© der Geschichte: André Klein. Nicht unerlaubt
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Der Radius

I.
Eine weiße Taube landete direkt vor ihren Füßen. Sie wußte nicht, ob sie vor lauter Erschöpfung zu Boden gesackt war, oder ob sie gerade Zeuge einer wahrhaft graziösen Landung geworden war.
Romila breitete ihre Flügel aus, begann erst langsam sie auf und ab zu schwingen, dann immer schneller bis sie sich in die Luft erhob.
Am Horizont dehnte sich ein rotes Gebirgsmassiv aus, so weit sie sehen konnte.
Sie flog auf geradeaus auf die monströse Steinwand zu, doch hatte sie gar keine andere Wahl, da sie die Berge immer vor Augen hatte, egal in welche Richtung sie durch die Luft gleitete.
Romila stand auf dem porösen, versalzten Boden und betrachtete die Taube weit oben in der Luft, die immer kleiner wurde, bis sie letztendlich aus ihrem Blickwinkel verschwand.
Sie machte sich auf den Weg in Richtung Norden, auch wenn die Himmelsrichtungen unmöglich zu bestimmen waren, da die Sonne an keinem bestimmtem Platz am Himmel stand und doch ihr goldenes warmes Licht aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien.
Wie Romila so immer weiter lief, direkt vor sich den höchsten Gipfel des erodierten Gebirges, erreichte sie einen Fluß.
Sie mußte feststellen, daß auch dieser Fluß eine Grenze für sie darstellte.
Weit und breit war keine Brücke zu entdecken. Romila setzte sich auf den staubigen, sandigen Boden und fragte sich wie breit der Fluß wohl sei, denn dort wo das andere Ufer sein mußte konnte sie nur die Linie des Horizonts erkennen, eine unendlich weite Decke von Wellen, die sich direkt an das Gebirge anzuschließen schien.
War noch etwas zwischen dem anderen Ufer und dem Gebirge?
Würde sie den Fluß jemals überqueren können?
Und vor allem, die quälende Frage, die zugleich ihr innerer Antrieb zu sein schien:
"Was war hinter dem Gebirge?"

II.
Flex Vocation lag ruhig in seinem Bett. Nur noch wenige Sekunden, bis ihn der Weckeralarm aus dem Schlaf reißen würde.
Trotz seines tiefen Schlafes war er sich bewußt, daß ihm nur noch wenige Sekunden blieben, bis der Streß des Alltags wieder von neuem begann.
- 6:30
Flex saß schon beim zweiten Klingeln aufrecht in seinem Bett und begann mit den Planungen des kommenden Tages. Während er sich duschte, dachte er immer wieder an seinen wichtigen Auftrag, den er heute vor sich hatte.
Flex war Angestellter eines gigantischen Anwaltunternehmens in New York.
Es war nicht seine Aufgabe zu entscheiden, ob seine Klienten wirklich unschuldig waren oder nicht.
Solange das Geld floß, hatten seine Klienten Recht.
Heute stand eine große Gerichtsveranstaltung auf seinem Tagesplan, das Treffen, das endgültig darüber entscheiden sollte, ob sein Klient, Mr. Grey, wirklich die kleine Jenny zum Geschlechtsverkehr gezwungen hatte, oder ob die kleine voller Lügen war und nur gegen ihn aussagte, um ihr Taschengeld ein wenig aufzubessern. Während er in der U-bahn saß und in seinen Akten las, sammelte er immer mehr Argumente für Mr. Greys Unschuld und notierte sie sich in seinen elektronischen Tagesplaner.
Nur noch eine halbe Stunde bis zur alles entscheidenden Versammlung.
Er stieg eilig die Treppenstufen des pompösen New Yorker Gerichtsgebäudes hinauf, ging zwischen den Säulen vorbei in die Eingangshalle, in der eine riesige Skulptur der Justizia stand.
Er blieb für einen Moment stehen und schaute sich die antike Göttin des Rechts an.
Das Schwert in der einen Hand, die Waage in der anderen, die Augen verbunden.
Doch bevor er länger über die Symbolik der Statue nachdenken konnte, tippte ihn sein Chef, Dr. Mourn auf die Schulter:
"Hallo Mr. Vocation. Ich hoffe sie sind sich über die Details ihres Plädoyers im Klaren?
Wir können es uns nicht leisten, schon wieder zu verlieren. Seit dem Meridia-Skandal vor einem Monat sind unsere Aktien fast um die Hälfte gesunken."
Flex entgegnete: "Aber sicher, Mr. Mourn, alles in bester Ordnung. Ich werde die Wahrheit schon aus der Göre herauslocken. Machen Sie sich keine Sorgen."
Dr. Mourn schien gestresst und verabschiedete sich mit den Worten:
"Die Wahrheit interessiert keinen, Vocation. Gewinnen Sie einfach! Ich gehe jetzt erst einmal einen Espresso trinken. Wir sehen uns in 15 Minuten."
"Bis dann."
Flex setzte sich in den Gerichtssaal, indem schon einige Leute ungeduldig auf den Beginn der Vorstellung warteten.
Er stellte seinen schwarzen Aktenkoffer auf den Tisch vor sich, klappte ihn auf, holte seine Akten und seinen Tagesplaner heraus und legte alles sorgfältig sortiert vor ihn auf die Tischplatte.
Während der Minutenzeiger der großen Uhr über dem Richterpodest langsam seine Runden drehte, ging er noch einmal schnell seine Argumente durch.
Als er wieder von seinem Mini-Computer aufblickte, sah er, daß der Raum kaum noch Platz für weitere Zuschauer hatte.
Die Uhr stand auf Punkt 11.
Eine Tür öffnete sich in der Wand hinter dem Podest und die Richter schlenderten langsam auf ihre Plätze zu, während sich alle Anderen im Saal respektierend von ihren Plätzen erhoben.

