© der Geschichte: Ewgenij Sokolovski. Nicht unerlaubt
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Von der Kindheit an

Ich liebte sie schon seit der Grundschule. Ganz genau kann ich mich an den Augenblick erinnern, als ich Marie zum ersten Mal sah. Es war der erste Schultag, die erste Unterrichtsstunde. Wir saßen alle in einer großen hellen Klasse, neugierig und erwartungsvoll, alles - die ganze Umgebung, die Atmosphäre waren neu und unbekannt. Und wir mussten uns an das Ganze noch gewöhnen, was uns in den nächsten zehn bis dreizehn Jahren begleiten würde. Eine nette Lehrerin stand vor der Tafel und erzählte viel von dem neuen schönen Leben, das ab dem heutigen Tag für jeden Schüler beginnt. Und mit ihren Worten eröffnete sich vor meinen Augen eine völlig andere Welt volle neuer, sehr interessanter Sachen, wertvoller Erfahrungen und fester Kameradschaften. Es war irgendwie berauschend, was sie uns da präsentierte. Bis ich den hübschen Lockenkopf hinter der dritten Bank bemerkte. Eigentlich war nichts wirklich Besonderes daran. Nur das lange helle Haar, das sich an seinen Enden zu kleinen Krausen zusammenrollte. Trotzdem zog der Anblick aus mir bis jetzt unerklärlichen Gründen meine Aufmerksamkeit auf sich. Und dann schaute sich das Mädel um und starrte mich für eine Zeitlang an (oder schien es mir nur so?). Es war bildhübsch. Schön mit einer Schönheit, die man mit den normalen Worten unserer Sprache nicht ausdrücken kann. Man konnte nicht die einzelnen Details, die Züge ihres Gesichts getrennt voneinander betrachten, sie nach einer bestimmten Skala bewerten, um dann am Ende schließlich einen Gesamturteil fallen zu können. Es kann sehr gut sein, dass sie bei einem solchen Vorgehen gar nicht so gut dastehen würde, das interessierte mich aber damals nicht und noch weniger interessiert es mich heute. Nein, so war sie nicht. Es war mehr wie ein Schlag, wie ein Amorpfeil, der mich unerwartet mitten ins Herz traf und auch nicht mehr vorhatte, wieder heraus zu kommen.

Damals war ich sieben Jahre alt. Und man hätte sich leicht denken können, dass diese erste Leidenschaft rasch verfliegen würde. Das tat sie jedoch nicht. Im Gegenteil. Mit jedem Tag verliebte ich mich immer mehr in sie. Ich konnte es nicht erwarten, morgens in die Schule zu gehen, sehr zur Freude meiner Eltern. Sie hielten es verständlicherweise für eine stark ausgeprägte Lerneifer, die sie selbst nie besaßen. Ich wollte sie nicht enttäuschen und erzählte nichts von meiner heimlichen Liebe. Jeder Tag, an dem ich zur Schule ging, konnte ich meine Angebetete verstohlen beobachten. Wie sie mit ihren Freundinnen auf dem Schulhof spielte, wie sie ihre Hausaufgaben in der Pause fertig machte (und öfters bei jemandem abschrieb), wie sie während des Unterrichts sich leise mit einer Nachbarin unterhielt. Alles in ihr, alles was sie auch immer tat erfüllte mich mit einer stillen Genugtuung und Bewunderung. Ich traute mich aber nicht, das Mädchen anzusprechen. Sie gar offen anzuschauen. Es ist kaum zu erklären, aber aus irgendeinem Grund habe ich immer gedacht, dass alles zu Ende ist, wenn Marie etwas von meiner Sympathie mitbekommt. Sie würde mich doch bestimmt auslachen und die Geschichte dann noch der gesamten Klasse erzählen, was unausweichlich Spott meiner Klassenkameraden nach sich zieht. Und ich würde mich danach nie mehr trauen, sie auch ganz verstohlen anzuschauen. Deshalb beließ ich alles beim Alten.

