© der Geschichte: Kai Bliesener. Nicht unerlaubt
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Ein neuer Morgen

Ein neuer Morgen im alten Leben. Die Strahlen der grellen Sonne durchfluten den Raum. Das Bett ist zerwühlt, erzählt die Geschichte der vergangenen Nacht. Kleidungsstücke, wild im Raum zerstreut. Der Duft der Lust liegt in der Luft. Zwei Körper unter einer Decke. Stille.
Sie liegt bewegungslos auf der Seite, zusammengekauert wie ein Fötus. Die blauen Augen blicken starr in die Leere. In Gedanken ist sie weit, weit fort. Ihr Gesicht, schmal und hübsch, zeigt Trauer und Ratlosigkeit. Die braunen Haare umrahmen sanft ihren Kopf und heben sich von dem dunklen Bezug ab. Er sitzt mit dem Rücken an die Wand gelehnt neben ihr. Dunkle Stoppeln über seine Wangen und das kräftige Kinn verstreut. Der Gesichtsausdruck regungslos, doch die Augen wandern rastlos und aufgeregt durch den Raum. Seine braunen, warmen Augen bringen die ganze Verzweiflung zum Ausdruck, die den Raum zwischen ihnen teilt. Eine vergangene Nacht, eine vertane Chance, das Ende einer Freundschaft.
Er dreht den Kopf, schaut auf ihre Konturen, die sich sanft, aber dennoch deutlich, unter der Decke neben ihm abzeichnen. Wie gerne möchte er sie berühren, mit seiner Hand zärtlich durch ihre Haare fahren, ihren nackten Körper erkunden, doch er bewegt sich nicht, schaut sie nur an, lange, lange Sekunden. Das Licht der Sonne blendet ihn.
Die Augen geschlossen läuft der Film der vergangenen Nacht vor seinem inneren Auge ab. Es war anfangs ein schöner Abend gewesen, wie immer wenn er mit ihr unterwegs war.

Sie hatten sich vor ein paar Jahren in einer kleinen Kneipe kennengelernt. Er war mit Freunden unterwegs gewesen und sie hatte am Nachbartisch gesessen, sich über sein trübsinniges Gesicht gewundert. Seine Freunde hatten getrunken und rumgealbert, nur er, er hatte getrunken und keine Miene verzogen, während sie ihn beobachtete. In derselben offenen und direkten Art, die ihn noch heute faszinierte, war sie auf ihn zugegangen, hatte ihn angestrahlt und ihm zugeprostet. In Sekundenschnelle hatten seine Augen angefangen zu leuchten, war eine Sonne in ihnen aufgegangen. Noch nie hatte ihn eine Frau so fasziniert, wie an diesem Abend. Ihr kastanienbraunes Haar war damals noch spitzbübisch kurz gewesen und hatte ideal zu ihrer frechen Art gepasst. Stundenlang hatten sie sich unterhalten über Gott und die Welt, und dann war er endlich mit der Sprache rausgerückt. Noch ganz genau konnte er sich an jene Augenblicke erinnern, waren sie doch der Auftakt einer wunderbaren Freundschaft gewesen. Er war selber über seine Offenheit überrascht gewesen, hatte aber gewusst, sie würde es verstehen, wenn er ihr sein Herz ausschüttete.
Es war der Abend gewesen, nachdem Maren ihn verlassen hatte. Maren, mit der er fast fünf Jahre zusammengelebt hatte. Mit ihr hatte er sich ein eigenes kleines Reich aufgebaut und Zukunftspläne geschmiedet. Wohnung, Familie, Kinder, das Übliche eben. Alles umsonst. Maren war damals mit einem Kollegen aus dem Büro zusammengezogen. Monatelang schon hatte sie ihn betrogen und damit ihre Beziehung weggewischt, wie ein Wischer die Regentropfen von der Windschutzscheibe. Übriggeblieben war für ihn nur ein kleiner, schmieriger Rest an Ballast, den es zu entfernen galt, Bilder, Kleider Möbel, all die Dinge, die verschwinden mussten. All das erzählte er, offen und ehrlich, als würde er das Mädchen, dem er sein Herz ausschüttete, schon ein halbes Leben lang kennen und nicht erst wenige Stunden lang.
Längst waren seine Freunde gegangen, aber er hatte noch immer mit ihr in der Kneipe gesessen. In dieser Nacht war etwas entstanden, was einer wahren Freundschaft nahe kommt. Zuneigung, nicht gesteuert von sexuellen Regungen, Gefühle, die nicht nur bis zum nächsten Morgen dauern.
Sie hatten sich fortan regelmäßig unregelmäßig gesehen, die intimsten Geheimnisse anvertraut und waren zu Bruder und Schwester im Geiste geworden. Beide hatten in dieser Zeit mehrere Affären hinter sich gebracht. Sicher, zwischen ihnen hatte es auch immer irgendwie gekribbelt und wenn man sich sah, fühlte sich wohl und geborgen, aber Sex war kein Thema gewesen. Bis letzte Nacht.

