© der Geschichte: Rainer Pick. Nicht unerlaubt
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Mädchen wollen es immer ganz genau wissen

Vorher hat er Mutti noch einen Kuß gegeben, dann war er weg.
"Wo ist denn Papi heute hin ?", habe ich Mutti gefragt.
" Der guckt sich fremde Frauen an !", hat Mutti gesagt und dabei hat sie gelacht. Da ist sie wohl nicht sauer mit Papi.
"Papi ist heute JUROR !
Er hat doch eine Zeit für den Fernsehsender in unserer Stadt gearbeitet und deswegen haben sie ihn eingeladen, bei der Wahl der PRINCESS OF BRANDENBURG im Oder- Center mit zu machen. Zusammen mit anderen Leuten von der PRESSE und verschiedenen RADIOSENDERN bestimmen sie die neue PRINCESS OF BRANDENBURG für dieses Jahr."
Ich überlege.
Eine Prinzessin ist immer die Tochter vom König. Also, da braucht doch keiner zu wählen ? Oder ? Die werden doch geboren !
Aber vielleicht hat der König von Brandenburg überhaupt keine Tochter ?
Haben wir hier überhaupt einen König ?
Ich weiß nur, daß der Herr Stolpe der Chef in unserem Land ist.
Und in unserer Stadt, der Bürgermeister.
Wenn Papi heute Abend wieder nach Hause kommt, muß er uns alles genau erklären. Oder ?
Ich fahre ihm nach und sehe zu.

**
Dreizehn junge Mädchen und Frauen bilden hier eine aufgeregte Menge.
Hinter den Stoffwänden, die vor der kleinen Bühne und dem schmalen Laufsteg aufgebaut sind und damit verhindern, daß die vielen Leute sie nicht gleich sehen können, blicken sie immer wieder auf den Spiegel. Der zeigt ihnen zum hundertsten Male, daß die vielen Puder und Cremes und die Farben an den richtigen Stellen im Gesicht und überall verteilt sind und ihnen die Aufregung auch nicht direkt anzusehen ist.
Draußen vor dem Laufsteg drängen sich alle möglichen Leute. Welche, die nur zum Einkaufen in das Oder- Center gegangen sind und hier die laute Musik gehört und die bunten Scheinwerfer gesehen haben und nun wissen wollen, was es hier wohl zu sehen gibt.
Dann Leute, die es ganz genau wissen.
Mit ernsten oder auch und gelassenen Gesichtern, denen jeder ansehen kann, daß sie diese Aufgabe schon ganz oft und richtig cool gemeistert haben, drehen sie an den vielen Knöpfen und Schaltern, die an dem großen Schaltkasten sind. Einer klappert auf der Tastatur von einem Computer. Der steht auch auf dem Schaltkasten. Die Gesichter von diesen Erwachsenen sagen jedem ohne, daß sie sprechen: "Ich bin hier ein Profi !".
Die andere Sorte von Leuten, die hier stehen und es auch ganz genau wissen, sind keine Profis. Die sind aufgeregt.
Sie sehen eher aus wie Leute, die es ganz wichtig finden, wenn einer oder besser eine von ihnen gewinnt. Das ist bestimmt die Verwandtschaft von den Mädchen.
Dann sind da noch Leute, die nur zusehen wollen und manche haben sogar ihre großen Kameras mit gebracht. Die dürfen damit überall herum laufen und müssen sich nicht um die dicken roten Seile kümmern, die den übrigen Zuschauern sagen, daß man hier nicht weiter gehen darf. Sie turnen überall herum, machen noch da Licht wo schon dicke Scheinwerfer hin strahlen, gucken durch die dicke Linse von ihrer Kamera den Leuten direkt in die Gesichter, sie sind richtig neugierig.
Am Abend sieht man die Bilder von denen im Fernsehen.
Jetzt ist einer auf die kleine Bühne geklettert. Er ist extra fein angezogen und hat sogar seine Schuhe blank geputzt. Denn die können die Zuschauer ganz genau sehen, weil er so hoch steht, das die Schuhe nicht übersehen werden können. Er ist der SPRECHER oder MODERATOR. Er hat ein MIKROFON in der Hand, da schaut unten nur ein kleiner Stummel heraus.