III.
Am Horizont war eine zerklüftete Felswand zu erkennen, die ähnlich einem Fraktal, weder chaotisch noch geordnet zu sein schien.
Klaus versuchte die Entfernung zwischen ihm und der Wand zu bestimmen, doch konnte er nicht einmal annähernd sagen, ob es sich hier um Kilometer, Meter, oder vielleicht sogar Nanometer handelte und er vielleicht sogar schon direkt vor der Wand stand.
Er blickte in den Himmel. Ein gleißendes Licht zwang ihn dazu, seinen Blick wieder auf den Boden zu richten. Es schien hier kein Leben zu geben. Nur einige Gebeine von toten Insekten in den Spalten des zerklüfteten Bodens deuteten an, daß hier schon seit einer Ewigkeit kein Käfer mehr gekrabbelt, keine Schlange mehr geschlängelt war.
Als Klaus wieder auf den Horizont blickte waren die Berge verschwunden.
Moment - Es schien immer noch ein roter Schleier in der Entfernung sichtbar zu sein.
Die Gebirgskette drehte sich so schnell um ihn,- Klaus als Achse des Universums, daß keine Formen mehr erkennbar waren.
Und doch wußte er, daß die Berge niemals verschwinden würden.
Auf einmal spürte er ein warmes, weiches Gefühl an seinen Füßen.
Als er wieder auf den Boden schaute, sah er, daß der verkrustete Boden einer unendlich weiten Wasserfläche gewichen war und er mittendrin stand.
Ringsum kein Land zu sehen, nur am Horizont wieder der rote Schleier.
Das Wasser war mittlerweile schon bis zu seinen Knien gestiegen und die Wellen schienen immer schneller an ihm emporzuklettern, wie ein wildes Tier, das langsam seine Beute eroberte.
Doch hatte er zu seiner eigenen Verwunderung keine Angst zu ertrinken, obwohl ihn die Wellen nun schon bis zum Hals verschlungen hatten.
Er spürte keinen Boden unter seinen Füßen, schaute in den blauen Himmel und als der Wasserspiegel langsam seine Augen erreichte war das letzte was er sah eine Taube, die weit über ihm, gleich einem Pfeil, von links nach rechts durch sein Blickfeld schoß.

