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Zwei schweigsame Männer

Seit nunmehr siebzehn Jahren wohnt Raubold in einer bescheidenen 3-Zimmer-Altbauwohnung, die er mit einem guten, alten Freund teilt. Ein jeder prägt im Lauf der Zeit seine Gewohnheiten aus, jeder geht so seinen eigenen Weg, doch bei Raubold und seinem Freund muss man bereits von Schrullig-keiten sprechen. Das beginnt schon am frühen Tag, wenn Raubold sich nach der Morgentoilette an den Frühstückstisch setzt, um zu einer Tasse Kaffee zwei Scheiben Honigkuchen zu essen (es sind jeden Morgen genau zwei Scheiben).

Dann begutachtet er - wie an jedem Tag - das Aussehen seines Mitbe-wohners, der ihm stets gegenüber sitzt. Vielleicht wirft er ihm einen wohlwollenden Blick zu, vielleicht auch nicht - je nach seiner Laune. Die beiden müssen nicht unbedingt reden, denn wie viele ältere Herren, die einander schon sehr lange kennen, verstehen sie sich auch ohne Worte.

An manchen Tagen ist Raubold auch gesprächiger und erzählt seinem Freund, wie er geschlafen oder was er geträumt hat. Und am 14. November, dem Geburtstag seines Freundes, zündet Raubold sogar eine Kerze an. Nach einer Viertelstunde ist das Frühstück beendet und Raubold macht sich auf den Weg zu seiner Arbeitsstelle.

Am frühen Abend kehrt Raubold, manchmal mit nach der Arbeit getätigten Einkäufen, zurück in die gemeinsame Wohnung, wo ihn sein Mitbewohner bereits erwartet (an die Tatsache, dass dieser seinen Mietanteil seit einiger Zeit nicht mehr bezahlt, hat Raubold sich nach anfänglichem Unmut mittler-weile gewöhnt). Er grüßt den Freund mit einem Kopfnicken und stellt seine Tasche auf dem Dielenschrank ab. Nachdem er sich seiner Strassenschuhe entledigt und die Pantoffeln angezogen hat, pflegt Raubold ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen und sich auf seinen angestammten Platz in der Küche zu setzen.

Ruhig und nachdenklich betrachtet er sein vertrautes Gegenüber, das eben-falls seinen Stammplatz einnimmt. Während er gemütlich sein Feierabendbier-chen trinkt, erinnert sich Raubold gelegentlich an frühere Zeiten, als sein Freund noch etwas lebhafter war und sie abends gern beim Schach zusammen saßen. Gut, auch damals wurde nicht sehr viel geredet - man war halt schon immer eher wortkarg - aber man trank gemeinsam sein Bier und hatte eine angenehme Beschäftigung. Es war, wie Raubold mit einem Anflug von Wehmut feststellen muss, doch immerhin etwas geselliger. Doch seit dem Abend, als sein Freund vor über vier Jahren mitten in einer Schachpartie einfach so verstorben war, herrscht zwischen ihnen nur noch das Schweigen.

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