Es gab nur selten Gelegenheiten, sie lange und ganz unverschämt zu beobachten. Das konnte ich mir nur dann leisten, wenn sie zur Tafel ging. Irgendwelche Aufgabe zu machen oder auch einfach diese Tafel zu putzen. Am meisten liebte ich die Stunden, für die man ein Gedicht auswendig lernen musste. Dann war die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß, dass Marie sich freiwillig melden und das Gedicht aufsagen würde. Und dieses Aufsagen war der reinste Genuss. Dann hatte man die Gelegenheit, ihr Gesicht vielleicht ganze fünf Minuten ununterbrochen anzuschauen, ohne dass man dabei erwischt würde. In diesen wunderbaren fünf Minuten schaffte ich es, mir jedes einzelne Detail einzuprägen. Wie sie sich inspiriert der Klasse zuwendete. Und wie sie das ganze Gedicht ohne Unterbrechung präsentierte. Das war etwas Besonderes, niemand konnte es so machen wie die Marie. Jedes Mal, wenn ich sie dabei beobachten und ihr zuhören konnte, eröffnete sich mir wahrscheinlich die gesamte Gefühlswelt, die den Autor zu diesem Stück bewegt haben könnte. Es war einfach erstaunend, und herrlich. Unsere Lehrerin hat sie immer dafür gelobt.

Marie war überhaupt die Lieblingsschülerin in unserer Klasse. Alle haben sie gemocht. Die Lehrer, die Eltern, ihre Mitschüler und sogar ihre Mitschülerinnen, was bei einer solchen Schönheit gar verwunderlich ist. Einfach alle. Ich bezweifele gar, dass sie je einen Feind in unserer Klasse hatte. Obwohl man das bei ihrem Aussehen eigentlich voraussetzen könnte. Aber dem war nicht so. Marie hatte einfach solche Ausstrahlung, dass man sie schon nach der ersten Begegnung mögen musste. So ging es allen von uns. Am meisten mochten sie jedoch die Jungs. Wo immer sie auch auftauchte, wurde sie heimlich bewundert. Oft haben wir über sie geredet, noch ganz unschuldig. Die Mädchen waren für uns damals noch ein unerreichbarer Traum, den man gerne träumen konnte, den man aber nicht zu verwirklichen wusste.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Wir wuchsen auf und der Traum näherte sich allmählich der Realität. Manche von den Jungen begannen Liebesbriefe an Mädchen zu schreiben, auch an die Marie. Sie hat eine ganze Menge davon gekriegt. Keiner davon stammte jedoch von mir. Ich konnte mich einfach nicht trauen, sie auf eine so direkte Weise anzusprechen. Wer war ich denn schließlich? Ein mittelmäßiger Schüler, der sich weder durch sein Aussehen noch durch seinen Humor noch durch Intelligenz oder die Gesprächigkeit von der grauen Masse unterscheiden konnte. Ein Nichts für solches Mädchen wie Marie. Sie hat doch so viele Liebeserklärungen bekommen, von Jungen, die wirklich nach allen Kriterien viel besser als ich abschnitten. Manche von ihnen gar aus älteren Klassen. Hier hätte ich einfach nicht mithalten können. Und so zog ich es vor, mich zurückzuhalten und sie nur aus der sicheren Ferne weiter zu bewundern.

Anfangs lehnte Marie die vielen Angebote ab. Sie kicherte mit ihren Freundinnen darüber, wenn sie dachten, dass sie unbeobachtet wären. Doch irgendwann kam der Tag, an dem ich sie mit einem Jungen aus der Parallelklasse auf der Straße traf. Sie hielten Händchen und sahen sehr verträumt und glücklich aus. Es war ein schwerer Schlag. Heimlich, in den Tiefen meines Bewusstseins hegte ich bis zu diesem Augenblick noch die Hoffnung, dass wir eines Tages zusammenkommen werden. In meinen Träumen malte ich mir aus, wie sie mich eines Tages doch bemerkt. Sie würde mich in der Pause anlächeln und versuchen, mit mir ins Gespräch zu kommen. Tausend Mal spielte sich diese Szene in meinem Kopf ab. Ich habe mir schon für alle möglichen Fälle die verschiedensten Antworten und lustige Sprüche überlegt, die mir ihre Zuneigung auch weiter sichern würden. Doch nun war der Traum zerplatzt. Sie war vergeben und es bestand nicht die geringste Chance, sie wieder "zurück" zu gewinnen. Gegen diesen Typen, und ich kannte ihn ziemlich gut, konnte man nicht gewinnen. Das einzige, was für mich noch übrig blieb, war Resignation. Ich konnte nichts machen. Man konnte nur warten und hoffen, dass sie ihn irgendwann verlässt und wieder frei wird.