IV.
Romila war noch nie eine gute Schülerin gewesen.
Seit ihrem ersten Tag in der Schule haßte sie die Lernfabrik, die aus ungeformten, dummen Kindern, ehrbare, zivilisierte Erdenbürger machen sollte.
Zum Glück waren es nur noch drei Tage bis zum Wochenende.
Sie saß im Mathematikunterricht von Herrn Braun, kaute an ihrem Bleistift und sah aus dem Fenster.
"Wieso kann die alte Schlaftablette nicht einmal was über das Leben erzählen? Wir sitzen hier drin, während draußen die Welt mit all ihren Abenteuern auf uns wartet und müssen uns damit beschäftigen, ob es ökonomischer wäre, dreißig Bio-Kühe anzuschaffen, die 3 Liter Milch am Tag geben oder fünfzehn genmanipulierte High-Tech-Tiere, die ohne zu schlafen 10 Liter am Tag produzieren."
"Romila! , Romila!"
Sie schreckte auf und schaute nach vorne zum Lehrer.
"Du weißt genau, daß du mit deinen schwachen Leistungen das Klassenziel nicht erreichen wirst. Nun streng dich doch wenigstens einmal an."
Doch Romila hörte nur die ersten drei Worte ihres grauhaarigen Mathelehrers.
Den Rest seiner Rede über wunderte sich Romila nur, woher Herr Braun wohl die Lachfalten an seinem Mund hatte.
War dieser Mann wohl jemals locker und witzig gewesen?
"Romila! Hast du verstanden, was ich gesagt habe?" fragte sie Herr Braun.
Sie nickte und wandte dann wieder ihren Kopf in Richtung Fenster, Richtung Leben, Abenteuer.
Während der ganzen Situation saßen die Streber in der ersten Reihe schon ungeduldig mit gestrecktem Zeigefinger da, die Antwort schon auf den Lippen, nur darauf wartend, endlich aufgerufen zu werden, um stolz ihre Antwort zu präsentieren.
Weit weit in der Ferne hörte Romila ein anerkennendes "Sehr, gut!" ihres Lehrers, der von der perfekten Antwort einer ihrer Mitschüler geradezu entzückt zu sein schien.
Irgendwann dachte sich Romila, irgendwann werden diese karrieregeilen, egoistischen Menschen einmal ihre Strafe erfahren.
"Wie kann es sein, daß all meine Freunde in den letzten Jahren sitzengeblieben sind? Nun bin ich dazu verdammt in einer Klasse voller Streber mein Dasein zu fristen. Unser Schulsystem mag ja in einigen Details ganz vernünftig sein, aber es scheint trotzdem im Großen und Ganzen eine Masse von charakterlosen, konformen, aber dafür "intelligenten" jungen Menschen heranzuzüchten, die alles Wissen was man ihnen mitteilt, in sich aufsaugen, um sich dann später in der Gesellschaft mit diesem Wissen zu profilieren, anzugeben damit, wie intelligent sie doch sind. Wissen als Ersatz für einen echten Charakter. Menschen, die sich nur noch dadurch unterscheiden, daß sie sich auf verschiedene Wissensgebiete spezialisiert haben. Ähnlich wie computerisierte Datenbanken, unzählige Fakten werden gespeichert, doch fehlt die wahre Intelligenz, dieses Wissen auf das Leben zu übertragen, es miteinander und untereinander zu verknüpfen."
Romila wunderte sich über diese Erkenntnis, die auf einmal einfach so da war, wie das Leben hinter den Fenstern ihres Klassenraums.
Zum Glück kam endlich das langersehnte Klingeln, das diesen schrecklichen Tag beendete.
Als Romila mit gepacktem Rucksack als erste die Klasse verließ, sprach sie ihr Mathelehrer noch einmal an:
"Ich sehe wirklich kaum noch eine Chance für dich, Romila. Du bist den ganzen Tag nur am Träumen, interessierst dich für wirklich gar kein Fach außer Kunst und Musik und dein Notendurchschnitt ist der schlechteste der ganzen Klasse."
Für einen Moment lang wollte sie Herrn Braun davon erzählen, was ihr gerade klargeworden war, doch als sie das schadenfrohe Grinsen ihrer (Mit)schüler sah, rannte sie einfach aus dem Zimmer, rannte durch die große Halle, rannte über den Schulhof, sie rannte die Hauptstraße entlang, ihr Blickwinkel gerichtet auf die backsteinrote Plattenbausiedlung am Ende der Straße, in der ihre Mutter wahrscheinlich schon mit ihren neugierigen Fragen auf sie wartete, die ihr sicherlich den Rest geben würden.

