© der Geschichte: Robert Herbig. Nicht unerlaubt
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Krawuttke ist tot!

Heute in der Mittagspause hab ich es erfahren.
"Haste schon gehört? Krawuttke ist tot!" Heinz saß bereits am Tisch und überfiel mich, noch bevor ich mein Tablett abgestellt hatte.
"Echt? Der olle Krawuttke? Scheiße. Wie issn das passiert?"
"Was hör ich da gerade, Krawuttke hat den Löffel abgegeben? Na ja, wundern tut's mich nicht, hat ja auch gesoffen wie ein Loch", sagte Paul, der kurz nach mir an der Kasse gestanden hatte.
"Soll ja früher auch Drogen genommen haben, sagt man." Kollege Emil setzte sich neben mich.
"Wenn man ihn in den letzten Jahren gesehen hat, war er aber meist "nur" besoffen!" Heinz nuschelte, da er seine hochgezogenen Spaghetti abbiß.
Unser Kollege Peter nickte. "Vor drei Jahren kam er deswegen fast unter die Straßenbahn."
"Ja, als die Polizei kam und ihn von den Gleisen zerren wollte, hat er den Polizisten vollgekotzt"
Alles grölte.
"Ja, und jetzt isser tot." Sofort verstummten die Lacher wieder. Bis auf Heinz, der immer noch an seinen Spaghettis zutzelte.
"Ich hab ihn mal gesehen, im Storchen", erklärte Emil. "Er hat gerade ne Lokalrunde geschmissen, als ich reinkam! Hat mich den halben Abend freigehalten!"
"Ja, das muss man ihm lassen, spendabel war der Krawuttke, das stimmt schon." Einhelliges Nicken rundum, sogar Heinz unterbrach dafür kurzzeitig seinen Kampf mit den Spaghetti.

Für einige Minuten hörte man keinen Laut, nur die unter echten Männern üblichen Schmatzgeräusche, bis Heinz seinen leeren Teller in die Mitte schob und leise rülpste. Er zündet sich eine Zigarette an, machte ein, zwei Züge und sagte dann: "Als seine Erna noch lebte, hat sie ihn immer mit dem Nudelholz verprügelt, wenn er von der Kneipe heimkam."
Alle sahen ihn an.
"Wer? Wen?", fragte ich verwirrt.
"Na Krawuttke!" lachte Heinz.
"Wann ist die denn eigentlich gestorben?", wollte Emil wissen.
"Erna? warte mal...vor zwei Jahren! Das war so ein richtiger Drache, sag ich euch. Aber als sie tot war, soff Krawuttke noch mehr. Damals gings mit ihm erst richtig bergab."
"Wenn ich ihn damals auf der Strasse sah, hab ich immer die Straßenseite gewechselt. Wenn nicht, dann hat er einen immer angebettelt. Richtig peinlich war das." Emil schüttelte sich angewidert.
"Aber als er noch Lokalrunden schmiss hast du dich von ihm aushalten lassen, da war dir nix peinlich, oder?", fragte ich. Er sah mich böse an. "Na und? Hätte doch jeder gemacht! Du etwa nicht?"

"Wie alt war der denn eigentlich?", fragte Heinz, bevor ich antworten konnte.
Emil überlegte: "Krawuttke war ne Klasse über mir, also war er 46!"
"Wahnsinn, 46 Jahre alt und ein körperliches Wrack." Heinz grinste.
"In zwei Jahren hätte er wahrscheinlich unter der Brücke gelegen."
"Wovon hat der eigentlich gelebt?" Peter machte sich gerade über seinen Pudding her.
Heinz zuckte die Schultern. "Wahrscheinlich von seiner Rente."
"Ich hab ihn ab und zu beim Blut spenden sehen! Dafür gibt's ja auch ein paar Euro! Wenn man dreimal die Woche geht, kommt man gut über die Runden!"
Alles lachte über meinen Witz. Emil setzte noch einen drauf: "Vielleicht hat er ja schon zu Lebzeiten seine Organe verpfändet!"
Das Gelächter wurde lauter. Andere Tische wurden bereits auf uns aufmerksam.
"Vielleicht sehen wir Krawuttke bald wieder", sagte ich geheimnisvoll.
Die anderen sahen mich verblüfft an.
"Wo denn?", fragte Emil endlich.
"Na, bei dieser Ausstellung mit diesen Leichen. Die von diesem Professor!"
Gerade wollte wieder Gelächter einsetzen, als Heinz die Hände hob.
"Ich kann mir das gut vorstellen. Am Eingang ein kleiner Glaskasten! Etwa 40x40 Zentimeter groß."
Alle sahen wir ihn gebannt an. "Und? Wie soll der da reinpassen?", fragte ich.
"Nicht er! Nur ein Teil von ihm", erklärte Heinz geheimnisvoll. "Davor ein goldenes Schild...!"
Die Spannung war kaum noch auszuhalten.
"Und was steht auf dem Schild? Jetzt sag schon!" Emil drängelte. Sogar sein Pudding war zeitweilig vergessen.
Heinz beugte sich verschwörerisch vor. "Auf dem Schild steht: Krawuttkes Leber durch Alkohol!"
Wir schlugen uns auf die Schenkel und lachten Tränen.

Paul, unser Vorarbeiter kam vorbei und blieb stehen, sein Tablett in den Händen. "Euch scheint's ja gut zu gehen?", fragte er.
"Ja, wir haben gerade allerhand zu lachen, setzt dich doch zu uns."
Ich deutete auf einen leeren Stuhl.
"Nee, ich muss zu Dr. Freund an den Tisch, wir haben noch etwas wegen der Nachtschicht zu besprechen. Aber was anderes...", sagte er und stellte sein Tablett kurz ab, "...Ihr habt doch den ollen Krawuttke gekannt, der hier mal als Hausmeister gearbeitet hat, oder?"
Heinz gluckste und blickte sich nickend um. "Ja, den alten Krawuttke haben wir gut gekannt."
Und wieder lachten wir.

Paul sah uns etwas befremdet an. "Ich weiß zwar nicht, was es da zu lachen gibt, auf jeden Fall ist Krawuttke gestern gestorben."
Dann nahm er sein Tablett wieder auf und wollte weitergehen.
"Paul...", rief ich ihm nach, "...woran ist er denn gestorben?"
Alle sahen Paul an. Der blieb kurz stehen, sah erst zum winkenden Dr. Freund, nickte ihm kurz zu und drehte sich noch einmal herum.
"Auf dem Bismarckplatz ist gestern ein Baukran umgestürzt. Krawuttke hat in letzter Sekunde ein kleines Mädchen auf die Seite gerissen und wurde dann vom Kranarm erschlagen. Er hat dem Mädchen das Leben gerettet und ist dabei selbst gestorben", sagte er mit ernster Miene.

Dann drehte er sich um und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, zu Dr. Freund an den Tisch.
Bei uns war kein Laut mehr zu hören. Betroffen sahen wir uns alle an.
Emil nahm als erster sein Tablett und stand leise auf. Dann Heinz. Peter starrte vor sich auf den Tisch. "War schon ein feiner Kerl, der olle Krawuttke."
Keiner sagte auch nur ein Wort.
Aber alle nickten.
Ja, eigentlich war er ja ein feiner Kerl, der olle Krawuttke.

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