Marie hat ihn auch tatsächlich irgendwann verlassen. Aber nicht wegen mir, sondern wegen eines anderen Jungen, von dem sie wohl mehr angetan war. Der Exfreund wollte es noch lange nicht glauben und rief sie immer noch öfters an, lauerte Marie auf dem Schulhof auf. Bis er eines Tages mit einer blauen Auge und zerplatzten Lippen in die Schule kam. Dann hat er es doch geglaubt.

Später ging sie noch mit vielen anderen Jungs aus. Man muss hier einfach sagen - sie hatte einen ausgezeichneten Geschmack. Es gab kaum ein Mädel bei uns in der Klasse, das sie heimlich nicht beneidet hätte. Und es gab kaum einen Jungen, der sie in den Träumen nicht als seine Freundin sah. Jedoch blieb den meisten dieses Glück erspart, Marie war sehr anspruchsvoll in ihrer Wahl. Und das hat mir mitunter eine gewisse Erleichterung gebracht - ich war nämlich nicht der einzige, der sich mit seinen Gefühlen herumquälen musste. Ich hatte viele Leidensgefährten.

Die Zeit verging und irgendwann kam der Tag, an dem wir uns von unseren alten und geliebten Schule verabschieden mussten. Die Abifeier, die schon seit langer Zeit sorgfältig vorbereitet wurde, hat endlich stattgefunden. Sie war schön und traurig gleichzeitig. Ich sah Marie in ihrem federleichten Kleid umherschwirren und ich wusste, dass heute wohl der letzte Tag ist, an dem ich sie sehen, mit ihr sprechen kann. Denn danach ist es vorbei, wir schlagen alle verschiedene Wege ein, und unsere Schicksale werden sich wahrscheinlich nie mehr kreuzen. Deshalb genoss ich diese letzten Augenblicke und versuchte, sie mir so wie jetzt einzuprägen. Trotz all den Qualen, die Marie mir gebracht hat, wollte ich sie nicht vergessen, ja ich konnte es auch nicht. Wir redeten kaum miteinander. Sogar an diesem letzten Tag, wo wir uns für immer trennten, wo es eigentlich ganz egal wäre, wenn ich mich blamiert hätte, sogar in diesen Stunden konnte ich nicht die Oberhand über mich gewinnen. Ich konnte es einfach nicht. Und sie merkte gar nichts, sie lachte mit ihren Freundinnen und Freunden, sie weinte am Schluss der Feier, als alle nach Hause aufbrachen, aber mich sah sie nicht. Mich, der an diesem Tag die wahrscheinlich stärksten seelischen Qualen von uns allen hatte. Und nicht wegen dem Abschied von unseren alten Schule, nicht deswegen. Die Schule war mir an diesem schwarzen Tag sowieso egal! Nein, wegen ihr. Wegen ihr litt ich so viel. Nur wegen ihr. Bloß die Vorstellung, dass ich in dieses wunderschöne Gesicht nie mehr blicken darf, ihr wunderbares Lachen nie mehr höre, bloß diese Vorstellung brachte mich um den Verstand. Aber ich konnte nichts machen. Ich konnte nur da stehen und Marie von mir gehen sehen - für immer.

