© der Geschichte: Annika Senger. Nicht unerlaubt
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Der schwarze Hund

Manuela kauerte eingequetscht zwischen zwei breitschultrigen Kerlen auf einem Barhocker und nippte an ihrem wässerigen Orangensaft. "Wenn ich nachher nicht alleine nach Hause latschen müßte, würde ich mich jetzt so richtig besaufen", dachte sie, "Andy, du Scheißkerl!" Ihr verbitterter Blick rastete auf einem braungebrannten Mitzwanziger in verwaschener Jeans und weißem Unterhemd, das ihr freie Sicht auf seinen durchtrainierten Bodybuilder-Bizeps bot. Trotz der Enge seiner Hose ragte ein feiner, brauner Kamm aus einer der hinteren Taschen hervor. War er aus Gummi? Andys übernatürlich blau aufblitzende Augen rissen der langbeinigen Miss Unterrübenfeld ihr hautenges, rotes Minikleid vom Leib. Seit der Miss-Wahl auf der alljährlichen Dorfkirmes schien Andy Manuela nicht mehr zu kennen. "Es ist aus. Andy", stand in Andys dahingekritzelter Sauklaue auf einem fettfleckigen Notizzettel. Einen Tag nach der Kirmes hatte sie ihn in ihrem Briefkasten entdeckt. Das war vor genau einer Woche.

Hämmernd droschen die dröhnenden Bässe der Musik auf sie ein. Andy zog langsam und andächtig seinen Kamm durch sein zurückgegeltes, blondes Haar. In Manuelas Ohren bellte ein Hund. Zuerst kaum hörbar, aber dann von Minute zu Minute eindringlicher. In drohender Warnhaltung, wie von einer quietschenden Gartentür nach Mitternacht aus dem Schlaf gezerrt. Oder aufgeschreckt durch das Klirren einer Fensterscheibe… Andy legte einen Arm um die schlanke Taille der hochgewachsenen Schönheitskönigin, der man wegen ihrer langen, strohblonden Mähne den Spitznamen Rapunzel verpaßt hatte. Noch vor anderthalb Wochen hatte er Manuela im Arm gehalten. Wütend verfolgten ihre Augen, wie seine vollen Lippen sich schelmisch lächelnd bewegten, während seine unwiderstehlichen Sternaugen in Rapunzels Ausschnitt abtauchten. Verächtlich drehte ihm Manuela den Rücken zu. Bis zur Sechsten war sie mit Rapunzel in eine Klasse gegangen. Schon damals hatte Miss Unterrübenfeld krampfhaft versucht, Claudia Schiffer zu imitieren. "Noch immer die gleiche affige Ziege!" zischte Manuelas Enttäuschung. Der im Raum stehende Rauch von Zigaretten sammelte sich in einer blaugrauen Wolke über der Tanzfläche. Manuela versuchte sich in die Wogen der Musik zu stürzen, doch ihre Beine fühlten sich lahm an. Der Hund in ihrem Kopf wollte nicht schweigen! Sie spürte Augen auf sich lasten, Augen wie Rasierklingen, die ihr die Brust zerschnitten. Unergründlich schwarze Augen, vom anderen Ende der Tanzfläche lüstern zu ihr hinüberstarrend. Jürgen Schmidt, der im Dorf nur noch Pitbull genannt wurde. Diesem schmeerbäuchigen Koloss wurde nachgesagt, eine Sechzehnjährige brutal zusammengeschlagen und vergewaltigt zu haben. Man hatte es ihm nie nachweisen können, denn die Zunge des Mädchens war seit der Tat wie versteinert. Manuela hütete sich, nachts allein durch die unbeleuchteten Straßen von Unterrübenfeld zu gehen. Und in dieser Nacht? Würde ihr eine andere Wahl bleiben? Das Kläffen des Hundes verwandelte sich in ein wölfisches Heulen. Pitbull war nicht größer als 1, 70m, doch von kräftiger Statur. Für einen Mitteleuropäer hatte er außerordentlich dunkle Haut, die sich im Sommer wie braunes Leder färbte. Unter seiner schäbigen, schwarzen Lederjacke trug er nichts außer sein pelziges Brusthaar, das bis zu seinem hängenden Bierbauch hinabsproß. Eine Rolle von Fett quoll über den Gummizug seiner schmutzigvioletten Stoffhose. Mit seiner wurstigen Schlachterhand fuhr er durch sein schütteres Schwarzhaar. Wann hatte er es zum letzten Mal gewaschen? Speckig und splissig hing es ihm in schulterlangen Strähnen um sein knautschiges, breites Gesicht. Meistens tauchte er allein in "Günnies Disco" auf und durchbohrte das weibliche Geschlecht mit seinen stechenden Augen. Manuela wendete sich von seinem fressenden Blick ab. "Hoffentlich sucht der bald das Weite!" dachte sie beklommen. "Wenn ich jetzt gehe, wird er hinterherkommen. Und dann…? Lasse ich ihn vor mir abhauen, lauert er mir vielleicht in irgend einer dunklen Ecke auf."