Oben spricht er rein aber seine Stimme kommt nicht aus seinem Mund, sondern von weiter oben. Da hängen ganz große Kästen mit Stoff drauf, und daher kommt seine Stimme ganz laut und deutlich. Er kann zählen, jedenfalls bis 3.
"Eins, zwei drei !" hallt es von oben, aber alle wissen, er hat es gesagt. An dem Schaltturm steht jetzt ein weiterer Profi. Das erkennt man nicht nur an seinem coolen Gesicht sondern auch an den Kopfhörern, die er sich über den Kopf gestülpt hat. Er dreht auch an den Knöpfen und als der Sprecher oft genug bis drei gezählt hat, nickt er ihm zu und der Sprecher hört mit dem Zählen auf.
Vor der Bühne und an den Seiten stehen noch schmale Tische und Stühle. Erst dahinter sind die dicken roten Seile. Da, einer von den Leuten, die auch Profis sind, aber andere als an dem Schaltkasten, denn die haben keine Knöpfe im Ohr und ein Ringelschwanzkabel, das in ihrem Hemd verschwindet, macht jetzt eine Lücke im Absperrseil auf und läßt noch ein paar Frauen und Männer durch. Die meisten sind mit Anzug und Schlips gekommen und die Frauen haben auch schicke Kleider und Frisuren angezogen. Gleich stürzen sich die Leute mit den Kameras auf die Neuen, die sich jetzt an die schmalen Tische vor der Bühne hingesetzt haben. Eine Frau hat sich einen breiten Gürtel umgehängt. Völlig falsch herum ! Denn der Gürtel hält so nicht ihr Kleid an der richtigen Stelle fest. Aber, jetzt weiß ich es, das ist gar kein Gürtel, sondern eine SCHÄRPE. Ein Preis, ein Beweis dafür, daß sie schon einen Preis gewonnen hat. Papi sagt, sie heißt Franziska und hat im vergangenen Jahr hier gewonnen und ist die zweite geworden, als in Deutschland eine Prinzessin gewählt wurde.
In diesem Jahr sitzt sie in der JURY. Auch Papi sitzt da.
Nun kommt der Sprecher wieder auf die Bühne. Er steht aber nur da und guckt sich die Leute an. Er guckt sie alle an und macht ein feierliches Gesicht. Aus den großen Stoffkästen über ihm klingen Trommeln und dann auch noch Trompeten und andere Instrumente. Es ist Musik. Laute Musik.
Jetzt wird sie leiser und die Leute sind endlich stiller geworden. Sie gucken jetzt auf den Sprecher zurück. Der begrüßt alle und sagt, wie er sich freut und was heute alles so passieren wird.
Der Sprecher freut sich über alles, über das Wetter, das ist aber draußen und nicht im Oder- Center, über den Chef vom Oder- Center, der das mit den anderen Profis möglich macht, über die Frauen, die hinter den Stoffwänden stehen und aufgeregt sind, über die Leute an den schmalen Tischen, besonders über Franziska, na, das kann ich verstehen, die ist nämlich chic.
Der Sprecher freut sich noch ein bißchen weiter und dann stellt er die Jury vor, da mußte Papi, so wie die anderen, noch einmal aufstehen und sich umsehen.
Dann freut sich der Sprecher noch einmal und erklärt, wie es heute abläuft.
Die dreizehn Mädchen hinter der Stoffwand sind immer noch aufgeregt und der große Spiegel muß ihnen andauernd sagen, daß sie noch immer sehr gut aussehen.
Der Sprecher vorne ist nun mit dem Erklären fertig und dann beginnt die Wahl.
Aber so sagt der Sprecher, die Leute,
also die Zuschauer sollen sie begrüßen,
mit einem warmen Applaus.
Wahrscheinlich, weil den Leuten beim Klatschen die Hände heiß werden.

**
Dreimal werden nun alle Mädchen, die eine Prinzessin werden wollen, den Leuten vorgeführt.