Spät kam ich damals nach Hause. Meiner Mutter habe ich gelogen - ich sagte, wir hätten bis vier Uhr nachts unseren Abschluss gefeiert. In Wirklichkeit ging es nur bis zwölf. Die restliche Zeit verbrachte ich mit einsamen Spaziergängen durch die Stadt, nachdenkend, oft verzweifelt weinend. Aber ich konnte nichts ändern, es blieb nur Eines für mich übrig - Resignation, wie schon mehrmals in der Vergangenheit.

Ich sah sie nicht mehr wieder. Mit der Zeit gewöhnte ich mich sogar daran, dass wir uns nicht mehr jeden Tag in der Schule treffen. Der Schmerz, der anfangs noch fast unerträglich war, hat sich allmählich gelegt. Es blieb nur eine wunde Stelle tief in mir drin, die jedes Mal schmerzte, wenn mich jemand an diese meine erste unglückliche Liebe erinnerte. Das passierte aber, Gott sei Dank, nicht mehr so oft wie früher.

Ich hörte aber noch gelegentlich von der Marie. Wir hatten gemeinsame Bekannte, die mir auch ab und zu die Nachrichten überbrachten. Sie studierte irgendeine Geisteswissenschaft mit einem sehr komischen Namen in einer Stadt weit von hier entfernt. Dort war sie natürlich genauso beliebt und begehrt wie bei uns auf der Schule. Kein Wunder eigentlich, etwas anderes hätte man auch nicht erwartet. Sie war wunderschön, sie war klug, sie war witzig, sie hatte einen einzigartigen Charme. Ihre Kommilitonen liefen ihr in Scharen nach. Und Marie wählte sorgfältig aus. Nur die besten hatten bei ihr eine Chance.

Die Zeit verging. Mittlerweile habe ich mich mit meinem Schicksal abgefunden. Ich ging auch mit anderen Mädchen aus. Jedoch konnte ich für keine von Ihnen auch den geringsten Teil der Gefühle empfinden, die meine Marie bei mir damals in der Grundschule ausgelöst hat. Ich mochte sie zwar alle, manche von ihnen mochte ich sogar sehr. Von Liebe konnte es da aber keine Rede sein. Es waren einfach Beziehungen, die einen zu nichts verpflichten und die von dem anderen auch nichts verlangen. Verhältnisse von zweien Menschen, die einander zwar sympathisch sind, die allerdings jeder Zeit aufgekündigt sein könnten, und niemand einen seelischen Schaden davon tragen würde. Der Abschied von Marie hat aber in mir für immer Spuren hinterlassen.

Es sind wieder viele Jahre vergangen. Ich war mittlerweile 40 und immer noch auf der Suche nach einer Frau, die wenigstens in etwa meiner Marie gleichkommen könnte. Bis jetzt blieb diese Suche aber erfolglos. Manchmal dachte ich mir schon, ich solle sie doch lieber aufgeben. Eine zweite Marie würde ich sowieso nicht finden, und es wird ja langsam Zeit eine eigene Familie zu gründen. Viele meiner Freunde haben es schon bedeutend früher gemacht und drängten mich immer wieder dazu, endlich zu heiraten. Irgendwie konnte ich mich trotzdem nicht entschließen, die Suche aufzugeben. Immer wieder schien es mir, dass bald, ja in den nächsten Tagen, hinter der nächsten Straßenkreuzung sie auf dem Horizont auftaucht, die Arme sehnsüchtig nach mir ausstreckend und ihre Lippen meinen Namen flüsternd. Doch die Jahre verstrichen und sie kam nicht.

