© der Geschichte: Tobias Schuhmacher. Nicht unerlaubt
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Die Hirtin


"Kind, jetzt wo dein Vater und dein Mann nicht mehr hier sind, musst du die Schafe hüten...", hatte Mutter damals zu ihr gesagt, als Vater und mein geliebter Ehegatte in den Krieg fortzogen, um unser Land und ihre Familien vor den einfallenden barbarischen Horden zu beschützen. Schon damals war es ein Gräuel für sie, diese Aufgabe zu verrichten und dabei immer wieder daran erinnert zu werden, dass ihre Liebsten fort waren, fort in dieser erbarmungslosen Hölle von Krieg.
Die Tage verstrichen, und sie gewöhnte sich bald an den beständigen Anblick der Schafe, den sie beinahe schon als tröstlich für den wahrscheinlichen Verlust großer Liebe empfand. Denn nichts hatte man mehr von ihren Liebsten gehört, weder Vater noch ihr Gatte hatten sich gemeldet, obwohl der Krieg bereits lange vorbei war.
Hoffnung - sie erstarb zerrann durch ihre Finger wie feiner Sand. Und wenn sie draußen auf der Weide war, im Tal zwischen den Bergen in der Nähe des Sees, der den großen Fluss in sich aufnahm, wo auch der Wald endete, über den sich die seltsamsten Sagen und Legenden rankten - dort verweilte sie Tag um Tag mit zauberhaften Blick auf den See. Dort waren die Schafe zufrieden - dort war sie zufrieden.
Jenseits der Dämmerung war sie nur mit den Schafen zusammen. Vom beschwerlichen Marsch vom Dorf an, in dessen Nähe es keinerlei große Weiden gab, sondern nur dichte, finstre Wälder, über den kleinen Pfad hinauf, vorbei an noch mehr Wäldern, noch mehr Finsternis, von derer man sich noch seltsamere Sagen und Legenden erzählte, bis hin zum Plateau, wo der Funke der Hoffnung das Leben wieder lebenswert erscheinen ließ. An diesem Orte galten andere Gesetze, keinerlei Krieg, keine Könige, die befahlen für sie zu sterben, keine Trauer, Wut, Hoffnungslosigkeit. Dort schien alles einen anderen Weg zu gehen. Die Wälder waren anders, die Wiesen, die Berge, ja sogar das Wasser war anders im großen Fluss, der die Berge hinabfloss und den vergangenen, geschmolzenen Schnee mit ins Tal brachte, um ihn dem See zuzuführen und seine glänzende, beruhigende Pracht dem menschlichen gegenüber aufrechtzuerhalten.
Sie liebte diesen kleinen, und so wunderbaren Fleck Erde, der ihr mehr Zuversicht und Hoffnung gab, als jeder Mensch oder jeder Inhalt ihres Dorfes. Und durch die Schafe wurde sie auch dann, wenn sie das Dorf nicht verlassen konnte, etwa wenn der Winter regierte, oder wenn es um ihre Gesundheit nicht gut bestellt war, an diesen Ort ihrer ganz persönlichen, berauschenden Hoffnung und Zuversicht erinnert.

Und es war jener Sommertag in der Mitte des Jahres, der ihr Leben veränderte. Jener Sommertag, als sie morgens, noch während der Dämmerung, mit den Schafen aus dem Dorf auszog, um ihre wahre Heimat möglichst früh zu erreichen, und sie in strahlenster Pracht bewundern zu können.
Mutter, die schon in aller Frühe auf den Beinen war, gab ihr einen Sack voller Brot und Wurst mit, und hing ihr einen großen Holzkrug gefüllt mit Wasser, um, damit sie am Tage weder Hunger noch Durst erleiden musste. So zog sie denn auch alsbald dem Sonnenaufgang entgegen. Die Schafe trieb sie mit ihrem Hirtenstab voran, den kleinen Weg hinauf, zwischen den Wäldern vorbei, hinauf zur kleinen Anhöhe.
Dort hielt sie kurz inne, und sah sich das Dorf im gleißenden Sonnenlicht an. "Hort meiner Trauer", flüsterte sie, machte kehrt und trieb die kleine Herde den letzten Stück des Weges entlang, der schon bald in einen kleinen Pfad mündete, der sie zwischen mächtigen, alten Bäumen und mannshohen Gebüschen vorbeiführte, bis zu einer kleinen Lichtung, an der sie jeden Morgen eine Pause machte, um sich zu stärken und den Schafen einen Moment Ruhe zu gönnen. Sie beobachtete in einem Moment völliger Sorglosigkeit, wie sich ein Reh den Weg durch die Nahen Büsche bahnte, und wie die Sonne immer weiter das Himmelszelt emporkroch.
