|
Der schuldlose Spanner
Laue Nächte sind was Feines. Ich kann stundenlang auf meinem
kleinen Quadratbalkon sitzen, rauchen, Bier trinken, nachdenken über
den Tag und den nächsten, über die Woche, das Jahr, mein Leben,
Vergleiche ziehen, philosophische Verallgemeinerungen treffen oder gar
nichts denken, einfach den Kopf in den Wind halten.
Hinter mir brennt der Fernseher, manchmal drehe ich mich um und verfolge
eine Sendung. Bis ich die Lust verliere und wieder hinausschaue. Rechts
trennt mich eine dicke Wand vom Nachbarbalkon. Links ist mein Balkon offen
und keine sechs Meter von mir stößt der Wohnblock an den nächsten,
der Wohnblock zu dem mein Balkon als einer von fünf aufeinandergetürmten
Loggien gehört. (Meine "Loggia" ist unverglast, obwohl ich die gleiche
Miete zahle wie die andern Hauseinwohner. Das möchte ich nur mal
erwähnen.)
Ich wohne also ziemlich genau in dem Winkel zwischen zwei Blocks. Der
zweite verläuft quer zum ersten und macht dabei einen Bogen, und
zwar so, dass man denkt, hinter dem Haushorizont geht der Bogen weiter
und rundet sich zu einem Kreis. Doch trifft er bald auf einen weiteren
Block, berührt ihn allerdings nicht, sondern lässt eine Lücke,
durch die man in einen großflächigen Hof voller Tannen gelangt.
Vor dem bauchigen Block jedoch öffnet sich - vorher kommt noch der
angeschmiegte Kopfsteinweg, wo keine Autos stehen dürfen, da sie
sonst abgeschleppt werden - öffnet sich eine Art kleiner Park mit
Gebüsch und mächtigen Kastanien. An der mir abgewandten Ecke
liegt ein flacher Gebäudekomplex mit einem Tante-Emma-Laden und einer
Kneipe, die "Weinrestaurant" heißt. Gleich daneben befindet sich
der Käfig, wo ich meinen Müll hinschaffe. (Die eine Mülltonne
ist mit schimmligen Kartoffelschalen verkrustet, weil die Biotonne fünfzig
Meter weiter steht. Das musste auch mal gesagt werden. Von den Leuten,
die nicht abschließen, so dass Unbefugte ihren Müll abladen
können, will ich gar nicht reden. Das kann zur Erhöhung der
Müllgebühren führen. Der Hausmeistertrottel hebt zu allem
nur ohnmächtig die Schultern. Manche drehen den Schlüssel dagegen
sogar zweimal rum, was schon wieder überflüssig ist und ärgerlich
- immer dann wenn ich deswegen zweimal
nach dem Schlüsselloch stochern darf.)
Von meinem Balkon aus schaue ich meist in den Himmelsausschnitt,
den meine Wand zur Rechten, meine gelben Geranien, meine Balkondecke,
mein Dach des Nachbarhauses und meine Krone der äußersten Kastanie
freilassen. In diesem Vieleck begegnen mir Flugzeuge, startend oder landend,
mit ihren Lichtern und Lichtkegeln und bei klarem Wetter auch die Sterne
und der Mond. Was in den Fenstern links von mir geschieht, interessiert
mich nicht. Die meisten haben sowieso Jalousien, die meisten.
Mein Nebenhaus ist circa einen Meter höher gebaut. Darum sähe
ich, wenn ich in das Fenster im dritten Stock blicken wollte bloß
die Lampe, offene Lamellen vorausgesetzt. Darunter das Zimmer zeigt sich
mir hingegen in seiner ganzen Tiefe. Dort hängt nur eine Gardine.
Hinter der Gardine lebt eine jugendliche Mutter - sehr ordentlich, es
ist stets aufgeräumt - lebt sie mit ihrem Kind und ihrem jugendlichen
Freund, der wahrscheinlich nicht der Vater des Jungen ist. Er wohnt noch
nicht lange da. Vielleicht wohnt er auch gar nicht da und übernachtet
lediglich bei ihr. Der Freund hat Segelohren - das Kind nicht - und ist
einen Kopf kleiner als das Mädchen. Neulich schien er erstmalig zu
bemerken, wie ich auf meinem Balkon saß, und schaute herüber,
als ich gerade hinschaute. Ich wollte nämlich wissen, ob sie drüben
dasselbe Fernsehprogramm eingeschaltet hatten. Seine Hände waren
in die Hüften gestemmt und er machte kein freundliches Gesicht. Er
besah sich die Ränder des Fensters, das geschlossen war, suchte womöglich
Vorhänge. Und ging weg. Zum Bett. Sie hatten tatsächlich dasselbe
Fernsehprogramm laufen, einen Actionfilm.
Ihr Bett steht von mir aus links neben dem Fenster, das Fußende
reicht hinein. Wenn sie darin liegen, sollten sie einen wunderbaren Ausblick
auf die Kastanien haben. Um diese in voller Pracht zu bewundern, muss
ich mich rausbeugen. Ich betrachtete wieder meinen Himmel.
Bald registrierte ich im Augenwinkel Bewegung. Der Freund hielt den Arm
ausgestreckt in meine Richtung und sprach zu seiner Freundin. Wütend.
Ich stellte mir vor, was er sagte: "Ich geh jetzt da rüber und verprügel
das Schwein." Anschließend deutete er auf sie und verlangte, sie
solle sich was anziehen. Dabei wusste ich längst, dass sie Tangas
trägt. Trotzdem war es eine packende Szene, von der ich mich losreißen
musste. Der Actionfilm war zum Glück auch recht spannend. Mit Japanern.
Es wurde unentwegt geschossen. Ein Bandenkrieg.
Im Fenster ging das Licht an. Ich begab mich in mein Wohnzimmer und spähte
vorsichtig hinaus. Die junge Frau stand barbusig hinter der Scheibe. Was
sollte das jetzt? Der Freund versteckte sich gut sichtbar in der Zimmerecke
rechts hinten. Wollten die mich testen? Haben sie darum das Licht angemacht?
Damit ich bestimmt was sehe, weil der Fernseher unter Umständen nicht
hell genug ist?
Sie stand da wie eine Schaufensterpuppe. Trotz umgab die Lippen, sie mochte
denken: "So. Ich tus. Bist du nun zufrieden?" Ich wartete - und fühlte
mich nun wirklich wie ein Spanner. Nach einer Minute brachen sie die Vorstellung
ab. Eine Woche später hatten sie Jalousien.
zurück
|

|