Komischerweise hat Marie auch nicht geheiratet. Wenn man das glauben konnte, was mir mal ein Freund erzählte, dann war sie ebenfalls immer noch auf der Suche nach dem richtigen Mann fürs Leben. Sie war bildhübsch, sie hatte eine solche Auswahl. Und das war anscheinend gerade ihr größtes Problem. Während so viele andere Mädchen schon längst die Hoffnung aufgaben, ihren Traumprinzen, den Ritter auf dem weißen Roß zu finden, und das geheiratet haben, was zugegen war, träumte sie immer noch von ihm. Niemand war ihr gut genug, dieser Mann zu werden. Und so wechselte sie ständig die Bekanntschaften in der Hoffnung, doch noch den Passenden zu finden. Jedoch allmählich schwanden die Kandidaten. Viele ihrer Verehrer haben irgendwann erkannt, dass es mit ihr sowieso nichts Ernstes wird und fanden andere Frauen, die auch heiratswilliger waren. Andere hatten schon Familien und betrachteten Marie einfach als eine Art Freizeitvergnügung. Und zu aller Letzt wurde sie mit der Zeit nicht jünger. Es gab genug andere, frischere Frauen um sie herum, die die Blicke der Männer von ihr ablenkten. Langsam stieg in Marie die Angst auf, doch letztendlich alleine zu bleiben. Die meisten ihrer Freundinnen haben sie schon lange davor gewarnt und auch geraten, nicht so zimperlich bei der Auswahl zu sein. Marie bekam die Torschlusspanik.

Und wie es der Zufall so manchmal will, haben zwei bedürftige Seelen einander gefunden. Ich traf sie zufällig auf der Strasse als sie zu Gast bei einer alten Freundin von ihr war. Wir sprachen miteinander eine Weile, und dann, dann traute ich mich zum ersten Mal in unserer dreiunddreißigjähriger Bekanntschaft, nach ihrer Telefonnummer zu fragen. Ich habe das ohne jegliche Hoffnung gemacht, ich wollte es einfach nur endlich Mal bestätigt haben, dass sie nichts für mich empfindet. Eine Verzweiflungsgeste, wenn Sie wollen. Doch zu meiner größten Verwunderung bekam ich keine kalte Abfuhr. Im Gegenteil, sie schien sehr froh zu sein, dass ich sie nach ihrer Nummer gefragt habe. Für einen Moment fühlte ich die Erde unter meinen Füßen wegrutschen. Das konnte einfach nicht wahr sein. Es durfte ja gar nicht wahr sein. Sie und ich, ich und sie. Eine Prinzessin und ein Spießbürger. Das war unmöglich. Und doch ist es passiert. Am nächsten Tag haben wir uns zum ersten Mal verabredet.

Die ganze Woche war ich nicht ich selbst. Ich ließ Gegenstände fallen, ich habe bei der Arbeit nicht aufgepasst und vom Autofahren konnte überhaupt keine Rede sein. Ich hatte das Gefühl, plötzlich gestorben und im Paradies aufgewacht zu sein. Doch dieses Paradies durfte ich auf Erden erleben. Wir gingen spazieren, ins Theater, wir redeten endlos miteinander. Zuerst lief alles wirklich wie in dem schönsten meiner Träume. Doch dann habe ich etwas Merkwürdiges festgestellt. Marie benahm sich auf irgendeine Weise komisch. Am Anfang war meine Begeisterung so groß, dass ich den Einzelheiten keine Achtung schenkte. Aber jetzt war es anders. Nach dem das erste Frohlocken vorbei war, konnte man die Dinge viel genauer sehen. Wir gingen wie früher aus, wir sprachen miteinander und wir haben uns geliebt. Doch die Art wie Marie sprach, wie sie mich ansah, wie sie lachte und liebte - es schien mir alles irgendwie künstlich zu sein. Es war einfach nicht echt. Ich konnte nicht genau sagen, woran es lag, aber etwas war eindeutig nicht in Ordnung. Hier hat sie mich zu sinnlich angestarrt, da hat sie unangemessen und übertrieben laut gelacht - alles im Einzelnen nichts besonderes, doch gemeinsam ergab es einen Sinn.

