© der Geschichte: Andreas Schmitt. Nicht unerlaubt
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Mordversuch in einer Nachtschicht

Ich hatte noch einen Zweitjob als Pförtner in einer Sicherheitsfirma, obwohl mir mein Hauptjob schon mächtig zum Hals raushing. Immer an zwei Wochenenden im Monat. Von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends.

Der Kollege, den ich abzulösen hatte, hieß Peter Fritz, 35 Jahre alt, von hagerer Gestalt, an die 1,80 mit kurzen, schwarzen, in der Mitte gescheitelten Haaren, dicker Hornbrille und mächtigen O-Beinen.
Er hatte gerade seinen letzten Rundgang hinter sich gebracht und kam mir völlig verschwitzt und verwirrt entgegen.
"Du, du, in der Nacht … du, da wollten DIE mich killen!"
Ich reagierte nicht. Stellte meinen Rucksack auf den Boden, schob mir eine 100-er Marlboro-Light rein, zog das Gift tief in meine Lunge und sah ihn an.
Wieder fing er an, mit wild gestikulierenden Armen: "He! Die … die wollten mich vor'n paar Tagen killen! Lauf heut bloß keine Außenrunden. Ich sag's dir, lauf keine Außenrunden! Ausländische Schlägerbanden wollten mich mit so 'ner Art Steinschleuder ermorden!"
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon acht, vielleicht waren es auch neun Jahre Sicherungsdienst auf'm Buckel. Tag-, Nacht-, Wochenendschichten und auch Feiertagsdienste. Hatte schon etliche Gestalten wie Alkoholiker, Schmalspurkiffer, Möchtegernbodyguards, Ehefrauverprügler, Internetsüchtige, Sexsüchtige, Hehler, unehrenhaft entlassene Soldaten, auch nicht ehrenvoller suspendierte Polizisten, verkalkte und verbitterte Rentner und jede Menge Outsider und Aussteiger, zumindest nannten sie sich so (Aussteiger mit einer monatlichen Arbeitsleistung von mehr als 260 Stunden …), kennen gelernt.
Aber Fritz übertraf sie alle in wenigen Minuten. Fritz war noch eine Klasse besser als sie alle zusammen. Fritz stellte alles in den Schatten.
Ich drückte der Marlboro ihre frisch glühende Fresse im Ascher aus und wand mich meinem Genie zu.
"Okay, Fritz! Okay! Wer sollte dich aus irgendeinem Grund während deines Jobs, während deiner Außenrunde umbringen? Ich meine, einen Grund würde man bei jedem von uns finden, aber mit 'ner Steinschleuder? … von ausländischen Schlägerbanden …?"
Er unterbrach mich mit weit aufgerissenen Augen und ging einen Schritt auf mich zu: "Von bosnischen Banden! Ich weiß es! Es waren Bosnier, basta! Du weißt doch, in letzter Zeit hat man hier einige Bosnier entlassen. Und jetzt wollen die Rache! … Bosnier! … Hmhm."
Ich zündete meine Marlboro wieder an.
"Gut, Fritz! Warum, um alles in der Welt, sollten dich vergangene Nacht irgendwelche Bosnier um die Ecke bringen? Du hast doch gar keine Bosnier oder sonst irgendjemand entlassen."
Ich ließ meine Jeansjacke über den Stuhl fallen, setzte mich und griff nach dem Wachbuch. "HIER! HIER! Lies dir meinen Bericht durch. Hier, dann wirst du mich besser verstehen, Schmitt."
Er hielt mir den Dreck direkt vors Gesicht, während er mit der anderen Hand seinen verschwitzten Schwanz in der Hose langzog, soweit es ging.
Ich fing an, seinen "Bericht" zu lesen. Dort stand wie folgt:

"Am 25.07.01 um 03.40h wurde vermutlich mit einer Schleuder/Stahlkugel auf mich geschossen. Außenrunden mögen ab sofort nicht mehr ratsam erscheinen, bis Vorkommnis abgeklärt ist. Mitteilung an Bewachungsdienst erfolgt in schriftlicher Form."