Doch vom einen in den anderen Augenblick stürzte die Trauer und die Hoffnungslosigkeit wieder auf sie ein. Was bedeutet mein Leben ohne meine Liebsten noch? Sie spürte, wie der seelische Schmerz in ihr brodelte, wie ihr Herz schneller schlug, wie sie zu weinen begann.
Mit einem Mal schüttelte sie ihre Trauer ab, packte ihre Sachen, nahm den Stab zu Hand und trieb die Tiere wieder an, ihren Weg fortzusetzen, den sie eingeschlagen hatten. So liefen sie noch einige Zeit den schmalen, kaum passierbaren Pfad entlang, inmitten all den Bäumen und dem bedrohlich wirkenden Geäst, in dessen sicherer Dunkelheit so manches Tier die Herde und ihre Hirtin beobachtete.
Nach einiger Zeit erreichten sie die Lichtung, die den Eingang zum Plateau kennzeichnete. Sie kannte sie nur zu gut, Tag für Tag war sie dort ein- und ausgekehrt. Die Lichtung markierte das Ende des Waldes, den sie nun schnellen Schrittes verließ, weil die Herde danach drängte ihre wohlbekannte zweite Heimat zu erreichen, um sich den Bauch voll zu fressen und auszuruhen, auf dass sie fett und saftig wurden.
Während die Tiere nach unten eilten und sich auf der relativ kleinen, aber wunderschönen Ebene im saftigen, grünen Gras verteilten, blieb die Hirtin an der Lichtung des auslaufenden Waldes stehen und ließ ihren Blick über das Tal schweifen.
Gegenüber war der verwunschene Wald voller uralter, riesiger Bäume, um den sich Sagen, Legenden und gar Märchen rankten, die voll von Kobolden, Zwergen und Elfen waren, voll von weisen Königen, wunderschönen Prinzessinnen und heldenhaften Rittern, voll von bösen Stiefmüttern, eifersüchtigen Schwester und teuflischen Räuber. Sie alle existierten hier - und in den Köpfen der Menschen. Als Kind hatte ihre Mutter oft Geschichten von hier erzählt. Eine war ihr besonders in Erinnerung geblieben.
"Dort oben", hatte sie immer gesagt, und wies von ihrer Hütte aus in Richtung der Berge, wo das Plateau im verborgenen lag. "gab es einmal ein Königreich, das von einem weisen, gütigen König regiert wurde, und der hatte zwei Töchter. Die jüngere wurde nicht nur vom Volk geliebt, sondern auch von allen Kobolden, Zwergen und Elfen, deren Sprachen sie auch beherrschte. Die ältere wurde nicht nur vom Volk verabscheut, sondern auch von allen Kobolden, Zwergen und Elfen, da sie diese für niedere Kreaturen hielt, und auch ihre Sprache nicht lernen wollte. Eines Tages fragte der König das Volk, welches seiner beiden Kinder nach seinem Tod ihre Königin werden sollte. Und das Volk sagte, dass sie die jüngere als ihre Herrscherin wollten.
Und da er ein guter König war, der sein Volk liebte, fasste er sich ein Herz und erklärte, dass seine jüngste Tochter den Thron erben werde.
Das aber gefiel der älteren Tochter ganz und gar nicht, und als dann der Vater starb, und die jüngste Tochter zur Königin gekrönt werden sollte, wandte sich die ältere an ein paar furchtlose Banditen und Räuber, die ihre Schwester entführen und töten sollten, auf dass sie zur rechtmäßigen Königen des Reiches würde.
Die Räuber taten, wie ihnen befohlen, nachdem sie einen Sack Gold erhalten hatten, und verschleppten das arme Mädchen, um es im Nahen See zu ertränken.
Doch Kobolde, Zwerge und Elfen hörten die Schreie des Mädchens, und sie kamen zu Scharen, überwältigten und ertränkten die Räuber erbärmlich im See. Das Mädchen kehrte sodann zum Schloss zurück, und ließ ihre ältere Schwester in den Kerker sperren, wo sie auch heute noch immer voller Hass auf ihre Schwester ist, und nach dem Thron verlangend durch die kargen Mauern schreit...." Mutter hatte diese Geschichte früher immer so wunderbar erzählt, dass sie immer wieder davon hören wollte.