Mit der Zeit entwickelte sich mein unterschwelliger Verdacht zur Sicherheit. Marie hat mich nicht wirklich geliebt. Aber warum, um alles in der Welt, spielte sie dann dieses ganze blöde Theater? Warum musste sie mich betrügen? Wieso verbrachte sie ihre Freizeit mit einem Mann, für den sie gar nichts empfinden konnte? Diese Fragen haben mich sehr lange gequält und irgendwo tief in meiner Seele glomm noch die stille Hoffnung, dass ich mich doch irre, dass alles in Wirklichkeit echt ist, und dass ich mich nur an unbedeutenden Kleinigkeiten festklammere. Bis ich eines Tages das Telefongespräch mit ihrer besten Freundin abgehört habe. Ich war bei Marie zu Gast, wir plauderten nett miteinander als das Telefon plötzlich klingelte. Sie nahm den Hörer ab und ging damit ins Nachbarzimmer, wobei sie die Tür fest hinter sich schloss. Ich blieb auf dem Sofa sitzen und nahm mir eine Zeitschrift vom Schreibtisch. Die Zeitschrift war nicht besonders interessant - etwas aus der Reihe "Klatsch und Tratsch über Prominente und Co.". Nach 15 Minuten hatte ich schon genug davon und legte die Zeitschrift zur Seite. Andere hatte Marie nicht und deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als auf dem Sofa rumzusitzen und die Decke anzustarren. Nach einer Weile konnte ich auch diese Tätigkeit nicht mehr ertragen. Ich musste mich einfach mit irgendwas beschäftigen. Und da kam mir der Gedanke, der sicherlich jedem von uns mal durch den Kopf saust. Wie wär's denn, wenn ich jetzt versuche, ihr Gespräch mitzuhören? Eigentlich gehört sich so etwas nicht, aber wenn's keiner merkt? Seien wir mal ehrlich - es gibt nicht so viele Menschen auf dieser Welt, die einer solchen Versuchung widerstehen könnten. Und meine Wenigkeit gehört leider nicht dazu. Ich stand also von dem Sofa auf und schlich mich an die geschlossene Tür heran. Man konnte fast gar nichts hören, nur ein ganz leises Murmeln. Anscheinend hat Marie in Anbetracht meiner Anwesenheit in den Hörer geflüstert. Ich neigte mich dann zu dem Schlüsselloch und wurde ganz Ohr. Doch! Jetzt konnte man ihre Worte schon entziffern. Aber vielleicht wäre es besser, wenn ich auf dem Sofa liegen bliebe. Das, was zu meinen Ohr drang, war nicht gerade überraschend, nichtsdestotrotz erschütterte es mein ganzes Wesen. "Ja" sprach Marie hinter der Tür, "Ja ich verstehe das alles, aber wenigstens liebt er mich wirklich". Sprachen sie etwa über mich? "Ich weiß, er ist nicht gerade das, was ich mir gewünscht habe, aber…". "Ja, willst du denn nicht verstehen!? Wo soll ich denn jetzt einen anderen finden? Kannst du ihn mir vielleicht besorgen?". "Siehst du. Du kannst es auch nicht. Und der Kerl liebt mich ja noch von der Kindheit an, hat schon 20 Jahre überdauert. Ich glaube kaum, dass ich noch jemanden finde, der so stark in mich verliebt wäre".

Ja, wie es mir auch Leid tat, die Rede war über mich. "OK, Hauke, jetzt hör mal, ich kann jetzt nicht länger mit dir sprechen, er sitzt ja hier bei mir. Ich ruf dich dann später noch Mal an, dann können wir weiter darüber reden, OK? Na bis dann." Und sie legte auf. Ich flitzte blitzschnell von der Tür zurück zum Sofa, riss die Klatschzeitschrift vom Tisch und vertiefte mich hochinteressiert ins Lesen. Marie gleitete herein und entschuldigte sich für das lange Warten. Anscheinend hat sie nichts Verdächtiges bemerkt und zwitscherte ganz ungezwungen weiter.

An diesem Abend blieb ich zu ihrer Verwunderung nicht bei ihr. Ich dachte mir eine dringende Arbeit aus, die ich ganz vergessen hab und die bis morgen früh erledigt werden sollte. Ob sie mir das Märchen wirklich abgekauft hat, weiß ich nicht, aber sie ließ mich gehen.

