© der Geschichte: Andrea Tillmanns. Nicht unerlaubt
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Knapp

Freitag, 20:33 Uhr


„Und, wie war´s?“ fragt Mark.
„Na ja, weiß nicht so genau. Und bei dir?“ antworte ich erst mal.
„Ach, wie immer eben. Alles blöde Aufgaben. Oder kanntest du etwa eine von denen?“
„Nö, das nicht. Aber die vierte, die mit den beiden Zylindern und dem Trägheitsmoment, die war gar nicht so schwer, die müßte ich bestimmt richtig haben...“ beruhige ich mich selbst.
„Trägheitsmoment?“ unterbricht er mich, „so´n Murks, das darf doch wohl echt nicht wahr sein! Dann hab‘ ich da glatt die Rotationsenergie vergessen! Oh Mann“, wütend zündet er sich eine Zigarette an, „kein Wunder, daß bei mir nur Blödsinn ‘rauskam. Und dieser Assistent hat kein Wort gesagt, als ich ihn gefragt hab‘.“
„War auch irgendwie ziemlich dumm, daß unsere Übungsgruppenleiter keine Fragen beantworten durften“, pflichte ich ihm bei. „Na ja, hätte man eigentlich erwarten können, bei dem Prof...“
Mark läßt noch einige Sprüche über gewisse Professoren und deren Assistenten ab, bevor er sich verabschiedet.

Freitag, 20:51 Uhr


„Und, wie war´s?“ fragt auch mein Freund.
Erst einmal werfe ich meinen Block mit Schwung auf mein Bett, lasse mich hinterherfallen und ausgiebig bedauern.
„Alles Mist, wie immer“, murmele ich mitleidheischend. Tatsächlich krault er brav meinen Bauch und danach sogar meine Füße, wobei mir erst zu spät einfällt, daß diese einen ganzen Tag lang in geschlossenen Schuhen gesteckt haben. Aber er beschwert sich nicht über eventuelle Ausdünstungen und bringt mir später, nach einem heftigen Lese- und Laute-Musik-Anfall meinerseits, sogar ganz freiwillig einen Multivitaminsaft zur Wiederherstellung von angekratzten Nerven, Gehirnzellen und Fettpolstern – „Wird schon nichts schaden“, wie er meint.

Freitag, 23:48 Uhr


An Schlaf ist nicht zu denken. Habe ich Aufgabe vier wirklich richtig gerechnet? Eigentlich war ein Vorfaktor im Ergebnis doppelt so groß wie erwartet. Wo könnte der Fehler liegen? Als ich, einige Stunden später, wieder einmal aus dem unruhigen Schlaf schrecke, habe ich ihn gefunden. Leider zu spät.

Samstag, 8:02 Uhr


So müde ich auch noch bin, das ständige Hin- und Herwälzen bringt auch nichts mehr.
Wieviel Punkte mich dieser Fehler wohl kosten wird? Wahrscheinlich wieder die Hälfte der in der Aufgabe erreichbaren. Damit liegt der erhoffte Wert von fünfzig Prozent, mit dem ich endlich diesen letzten Schein erhalten würde, der noch zwischen mir und der Anmeldung zum Diplom steht, in nicht mehr ganz so greifbarer Nähe.

Samstag, 10:37 Uhr


Mein Freund versteht mich nicht, meint, ich solle auch mal wieder an andere Dinge denken. Schließlich bekäme ich übermorgen, am Montag, doch schon die Klausur zurück und könne mich dann immer noch ärgern.
Meine Mutter versteht mich schon besser, tröstet und gibt verbale Streicheleinheiten. Da wir seit Beginn meines Studiums weit auseinander wohnen, telephonieren wir nicht lange.

Samstag, 10:54 Uhr


Habe ich die zweite Frage zur Vorlesung auch wirklich richtig beantwortet? Die Green´sche Funktion habe ich noch nie so richtig verstanden. Oder ob ich mich dabei etwa verrechnet habe? Meine Lösung erscheint mir plötzlich irgendwie falsch. Nein, ich werde nicht im Skript nachsehen. Zumindest den letzten Rest Hoffnung will ich mir bis zum Montag aufbewahren.

Samstag, 13:28 Uhr


Mist, wußte ich´s doch. Green´sche Funktion völlig falsch angewandt, Ergebnis ganz anders als im Skript. Wieviel Punkte gab es noch gleich für diesen Aufgabenteil? Wo ist mein Aufgabenblatt? Habe ich das etwa mit abgegeben? Um Himmels Willen, da steht doch auch noch dieser total verkorkste Ansatz zur dritten Aufgabe drauf, die ich erst im zweiten Anlauf richtig gerechnet habe. Wenn das einer der Korrektoren liest...

Samstag, 17:41 Uhr


Apropos Aufgabe drei – müßte die nicht in einem der Bücher stehen, die ich gestern abend zwecks Vermeidung weiteren Blickkontaktes im Kleiderschrank verstaut habe? Eigentlich könnte man doch mal... Nein, kommt nicht in Frage. Wieviel Punkte gab´s noch gleich für diese Aufgabe? Müßte man doch rekonstruieren können...