Sie hatte diese Geschichten von dem sagenumwobenen Königreich zwischen den Bergen geliebt - bis Vater sie eines Tages mit den Schafen mit hierher nahm, wo sie jetzt stand. Damals empfand sie große Enttäuschung darüber, dass Königreich, Prinzessin und all die Kobolde, Zwergen und Elfen nur Gestalten in der Phantasie der Menschen waren, doch jetzt begriff sie, wie schön diese Phantasie doch war. Trotzdem hatte sie die Geschichte seit jenem Tage nie wieder von ihrer Mutter gehört.
Noch viele andere, wirklich tolle Märchen und Sagen rankten sich um diesen verwunschenen Ort, der hier in der Gegend beinahe berüchtigt war, und, da war sie sich sicher, wenn er nicht so beschwerlich zu erreichen wäre, würden viel mehr Menschen ihre Zeit hier verbringen. Ja, sie wunderte es gar, warum noch niemand auf die Idee gekommen war, sich hier anzusiedeln.
Langsam, den Blick immer umherschweifend, bewegte sie sich durch das große Stück Weideland, das zwischen den Wäldern, Bergen und dem See anmutete wie ein kleine Paradies, ein Stück sorgenfreie Erde in dieser schrecklichen Welt, die einem alles, was man liebte, wie das Herz aus der Brust eines Menschen einfach herausriss.
Ein leichtes Lüftchen ließ ihren Umhang im Wind flattern, auch ihr helles Haar wurde verweht.
So lief die Hirtin zu ihrer angestammten Stelle neben dem alten, großen Baum, der inmitten der Ebene wie eine rettende Insel, oder ein einsamer Stern in des Himmels tiefer Nacht wirkte, und ließ sich dort, nachdem sie ihr Gewand auf dem Boden ausbreitete, nieder, um den herrlichen Tag im Anblick Sees zu genießen, ohne an den Schrecken ihres Lebens zu denken.
Und als sie so in der Sonne lag, wurden die Schafe unruhig, und wenn die Schafe unruhig wurden, war mit schlechtem Wetter zu rechnen. Doch die Hirtin interessierte das nicht mehr, sie schlummerte friedlich in der noch am Himmel hängenden Sonne, vor die sich alsbald die ersten Wolken schoben, und den Tag frühzeitig finster werden ließen.

Die Hirtin erwachte durch die wie wild blökenden Schafe, und nahm sogleich einen heftigen Blitz war, der im nahen Wald einschlug. Sie fuhr zusammen, und erschrak fürchterlich.
Der Himmel schien wütend zu sein, so düster war er auf einmal. Die Wolken fraßen das herrlich-friedliche Sonnenlicht wie gefräßige Geier einen leblosen Kadaver in der Wüste. Düsternis ließ das märchenhafte Tal zu einem Ort voller Schrecken werden. Wieder kamen Blitze hervor und beleckten die Erde in harten Einschlägen - und dann kam der Regen. Wie ein gewaltiger, einziger Teppich aus unzähligen Wassertropfen ergossen sich die Tränen des Herrgott auf die Erde nieder. Die Schafe blökten immer noch wie wild, und machten Anstalten auszubüchsen, während die Hirtin das Gewand umwarf, die Kapuze auf den Kopf schlug und verzweifelt versuchte, die Herde beisammen zu halten.
Herr, warum prüfst du mich nur immer wieder so hart? Tausende Gedanken auf einmal schossen ihr durch den Kopf, während sie ihren Hirtenstab beiseite warf und durch den dichten Regen zum nahen Pfad im Wald eilte. Doch diese Gedanken kosteten ihre Aufmerksamkeit, und während sie den Pfad hinuntereilte bemerkte sie nicht, wie sie die falsche Abzweigung nahm.
Der Regen wurde noch stärker, es war als sei ein mächtiger Damm irgendwo über den Wolken gebrochen, dessen Wassermassen sich nun über die Menschen ergossen.
Auf einmal endete der Pfad, sie blieb stehen, hatte keine Schafe mehr bei sich und war nun völlig verzweifelt. So kniete sie nieder und betete verzweifelt ihren Herrn Jesus Christus um Hilfe und Weisung an.
Hilf mir durch diese so dunkle Nacht, und leite mich bei meiner Suche...