Ich streifte ziellos durch die fast leeren Straßen unserer Stadt. Nach Hause konnte ich nicht, was gab es denn auch da? Mein Leben war gerade zum zweiten Mal von dieser Frau zertreten worden. Ich konnte mich noch genau an diese Nacht erinnern, an die grausame Nacht vor zwanzig Jahren, zwei Monaten und fünf Tagen - die Nacht unserer Abschlussfeier, als ich genauso hoffnungslos und tränenüberströmt durch die Straßen derselben Stadt ging und dachte, mein Leben wäre zu Ende. Jetzt hat Marie es noch Mal getan, und das wiederum ohne es zu wissen, ohne auch einen blassen Schimmer von ihrer Tat zu haben. Ich war aber nicht böse auf sie. Nein, schließlich konnte Marie ja nichts dafür. Das Schicksal hat es so gewollt, dass sie keinen Mann fürs Leben (oder ihre Vorstellung von ihm) getroffen hat, und nun musste sie sich daran festklammern, was von der zahlreichen Verehrerschar übrig geblieben ist. Sie wollte mir bestimmt nicht wehtun. Wie auch damals nicht. Vor zwanzig Jahren wusste Marie nicht einmal richtig, wer ich bin - ich war einfach noch einer ihrer schäbigen Mitschüler, der sich von der gesamten grauen Masse kaum unterschied.

Die Nacht war still und schön. Ich merkte erst jetzt, dass ich mich mittlerweile in einer Parkanlage verlaufen habe. Der Himmel stand schwarz über dem Kopf und die weiten Sterne ergossen ihr Licht auf sich leicht bewegende Baumzweige. Die Müdigkeit überkam mich langsam. Alles wurde irgendwie egal. Und dieses Mal gab es auch keine Eltern zu denen man nach Hause kommen musste. Ich legte mich auf eine entlegene Bank, knöpfte meine Jacke dicht zu und versank in einen tiefen Schlaf.

Am nächsten Morgen wachte ich schon sehr früh auf. Wahrscheinlich lag es daran, dass die hölzerne Bank zum Schlafen nicht besonders gut geeignet war. Jeder Knochen tat mir weh. Die Vögel zwitscherten schon in den Baumkronen und die Sonne ging langsam auf. Ein neuer Tag begann. Und mit diesem neuen Tag begann auch ein neuer Abschnitt in meinem Leben. Ich habe viel nachgedacht, Vieles gegeneinander abgewogen. Und endlich zu einem festen Entschluss gekommen. Ich habe schon seit mehr als zwanzig Jahren nach einem Ersatz für meine Marie gesucht und konnte bis jetzt nichts finden. Nun habe ich endlich das noch vor kurzem unvorstellbare Glück gefunden: Marie, das Mädchen, das ich im Laufe von all diesen Jahren mehr als alles auf der Welt begehrte, wegen dem ich so viele Nächte wach verbracht habe, Marie gehörte mir.

Es gab da zwar eine nicht unerhebliche Kleinigkeit. Sie liebte mich nicht. Aber was soll man denn machen? Es ist selten so, dass alles zusammenpasst. Man geht deshalb auch Kompromisse ein. Was konnte ich noch tun? Ich könnte natürlich ihr von dem abgehörten Gespräch erzählen, eine Szene machen und sie für ewig verlassen. Was hätte das jetzt gebracht? Ich würde die Frau meines Lebens verlieren. Ob ich eine andere finde, die genauso gut zu mir passt und die ich genauso über alles lieben werde, ist äußerst zweifelhaft. Schließlich habe ich das bis jetzt nicht geschafft, in all diesen Jahren. Es gäbe allerdings auch einen Vorteil - meine menschliche Würde wäre dann nicht angekratzt. Was nützt mir aber meine Würde, wenn ich für mein ganzes restliches Leben unglücklich werde und meine Tat ewig bedaure? Was ist mir denn mehr wert - meine Würde oder mein Glück?

Vielleicht hätte ein Anderer sich anders entschieden. Ich habe das Glück gewählt. Und wie so oft in diesem Leben musste die Würde erniedrigt das Schlachtfeld räumen. Ein halbes Jahr später haben wir mit Marie geheiratet.

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