalog?

Dieses verdammte Taschentuch. Probehalber roch sie daran - nein, kein Duft nach starkem tollen Mann, nach gar nichts roch es, nach Bahnsteig vielleicht, nach schmutzigem Regen und Verlorenheit. Es war ihm aus der Tasche gefallen, als er sich beim Einsteigen noch einmal rasch nach ihr umwandte, um ihr freundlich zuzuwinken. Einen Herzschlag lang hoffte sie, er würde doch noch aussteigen, der Zug ohne ihn abfahren, aber nichts ließ er zurück als dieses schäbige Stückchen Leinen, das nicht einmal sein Monogramm eingestickt hatte. Gut gelaunt war er mit riesen Schritten vor ihr gelaufen, setzte seinen schwärmerischen Wortschwall gegen ihre Einsilbigkeit, nahm keinerlei Rücksicht darauf, daß sie in ihren verfluchten Stöckelschuhen ungeschickt hinter ihm hertrippeln mußte. Ein kräftiger, feuchtwarmer Händedruck und weg war er. Lies sie einfach stehen im grauen Nieselregen auf dem grauen Bahnsteig. Der Zug war mit einer feinen Schnur an ihre Brust gebunden, trotzdem fuhr er gnadenlos ab, zerrte an dem Schnürchen, ließ sie weder los noch nahm er sie mit.

Keine Ahnung wann sie dieses Ding aufgehoben hatte. Wie lange es dauerte, ehe sie sich einen Schubbs gab sich von diesen unendlichen Schienenschlangen löste. Jetzt eine große Tasse von ihrem Lieblingstee, das hat sie sich versprochen. Lapsang Suchong. Bald strömt der feine Rauchgeruch durch die Küche, unterstreicht das heimelige Knistern im Ofen. Sie dreht nur die Lampe neben ihrem Lieblingsstuhl an, gerade genug Licht, um in Ruhe lesen zu können und den restlichen Raum in ein vages, orangegoldenes Licht zu tauchen. Auf dem Heimweg hat sie ein Buch gefunden, welches sie schon lange lesen wollte, Löwenzahnwein von Ray Bradbury. Ein pastellfarbener Kindersommer voller seltsamer Wunder. Rasch schmeißt sie den braunumrandeten Fetzen in's Feuer und beginnt zu lesen.

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