Da erfasste sie neuen Mut und kämpfte sich ihren Weg durch die finstren, regengetränkten Wälder zurück zu der Abzweigung.
Keines der Schafe war ihr begegnet, und auch hatte keines hier auf sie gewartet, so musste sie die armen Tiere dieser so schicksalhaften Nacht überlassen.
Voller Kampfkraft rannte sie durch den inzwischen schon schlammigen Boden, kam allerdings nur mühsam voran und blieb schließlich stecken und stürzte.
Es ist, als sei dies eine neue Sintflut... Diese Kriege und den tiefen Hass der Menschen aufeinander duldet der Herr sicher nicht mehr, er wird seine Welt jetzt wieder von all dem Abschaum befreien, der sich inzwischen angesammelt hat. Vielleicht bin ich dann bald wieder bei meinem Mann...
Nun lag sie dort im Schlamm, ohne jegliche Kraft mehr im Körper, während die Regentropfen erbarmungslos auf sie einprasselten, von Erinnerungen geplagt, an ihre Kindheit, ihre Jugend und die Zeit mit ihrem Liebsten, doch nun war alles zerstört, nichts war mehr so, wie es einmal war. Eine Suche bestimmte nun ihr Leben, eine Suche nach dem Sinn und Zweck ihres Daseins - eine Suche...
Da traten zwei Stiefel an sie heran, und sie gehörten zu einem Mann, der in der linken Hand eine Fackel hielt, die allem Regen zu trotzen schien, und die rechte nach ihr ausstreckte.
"Ergreif meine Hand!" befahl er fast schreiend, um gegen den Regen ankommen zu können. Seine Stimme klang unangenehm rau und angenehm verführerisch zugleich. Sie warf beide Hände dem ausgestreckten Arm entgegen, und ließ sich hochziehen. Wieder auf den Beinen, sah sie ihm ins Gesicht - in die tiefen, unergründlichen Augen - und sie begriff, was sie gesucht hatte.
"Komm mit mir!" sagte er sanft, und spendete ihr ein warmes, inniges Lächeln, das ihrem Herzen zu waren Sprüngen verhalf, und sie glaubte einen Engel vor sich zu sehen.
Da tauchten auf einmal ihre Kräfte wieder auf, ganz plötzlich, als habe man ein Loch gestopft, aus dem sie kurz zuvor noch entwichen waren. Sie spürte die Wärme in ihrer Seele, die sich noch Sekunden vorher in tiefer Verzweiflung und schierer Hoffnungslosigkeit, in Wut, Trauer und Selbstmitleid einfach aufgegeben hatte und den Tod einziehen lassen wollte. Und da lächelte sie zurück und ihre Augen verfingen sich in tieferen Blicken und ein unstillbares Verlangen entbrannte; entfachte sich wie ein heißes, unbezwingbares, ewiges Feuer, das die Herzen beider mit viel Liebe und Sehnsucht erfüllte.
Und meine Suche endet hier...
Dort standen sie nun, im Regen, der allmählich an Kraft verlor, als habe sich der See, für dessen Einhalt der himmlische Damm zuständig war, jetzt endlich gelehrt.
Die Sintflut kam nicht, und die Menschen blieben auf Erden, ebenso wie Krieg, Hass und Zerstörung, aber auch wie Liebe, Vertrauen und Gemeinschaft.
Die Hirtin kehrte, gemeinsam mit ihrem Retter, in ihr Dorf zurück, wo die Schafe, die den Weg nach Hause gekannt und gefunden hatten, schon auf sie warteten, ebenso wie ihre Mutter und die anderen Menschen im Dorf, die sich schreckliche Sorgen machten, als die Schafe ohne ihre Hirtin zurückgekehrt waren.

Ich bin am Ende meiner Suche angelangt, die ich unbewusst zu dem Zeitpunkt begonnen hatte, als mein Vater und mein geliebter Gatte in den Krieg gezogen waren und nicht mehr wiederkehrten.
Nun habe ich das Leben und die Liebe von neuem entdeckt, und doch weiß ich sicherlich, dass dies nicht meine letzte Suche war. Ich bin ein Mensch, und als Mensch bin ich immer auf der Suche nach irgendetwas oder irgendjemand.
Aber ich habe die Liebe wiedergefunden, und sie wird mein weiteres Leben wieder mitbestimmen, und auch meine weiteren Suchen geleiten, wie auch mein Herrgott mich immer geleiten wird durch diese Queste namens Leben...


Lohra, den 09.07.2000

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