Beim ersten Mal hat der Sprecher mit ihnen gesprochen, sie gefragt, was sie machen, wenn sie nicht in der Schule sind oder arbeiten, was sie werden wollen oder sich wünschen und was ihre Hobbys sind. Viele Mädchen wollen Beamte oder Polizisten werden. Eine sogar Richterin und später, wenn sie lange genug Geld verdient hat, einen großen Sportwagen fahren.
Jetzt, so sagt sie, schraubt sie aber noch am CORSA.
Die Mädchen haben sich Sachen angezogen, die ihnen gefallen.
Beim zweiten Durchgang sind sie alle im Badeanzug gekommen, oder sogar im Bikini. Weit und breit ist hier kein See oder eine Badewanne zu sehen, aber sie kommen einfach mit Badezeug auf die Bühne.
Der Sprecher freut sich trotzdem ein bißchen weiter, fordert die Zuschauer wieder zum warmen Applaus auf, und stellt sie noch einmal vor.
Die Mädchen laufen über die Bühne und bis ganz vorne auf dem Laufsteg. Manche haben schon geübt und laufen genauso, wie die Modells in Amerika oder wie Claudia Schiffer.
Mit Hüftunterschwung, erklärt mir Papi.
Beim dritten Durchgang haben die Mädchen ganz elegante Kleider angezogen. Sie rauschen über den Laufsteg und die Kleider fegen den Bühnenboden. Ein paar Mädchen haben kurze Kleider an. Aber die sehen auch ganz elegant aus und man kann alles sehen. Die Figur, den Busen und den Popo.
Dafür bekommen sie alle wieder diesen warmen Applaus.
Zwischen den Durchgängen gab es Pausen und Musik.
Für die Mädchen waren die Pausen wichtig. Sie mußten sich umziehen und wieder in den Spiegel gucken.
Für die Jury waren die Pausen auch wichtig, wegen der Tasse Kaffee, der Zigarette, den Keksen und belegten Brötchen und wegen der richtigen Wahl.
Nachdem letzten Durchgang haben sie dann die Punkte gezählt. Auch die vielen Zettel, die die Zuschauer abgegeben haben. Die hatten nämlich auch eine Stimme, bestimmt weil sie so viele warme Appläuse gegeben haben. Die Jury mußte die Punkte für jeden einzelnen Durchgang verteilen. Für den Ausdruck und das Gesicht, für die Figur und für die Erscheinung.
Dann haben sie gerechnet und gezählt.
Erzählt und gestritten.
Gegessen und geraucht.
Am Schluß hatten sie ein Mädchen gefunden, das die meisten Punkte hatte.
Die dahinter kamen waren auch gut.
Eigentlich hatten Papi alle gefallen so hat er abends erzählt, aber eine nur durfte gewinnen.
Das war dann der Schluß.
Der Sprecher hatte einen Zettel bekommen, wo die Punkte und die Mädchen drauf standen. Er brauchte bloß abzulesen.
Aber, er hat es richtig spannend gemacht.
Und als die Musik etwas leiser geworden war, da hatte der Profi wieder am Schalter gedreht, da hat er es den Zuschauern gesagt:
"Zur Begrüßung unserer Kandidaten bitte ich Sie noch einmal um ihren warmen Applaus !"
Na, da haben sie dann noch einmal geklatscht.
Dann kamen alle auf die Bühne.
Sie standen da.
Alle Durchgänge waren vorbei.
Sie warteten auf das Ergebnis.
Der Sprecher hatte wieder eine Pause gemacht, die Musik wurde laut und wieder leise, dann haben es alle erfahren.
Zwei der Mädchen, die auf den zweiten und dritten Platz gekommen waren, haben Geschenke bekommen und wurden vom Center- Manager geküßt, die erste auch.
Die war aber nicht nur die Erste, sondern auch die längste.
Und die Prinzessin von Brandenburg.
Papi kam dann nach Hause.
Er hat auch etwas bekommen.
Kopfschmerzen.
Von der lauten Musik, dem warmen Applaus und dem Entscheiden.

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