Das war also sein Bericht, dachte ich, als er mir noch mit einem zweiten Blatt ankam.
"Und hier, lies, dann verstehst du mich noch besser … "
Langsam machte sich ein Gefühl der Aggression in mir breit. Erneut fing ich an, seinen Bullshit zu lesen:

"Ich bin nach reiflicher Überlegung zu dem Ergebnis gekommen, dass am 25.07.01 um 03.40h jemand einen Mordversuch gegen mich ausgeführt hat. Eine Stahlkugel flog nahe an meinem Kopf vorbei. Leider kein Beweis."

Schweigend und tief atmend hielt er mir sogar noch einen dritten Zettel hin.

"28.07.01, 19.40h im Außenbereich ein 1 m langes Eisenrohr/Totschläger gefunden. Sichergestellt und wird am Montag Hrn. Hircey (Haustechnik) übergeben."

"Ich versteh' dich jetzt besser, Fritz. Aber was hat es mit diesem Scheißeisenrohr auf sich?"
Er ließ augenblicklich seine Schultern fallen und drehte seine Augen genervt zur Decke: "Schmitt! ... Da die Bosnier mich nicht erschießen konnten, warteten die einfach auf meinen nächsten Außenrundgang", wieder zog er an seinem zusammengeklebten Schwanz, "um mich mit diesem Eisen-rohr zu erschlagen. Deswegen nenne ich es ja auch Totschläger in meinem Bericht. Weil man damit jemanden totschlagen wollte. Und zwar mich!"
Ich spürte, dass er gleich soweit war. Er schien gleich durchzudrehen und ich gab mir alle nur erdenkliche Mühe, ihn loszuwerden.
"Jetzt hab ich alles verstanden, Fritz. Ehrlich! … Sonst noch was?"
Fritz setzte sich, lehnte seinen leicht nach links verbogenen Oberkörper an die Wand, kramte seine Pudelmütze aus der Tasche (wir hatten Juli) und schüttelte ungläubig seinen Kopf.
"Schmitt! ... Diese Bosnier wollten mich ermorden und du fragst, ob es sonst noch was gab. Du musst verrückt sein."
"Freut mich, dass du das so schnell erkannt hast. Kennst dich wohl damit aus, wie? Du hast 'nen Blick dafür, das spür ich!"
Er lächelte triumphierend.
"Klar, Schmitt, klar hab ich 'n Blick dafür. Ich kenne die Menschen. Auch dich. Glaub mir, ich kenne dich besser als du dir vorstellen kannst."
Noch bevor ich etwas sagen konnte, ließ er einige Bücher aus seiner Tasche auf den Tisch knallen.
"Schmitt, hör auf diesen Shakespeare zu lesen", er deutete dabei mit ausgestrecktem Zeigefinger auf eine alte Hamlet Ausgabe von mir, "verstehst eh nicht", (vielleicht lag er damit gar nicht mal so falsch ...) "und lies mal die wirklich wichtigen Sachen. Hier!"
Seine Bücher hatten Titel wie:

DAS LEBEN IN DER UNSICHTBAREN WELT/BEGEGNUNGEN IN DER UNSICHTBAREN WELT/ÜBER DEN TOD UND DAS LEBEN DANACH/JEDES ENDE IST EIN STRAHLENDER BEGINN/LICHT HINTER DEM SCHLEIER/ WEGWEISER IN DIE VIERTE DIMENSION/AUCH TIERE ÜBERLEBEN DEN TOD/WAS IST SPIRITUALISMUS?/DER TOD, DIE BRÜCKE ZU NEUEM LEBEN

"Ja, Schmitt, damit solltest du dich beschäftigen. Das ist HÖHERES!"
Das Wort "Höheres" betonte er fast hysterisch, verwies mich nochmals auf die Gefahr, welche angeblich von diesen Bosniern ausging und dass ich auf gar keinen Fall Außenrunden gehen sollte, und suchte urplötzlichst das Weite.
Als seine Pudelmütze im Fahrstuhl verschwand, zündete ich meine bereits erloschene Marlboro erneut an, schmiss die verdammten Bücher in die unterste Schublade und rief die Zentrale der Sicherheitsfirma an, um mich anzumelden. Das war die gottverdammte Pflicht zu jedem Dienstbeginn. Legte auf, nahm das schnurlose Telefon, den Generalschlüssel, die Packung Marlboro, das Kontrollgerät für die Stechpunkte und lief die erste von drei Außenrunden ab.
Kam zurück und las Will's Hamlet zu Ende. Hamlet schaffte es nicht so gut. Sie lynchten ihn.

Ich überlebte.

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