Die Mark und Bein erschütternde Musik ertrank im Gebell des Hundes. Manuelas Kopf fühlte sich an wie dreimal durch den Fleischwolf gedreht. Pitbulls runde Konturen verschwammen vor ihren müden Augen. Taumelnd schleppte sie sich zurück an die Bar und sah, daß Andy und seine neue Flamme bereits gegangen waren. Enttäuscht seufzte sie und blinzelte auf ihre Armbanduhr. Zehn nach zwei Uhr morgens, über zwei Stunden hatte sie Andy beobachtet. War dieser Halodri das überhaupt wert? Schnellstmöglich versuchte sie, ihre Wut und Trauer in den hintersten Winkel ihres Gehirns zu verbannen. Ihr Blick schweifte hinüber zur Tür. Breitbeinig stampfte Pitbull nach draußen. "Bleib noch ein Viertelstündchen", riet ihr ihre Intuition, "nicht daß du ihm noch über den Weg rennst!"
Apathisch schlich die sechzehnjährige Melanie durch die Bildersammlung ihrer Erinnerung. "Bleib!" schrien die leblosen Augen des Mädchens.

Nach zwanzig Minuten tastete sich Manuela zaghaft zum Ausgang vor. Pitbull war wie vom Erdboden verschluckt. Aufheulende Mopeds spuckten Abgase aus vibrierenden Auspüffen und lösten sich hinter einer dicken Mauer aus Nachtschwarz auf. Hier und da standen schwatzende Grüppchen und engumschlungende Paare. Manuela erschrak. Ein riesiger schwarzer Hund versperrte ihr den Weg. Er hatte leuchtend gelbe Augen und kläffte sie aufgewühlt an. Niemand außer ihr schien ihn wahrzunehmen. Sie hatte ihn noch nie im Dorf gesehen! Geifernd fletschte er seine spitzen, gelben Zähne. "Dieses Monstrum gehört Pitbull! Er kann doch nur Pitbull gehören!" entrüstete sie sich stumm. "Die gleiche plattgedrückte Knautschfresse!" Sein Rücken reichte bis über Manuelas Taille hinweg. Panisch wich sie ihm aus, aber der Hund folgte ihr wie magnetisiert. Wie konnte es sein, daß seine gelben Augen ihren Weg erhellten wie Scheinwerfer? "Los, du Kalb, geh nach Hause!" stammelte Manuela ängstlich, doch er bellte nur, als wollte er sie vor irgend etwas warnen. Ein unsichtbares Band schien sie mit diesem Hund zu verbinden, ein Band, das sie beinahe beruhigte. Sein Stummelschwanz wippte beim Gehen. "Hast du kein Zuhause?" murmelte Manuela leise. "Was willst du von mir?"

Die Straßenlaternen waren schon seit Stunden erloschen. Manuela war ihm dankbar, daß seine Augen wie Glühbirnen strahlten. Wollte er sie beschützen? Vor was? Schreie durchbrachen ihre Gedanken, Schreie einer Frau, Schreie gespickt mit Todesangst. Sie kannte diese Stimme. Wie vertraut ihr dieser Klang war! Rechts von der Straße erstreckte sich eine Wiese, auf der linken Seite wucherten dicht an dicht stehende Sträucher. Kein Mensch würde sie dort hören! Der Hund begann zu knurren. Zirka zwanzig Meter entfernt erhaschten Manuelas Augen zwei Gestalten. Pitbull und eine Frau! Gewaltsam preßte er sie gegen das Brückengeländer. "Noch ein Schrei, und ich mach' dich kalt, du Schlampe!" fauchte er sein erstarrtes Opfer an. Mit der rechten Hand hielt er ein Messer an ihre Kehle und grabschte mit der linken unter ihren Rock. Ihre weiße Bluse war zerrissen. Manuela sah sich in ihr wie in einem Spiegel. Sie hatte die gleichen braunen Korkenzieherlocken, den gleichen schwarzen Minirock. Ihr rotes Jeansjäckchen baumelte im Gebüsch am Ufer des Baches. Es war ihre eigene Stimme gewesen, die sie schreien gehört hatte! Oder irrte sie sich? Verdeckte die Dunkelheit das wahre Aussehen des Mädchens? Der Hund verfiel in ein furchterregendes Drohgebell, aber Pitbull ließ nicht ab von Manuelas Ebenbild. "Laß sie los, du Schwein!" schoß es gleichzeitig aus Manuela heraus. Mit Fäusten schlug sie auf Pitbull ein und boxte ins Leere. Das Bild verflüchtigte sich vor ihren Augen wie eine Fata Morgana. Wie von der Erscheinung gehetzt begann sie zu rennen. Der Hund wetzte ihr laut kläffend bis zur Haustür nach. Ihre Eltern schliefen schon. Zitternd und nach Luft schnappend suchte sie in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel. "Warte hier, du hast dir eine Belohnung verdient", sagte sie zu dem schwarzen Hund, doch als sie sich umdrehte, war er spurlos verschwunden. Ohne das leiseste Geräusch. Verwirrt starrte sie auf die düstere, leere Straße, aber innerlich bedankte sie sich bei ihm. Obwohl sie ihn nie wiedersah, bellte er manchmal noch immer in ihrem Kopf.

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