V.
In einer kleinen Universität an der norddeutschen Küste saß Klaus in einer Vorlesung über Quantenmechanik. Was der Professor erzählte, war für ihn nichts Neues. Er ging lediglich in die Vorlesung um seine, schon seit frühester Kindheit dagewesenen, Vermutungen bestätigen zu lassen.
Er liebte es einfach nur dazusitzen, vor seinem hochmodernen Laptop und zuzhören, wie der Professor Klaus` tiefgründigste Vermutungen, die er selbst noch nie formuliert hatte, in Wörtern und Formeln an die Tafel schrieb.
Vielleicht hätte Klaus schon früher einmal mit jemandem über seine Erkenntnisse sprechen können, gäb es da nicht dieses kleine Problemchen.
Er war zwar übernatürlich intelligent aber er hatte Probleme, mit Menschen umzugehen. Solange sich ein Gespräch nur auf der sachlichen Ebene befand, war es für ihn kein Problem, aber sobald Emotionen ins Spiel kamen, war er überfordert.
Deswegen waren seine einzigen Freunde schon immer Nerds gewesen, Fachidioten, genau wie er selbst. Neue Freunde konnte er auch nur schwer kennenlernen, da es ziemlich schwierig war eine freundschaftliche Beziehung auf Fakten aufzubauen.
Eine Freundin hatte er auch nie gehabt und er hatte sich mittlerweile damit abgefunden und war eigentlich froh, all seine Zeit für sich und seine Mathematik zu haben.
Ja, klar. Es gab natürlich diese depressiven Momente alleine, der Wunsch von einer Frau geliebt zu werden, doch er stritt diese Gedanken einfach ab, indem er sich immer wieder sagte, daß dies nur sein Fortpflanzungstrieb sei.
Er lebte bescheiden in seiner Einzimmerwohnung, doch er war zufrieden.
Klaus verbrachte eigentlich den ganzen Tag damit, auf seinem Balkon zu sitzen, den Laptop auf dem Tisch und das Rauschen des Meeres im Hintergrund.
Im Sommer, so wie im Winter saß er da und programmierte.
Als er auch so wieder an einem warmen Sommerabend dortsaß, seine LINUX Plattform bootete und die Strandbesucher beobachtete, wie sie langsam nach Hause gingen, kam ihm auf einmal ein Spruch von Shakespeare in den Sinn:

What, will the line stretch out to the crack of doom?¹

Klaus hatte sich nie für Literatur interessiert. Woher kannte er dieses Zitat?
Und wie ihm so immer wieder dieser Satz durch den Kopf schoß, tauchte die Sonne mit ihrem gleißendem, goldenem Licht langsam in das glänzende Meer ein, während sie den Horizont in blutrotes Licht tauchte.