Sie hatten sich in einer Stuttgarter Szene-Bar verabredet, geredet und getrunken, wie sie es gerne taten, wenn sie zusammen waren und dem grauen, tristen Alltag des Lebens entfliehen konnten. Sie erzählte ihm von ihrem Freund und wie glücklich sie mit ihm sei. Fast ein Jahr war sie bereits mit ihm zusammen und schien wirklich verliebt zu sein. Er erzählte ihr von seiner neuen Beziehung. Eine Kollegin aus der Agentur, um einiges jünger, eine richtige Party-Maus, hatte er geschwärmt. Genau das richtige nach seiner letzten Beziehung mit dieser Stubenhockerin, die klassische Musik und Goethe geliebt hatte. Für seine körperlichen Bedürfnisse hatte sich die jedoch kein bisschen interessiert. Als Konsequenz hatte er sie vor einer Woche zum Teufel gejagt. Sollte sie sich doch mit ihrem Johann Wolfgang befriedigen.
Später am Abend waren sie zu ihm gegangen, hatten eine Flasche leckeren Chianti getrunken, während im Hintergrund Peter Gabriel seine musikalische Brillanz zum Besten gegeben hatte. Beide auf dem Parkettboden sitzend, ihr Kopf in seinem Schoß, seine Hand in ihrem Haar. Plötzlich war die Spannung im Raum zum Greifen gewesen. Funken schienen bei jeder Bewegung zu sprühen, ihre Hände waren bald ineinander verflochten. Beide wussten, dass etwas passieren würde, das eigentlich keiner von beiden wollte, aber die Gefühle übermannten sie, zogen sie in ihren Bann, wie der Wirbel eines Strudels, der einen ohne Gnade in die Tiefe reißt. Die ersten Küsse waren sanft, zärtlich. Die Lippen suchten einander, berührten sich nur leicht, doch dann brach das Feuer der Leidenschaft durch. Die Küsse wurden heftiger, die hinderlichen Kleider in Sekunden von den Körpern gerissen. Beide hatten ein unbändiges Verlangen nach dem Körper des anderen verspürt, waren bereit füreinander gewesen. Schreie der Lust und heftiger Atem hatten den Raum erfüllt. Doch plötzlich war die Lust erloschen, genauso schnell und unvermittelt, wie sie gekommen war. Der Strudel hatte aufgehört sich zu drehen und spuckte sie aus, zurück in die Realität. Sie hatten kein Wort mehr miteinander gesprochen. Stumm hatte sie sich weggedreht, die Knie angezogen, als sei ihr kalt und die Decke bis zum Kinn hochgezogen, damit er ihre Nacktheit nicht mehr sehen konnte. Stille Tränen liefen über ihre Wangen. Kein Schluchzen, kein Beben des Körpers, nur Tränen der Trauer. Es war falsch was sie getan hatten. Sofort spürte sie diese bedrückende innere Leere in sich, wusste, dass eine Grenze überschritten war, die man besser meidet. Auch wenn sie nicht miteinander geschlafen hatten, so war doch etwas zerbrochen zwischen ihnen. Aus dem Nichts heraus war plötzlich eine Wand entstanden, die sie vielleicht nie wieder würden einreißen können. Wie hatte es nur soweit kommen können?