Samstag, 19:49 Uhr


„Oh Mann, du hast Nerven!“ motzt Mark am anderen Ende der Leitung. „Reicht doch wohl, wenn du´s Montag erfährst!“
„Ach komm, schau doch mal kurz nach...“ bitte ich.
„Geht nicht, die Aufgabenblätter haben wir gestern abend schon rituell verbrannt. Okay, warte, ich glaube, das waren sieben für die Fragen, und für dritte und vierte gab´s genauso viele. Und für die zweite neun oder so. Haste das eigentlich mit oder ohne Erdanziehung gerechnet?“
„Erdanziehung?“ Ich setze mich erst einmal. „Davon stand doch kein Wort in der Aufgabe!“
„Nö, natürlich nicht, aber nachher sagte irgend jemand, ohne Erdanziehung sei da keine richtige Schwingungsgleichung entstanden. Ich dachte ja auch nur, du wüßtest vielleicht schon mehr...?“
Ich weiß nur, daß ich jetzt erst mal einen Kaffee brauche, und verabschiede mich. Bei mir kam auch ohne Erdanziehung eine herrliche Schwingungsgleichung heraus. Also auf alle Fälle falsch. Wie viele Punkte gab es dafür noch gleich? Ach so, mehr als für alle anderen. Wird mich mindestens acht von den neun Punkten kosten. Erstmal Kaffee.

Samstag, 21:32 Uhr


So schlecht war dieser blondgelockte Entertainer noch nie. Mein Freund ist anderer Meinung, amüsiert sich aber, nach kurzem Blick auf mich, nur noch leise. Als ich nach der Fernbedienung greife, um unmotiviert durch die verbleibenden Programme zu zappen, verschwindet er in seinem Zimmer. Kein Wunder, heute würde ich es auch nicht allzu lange mit mir aushalten, wenn ich die Wahl hätte.

Samstag, 23:51 Uhr


Endlich stimmt auch die Gesamtpunktzahl in meiner Rechnung! Los geht´s. Fragen zur Vorlesung: eine überhaupt nicht angesehen, war auch wirklich zu merkwürdig, kostet vier von sieben Punkten. Nein, sagen wir drei. Eine kann immer noch richtig sein, gibt zwei Punkte, eine falsch, plus null. Nicht allzu viel. Zweite Aufgabe: Höchstens noch vier von neun. Dritte...

Sonntag, 0:12 Uhr


Auf sechzehn Punkte komme ich, achtzehn brauche ich. Vielleicht haben sie ja etwas weniger streng bewertet...

Sonntag, 0:17 Uhr


Einundzwanzig! Könnte also doch noch gutgegangen sein! Ab ins Bett!

Sonntag, 3:23 Uhr


Ob ich für die zweite wirklich noch sechs Punkte bekommen werde? Wo genau lag jetzt eigentlich der Fehler...?

Sonntag, 11:19 Uhr


Mein Freund versteht nicht, wie man nach elf Stunden Schlaf noch immer müde sein kann. Mark versteht nicht, warum ich keine Lust auf Essengehen habe. Ich verstehe nicht, warum ich die Klausur nicht sofort wieder abgegeben habe, nachdem ich die Aufgaben gesehen habe. War eben viel zu schwer. Wird wieder auf die übliche Durchfallquote von neunzig Prozent hinauslaufen. In dieser Hinsicht war ich schon immer ein Herdentier.

Sonntag, 14:59 Uhr


Mein Freund will auch mal gekrault werden. Dazu habe ich nun wirklich keine Nerven. Läuft nicht irgendein guter Film?

Sonntag, 15:14 Uhr


Dann eben Video. Jetzt würde ich ihm sogar die Füße kraulen, aber er hat gerade keine Lust auf alberne Komödien.

Sonntag, 15:54 Uhr


Der Film ist echt schlecht. Ist mir noch nie so aufgefallen. Nächster Film. Hauptsache Fun und laut. Mein Freund schließt leise seine Tür. Ich höre es dennoch und drehe den Fernseher noch lauter. Er hält mit abartiger Musik dagegen. Schließlich gewinne ich doch.

Sonntag, 18:38 Uhr


Auf ausführliche Entschuldigungen meinerseits folgen ausführliche Erklärungen seinerseits, warum mir meine Nervosität jetzt auch nichts mehr nützt. Habe ich mir auch den richtigen Raum für die Klausurrückgabe notiert? Ich rufe Mark noch mal an.

Montag, 1:27 Uhr


Und wenn ich mich bei der Zeit vertan habe? Wieviel Punkte gab es noch gleich für die letzte Aufgabe?

Montag, 10:48 Uhr


Nur noch zwölf Minuten...

Montag, 10:59 Uhr


Was soll ich eigentlich hier? Weiß doch sowieso schon, daß ich nicht bestanden habe. Eigentlich könnte ich auch wieder gehen...

Montag, 13:03 Uhr


Was soll denn hier heißen, die Klausurrückgabe sei eben nur für zwei Stunden angesetzt gewesen? Vielleicht gibt es ja doch jemanden, mit dem ich noch nicht um einen halben Punkt gefeilscht habe?
Ich will weiter meckern!

Montag, nachmittags


„Knapp vorbei ist auch daneben“, sagt Mark.
„War doch nur eine Klausur“, sagt mein Freund.
Ist doch nur ein Jahr, denke ich. Beim nächsten Mal... So nah wie diesmal war ich meinem Ziel noch nie. Morgen fange ich an zu lernen, dann wird es bestimmt...
Ich könnte heulen.



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