¹MacBeth, (4.1.130)

VI.
Flex hatte die Verhandlung gewonnen. Als er, immer noch in seinem Erfolgsgefühl badend, seine Akten zusammenpackte, sah er schon von weitem Mr. Mourn mit einem breiten Grinsen auf ihn hinzukommen.
Er schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter:
"Flex! Erflog auf der ganzen Linie. Sie sind das beste Pferd in meinem Stall. Ich fühle schon, wie sich unsere Kurven wieder nach oben biegen. Haben Sie nicht Lust, bei einem Espresso in der Kantine unseren Sieg zu feiern?"
Flex willigte ein und sie machten sich gemeinsam auf den Weg, hinaus aus dem Gerichtssaal in den Gang.
Während Mr. Mourn ihn immer noch beglückwünschte und ein Lob nach dem anderen ausstieß, sah Flex auf einmal eine Frau an der Treppe stehen, die ihn mit grossen, verweinten Augen anschaute.
Sie hatte wunderschöne, unschuldige Augen, an deren Ränder das Makeup verlaufen war und starrte Flex ununterbrochen an.
Als er sich schon auf der Treppe nach unten befand, blickte er sich nocheinmal um und sah immer noch das Gesicht der Frau, ein trauriges Gesicht, das ihn anstarrte.
Mr. Mourn war viel zu sehr damit beschäftigt, neue Pläne für die Zukunft zu schmieden, als dass er diese wortlose zwischenmenschliche Kommunikation hätte mitbekommen können.
Flex fühlte sich wie in Trance.
Als Mr. Mourn auf den Knopf des Wasserkochers drückte, um ihm seine Tasse aufzufüllen, fragte er Flex:
"Das war echt super, wie sie das gemacht haben. War das jetzt alles improvisiert, oder haben sie das vorher alles geplant?"
Flex murmelte nur "Mmmh. Bis ins Detail durchgedacht." und dachte sich dabei, dass es eigentlich keine zu schwierige Aktion war, als erwachsener Anwalt ein kleines zehnjähriges Mädchen so zu verwirren, dass sie am Ende unter Tränen alles zugeben würde, nur dem psychischen Terror zu entkommen und wieder nach Hause gehen zu dürfen.
"Möchten Sie noch eine Tasse?", fragte ihn Mr. Mourn.
"Nein danke. Ich gehe lieber so langsam nach Hause. Ich bin total fertig"
"Haha" lachte sein Chef : "Das haben Sie sich ja auch redlichst verdient. Gehen Sie nur nach Hause und feiern sie mit ihrer Frau, Flex."
Dass Flex schon seit drei Jahren geschieden war, wußte Mr.Mourn natürlich nicht.
Da Flex seinem Chef die Illusion von scheinbarer familiärer Harmonie nicht nehmen wollte, trank er den Rest seines italienischen Designerbohnenextrakts und verabschiedete sich.
Obwohl es erst früher Nachmittag war, ging er schon nach Hause, verdunkelte sein Appartment und legte sich schlafen.