Er schlug die Decke zurück, zog eine Shorts über und ging zur Kochnische. Sie bewegte sich nicht, lag da wie tot, während er Kaffee aufsetzte. Danach verschwand er im Bad. Sie hörte das Rauschen der Dusche und wischte sich die eigenen Tränen aus den Augen. Es war nicht gut, was passiert war. Sie hatten Mist gebaut. Es war genauso falsch, als wenn sie versucht hätte, mit ihrem eigenen Bruder ins Bett zu gehen. Sicher, sie hatte Gefühle für ihn übrig, daran gab es keinen Zweifel, und sie war sich sicher, dass es ihm ähnlich ging. Aber eine Beziehung war unmöglich. Sie kannten sich viel zu gut, kannten ihre Geheimnisse, ihre Abneigungen und ihre Vorlieben. Nein, das konnte nicht gut gehen. Außerdem liebte sie ihren Freund, mit ihm wollte sie zusammen sein – oder? Die Gefühle lieferten sich einen Kampf in ihrem Herzen, und heftige Gewitter regneten Tränen in ihr Herz, alles begann sich zu drehen, sie musste raus hier. Sie schwang sich aus dem Bett, suchte so schnell sie konnte ihre Kleider zusammen und wollte sich gerade anziehen, als er aus dem Bad kam. Sich ihrer Nacktheit bewusst, versuchte sie sich zu bedecken. Sie schämte sich, ohne zu wissen warum, kam sich vor wie ein Dieb, der sich heimlich aus dem Staub machen wollte.
Stumm verzog er die Mundwinkel zu einem verlegenen Lächeln und schenkte dampfenden Kaffee in zwei Becher. Sie konnte ihn riechen. Sein frisch geduschter Körper duftete, und am liebsten wäre sie sofort über ihn hergefallen, hätte ihn geliebt und ihm alles gegeben was er wollte. Doch das durfte nicht sein.
Langsam stieg sie in ihre Kleider. Die dufteten keineswegs gut. Sie stanken vielmehr nach Rauch und Kneipe. Er würde sie eklig finden, da war sie sich sicher und ihr Herz schlug bis zum Hals. Was sollte sie jetzt machen? Was sollte sie sagen? Sie wusste es nicht und nahm statt dessen stumm einen Becher Kaffee von der Anrichte und hoffte, das braune Gebräu würde ihr wieder Leben und Vitalität einhauchen. Ach, was würde sie geben, um die Uhr nur ein paar Stunden zurückstellen zu können.
So saßen sie eine Weile an dem kleinen Tisch vor dem riesigen Fenster in seiner Loft. Sie liebte es wie er wohnte, wie er sich eingerichtet hatte. Beide starrten ins Nichts, waren in Gedanken weit, weit fort, rührten in ihren Tassen, tranken hin und wieder einen Schluck. Die Mauer zwischen ihnen schien von Minute zu Minute zu wachsen, keiner traute sich etwas zu sagen. So ging es weiter, Minute um Minute, Stunde um Stunde, bis sie sich regelrecht fremd waren und keiner mehr wusste, warum der andere eigentlich gerade hier war. Draußen neigte sich der Tag bereits wieder dem Abend, und ihre Körper verschwammen zu schemenhaften Gestalten, wie sie da regungslos auf den Stühlen kauerten.
Irgendwann, es war längst dunkel, verabschiedeten sie sich. Sprachen Worte ohne Inhalt, ohne Sinn, bloße Phrasen über ein baldiges Wiedersehen, irgendwann, irgendwo und irgendwie. Sie lächelten sich an, doch der Ausdruck der Verzweiflung in ihrer beider Augen sprach mehr als alle Worte. Unausgesprochen blieb der eigentliche Abschied, der Abschied von ihrer Freundschaft, wie sie bisher war. Wie es weiterging, wusste keiner. Vielleicht würden sie sich wirklich wiedersehen, Freunde bleiben, ein Paar werden...vielleicht, irgendwann an einem neuen Morgen.

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