VII.
Eine scheinbar kreisförmige, sandige Fläche. Klaus sah immer die Zahl pi vor sich. Die Wolken am Himmel formten das alte Symbol pi, die Risse im Boden schienen sich zu einem riesigen pi zusammenzuschließen.
Doch als er anfing darüber nachzudenken, ob er sich dies nur einbilde, war die Vision auch schon wieder verschwunden.
Die rote Gebirgskette am Horizont war klar zu sehen. Selbst von seinem Standpunkt aus, konnte er eindeutig Details erkennen.
Er stand dort auf dem trockenem Boden, als Mittelpunkt des Kreises. Er sah eine gerade Linie, die von seinem Zentrum aus, langsam um sich bewegte. Er konnte die Linie nicht wirklich sehen. Er fühlte sie vielmehr, denn immer wenn ihm wieder Gedanken durch den Kopf schossen, verschwand die Linie, die den Radius des Kreises darstellte.
Er beschloß, mit dem Denken aufzuhören und während die Linie ihre 360 Grad langsam ablief, formte sich ihm eine Vorstellung von der Entfernung des Gebirges. Es war eine klare Vorstellung, aber er hätte sie nie als Zahl wiedergeben können.
Am Horizont sah er eine Gestalt. Sie wurde immer größer. Ja, sie schien auf ihn zuzukommen. Es war ein junges, gutaussehendes Mädchen, mit einem roten Pferdeschwanz. Sie wurde immer größer und es dauerte nicht lange, bis sie in voller Größe vor ihm stand.
Er bekam auf einmal eine höllische Angst. Wo bin ich? Was bedeutet das? Und wer ist dieses Mädchen? Er rannte so schnell ihn seine Beine trugen konnte und versteckte sich tief in einem dunklen Riss in der Erde. Jeder einzelne Schritt des Mädchens war ein eigenens, mittleres Erdbeben. Als sie so, immer neue Epizentren erzeugend, in seine Richtung lief, fragte er sich, was diese Kreatur bloß von ihm wolle.
Von seinem Versteck aus sah er ihr Gesicht, daß weit oben in der Ferne die Risse nach ihm durchsuchte und er bemerkte wieder, was für ein außerordentliche schönes Gesicht sie hatte. Er verspürte wieder ein warmes, weiches Gefühl, ähnlich wie das Wasser des Flusses, oder war es doch eher wieder das gleißend goldene Licht.
Verwirrt von diesem Gefühl, kroch er aus seinem Riss heraus und stellte sich vor Romila.
Er stand da und schaute nur in ihre Augen. Licht?, Wellen?, Licht? Welle .......................
Auf einmal war alles klar.
Er sah wieder die Linie des Radius um sich kreisen und bemerkte, dass auch Romila auf dem Mittelpunkt stand. Die Linie schien langsam Formen anzunehmen wie ein Pflaster, immer mehr zeichneten sich deutlich die dichtgepackten Steine auf dem Boden ab - der Radius, der von ihm und Romila auf einen Punkt am Horizont hinpendelte, bis er endlich zum Stehen kam.
Romila drehte sich um und fing an, dem Weg zu folgen, als wäre es das Natürlichste der Welt.
Als sie schon fast im Dunst des Staubes aus Klaus Blickwinkel verschwand, schien sie auf einmal stehenzubleiben.
Auf einmal ging Klaus los. Er lief langsam auf die Romila zu, die ihm den Rücken zugekehrt hatten und als er ihre Position erreichte, setzte sie sich wieder in Bewegung.
Wie sie so liefen, wurde das große Gebirge langsam größer und man konnte immer mehr Details erkennen. Tausende von kleinen Türmen, wie aus rotem Sand getropft und bis in die Ewigkeit versteinert.
Da es für die beiden so etwas wie die Zeit nicht mehr gab, liefen sie und liefen sie und liefen sie.....bis sie an eine Brücke kamen, die den reißenden Fluß überspannte.
Geduldig gingen sie die sanfte Steigung der Brücke hinauf, als sie auf einmal einen Mann vor der Brücke im Schneidersitz auf dem Boden sitzen sahen.
Er schien etwas in den Händen zu halten. Behutsam, als wäre es etwas zerbrechliches.
Als sie näher kamen, bemerkten sie, daß es eine tote Taube war, ihr Blut auf dem weißen Hemd des Mannes.
Der Mann hatte Tränen in den Augen. Klaus und Romila versuchten seine Aufmerksamkeit zu erlangen, aber es war vergeblich.
Flex saß nur da, mit einem starrem, traurigen Blick und schien die beiden gar nicht zu bemerken.
Sie wußten es beide. Sie hatten keine andere Wahl, als ohne ihn den Fluß zu überqueren.
Ohne zurückzublicken liefen sie auf das Gebirge zu und es schien immer mehr so, als würde sich die Gebirgswand am Horizont aufteilen, um den gepflasterten Pfad hindurchzulassen.
Nach einer Ewigkeit kamen die beiden unerschöpft am Horizont an.
Das rote Gebirgsmassiv türmte sich zu beiden Seiten des Weges scheinbar unendlich in die Höhe. Uralte, verwitterte Steinwände.
Alles begann zu verschwimmen. Wo war der Weg? Wo waren die Wände? Romila? Klaus? Der Himmel?
Das Ganze war nun nur noch gleißend, weich, gold und angenehm warm. Langsam lösten sich auch noch diese Grenzen auf und es blieb nur eins:

Die Unendlichkeit, in Ewigkeit, im Jetzt und Hier.

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