© der Geschichte: Michael Eichhammer. Nicht unerlaubt
vervielfältigen oder anderswo veröffentlichen. Alle Rechte
dieses Werkes liegen bei dem Autor. Diesen Disclaimer bitte
nicht entfernen


Eine himmlische Nacht

Ein graues Gespenst mit schwarzen Schatten unter den Augen erschrickt vor dem eigenen Anblick im Spiegel. Es fällt mir heute besonders schwer, mich daran zu gewöhnen, daß ich dieses unrasierte Gespenst bin. Daß es mein rechtes Augenlid ist, das wie eine trotzige Jalousie halb geschlossen bleibt - einzige sichtbare Rebellion derjenigen Hälfte von mir, die jetzt ganz und gar nicht hinaus in diese Welt will.

Ich würde jetzt gerne aus der Haut fahren, fahre aber in die Stadt. Draußen weht ein anderer Wind als am Wochenende. Ein kälterer Wind. Der Himmel ist grau wie mein Gespenstergesicht. Der Schnee hat die ganze Stadt in eine Schwarzweißfilm-Kulisse verwandelt. Dem Gras wachsen weisse Haare, es ist alt wie das Jahr.

In der S-Bahn stehen andere Gespenster: Eine dünne Frau in einem Kleid, das so geschmacklos ist, wie das Mensa- Essen. Sie strahlt Jungfräulichkeit aus. Ihre Haare hat wohl der Wind so streng nach hinten gekämmt, als sie vergeblich versuchte, vor sich selbst wegzulaufen. Der schmale Mund wirkt wie ein geschmolzener Gedankenstrich.
Ein dicker Schnauzbärtiger, dessen gesamte Physiognomie eine einzige, eingefrorene Demutsgeste ist. Sein Rücken verbeugt sich, sein Hals geht in Deckung und seine Augen verstecken sich hinter den dicken Brillengläsern. Auf seinem Mund ein mißglücktes, gekünsteltes Lächeln, das mehr wie ein Nervenleiden wirkt und letztendlich eine deprimierendere Wirkung hat, als die von der Last des Alltags heruntergezogenen Mundwinkel der Jungfrau.
Dann eine ältere Frau, deren frühere Schönheit noch erahnbar ist. Mit der Würde einer Filmdiva sitzt sie hier. Zu ihr ist das Leben wie ein Regisseur, der der Eitelkeit seiner alternden Muse in ihrem letzten Film mit Weich zeichner schmeicheln will.

Es gibt hier Momente. Aber keine Augenblicke. Vielleicht sind die anderen Gespenster beim Blick in den Spiegel schon genug erschrocken ... Stattdessen schauen sie auf ihre Füße, die Zeitungsüberschrift am Boden oder aus dem Fenster. Und mittendrin ich, der einzige im Zug, der, neben dem Germanistik-Studium auch die (Gesichts-)Züge der anderen studiert. Ich lege neue Batterien in meinen Walkman ein, wie einer, der sein Gewehr lädt. Eine Waffe gegen die leeren Worte, die überall um mich herum in der Luft hängen wie eingefrorene Sprechblasen.

Über der Frau mit der jungfräulichen Aura und dem neidgelben Kleid hängt die in Glas gerahmte Behauptung "Ohne Gott ist alles sinnlos." Gibt es einen Gott? - Wenn ja, dann sind wir alle schlechtbezahlte Statisten in seiner mit schwarzem Humor inszenierten, absurden göttlichen Tragikomödie, deren Pointen zu plakativ und deren Handlung zu unglaubwürdig ist. Es ist Freitag. Das bedeutet : Mit der U- Bahn in die Eingeweide der Stadt, eine Rolltreppe hochgeschoben werden (und dabei nicht "Muh!" rufen) und in der Uni meine Parodie eines braven Studenten geben.
Es sind nur zwei Buchstaben, die Freitag und Freitod trennen. Sicher, es gibt schlimmeres- mir fällt bloß gerade nicht ein, was. Ich frage mich, ob das das richtige Studium für mich ist. Ich bin mir ja nicht mal sicher, ob das der richtige Planet für mich ist.
Die Zeit vergeht in kleinen Tropfen. Mein Kopf wird immer schwerer, die Tischplatte biegt immer tiefer durch, bricht schließlich. Ich falle durch den Tisch, durch das Gebäude, bohre mich durch den Erdball und fliege auf der anderen Seite hinaus in das große Blau der Phantasie. Erst als das Seminar zu Ende ist, falle ich aus allen Wolken. Studenten - Prostituierte auf dem Gedankenstrich...

Und dann -zwischen Germknödeln und Fertigpizzen, zwischen Vanille-Eis und gefrorenen Himbeeren- sehe ich sie: Supergirl im Supermarkt. Was für ein Lebensmittel! Aus tiefgekühlt wird tiefgefühlt. Ich muß sie kennenlernen, soviel steht fest. Ich dagegen stehe daneben (wie so oft), auf wackligen Beinen und ertappe mich dabei, daß ich sie unentwegt anstarre. Aber ich habe Verständnis für mein Benehmen- sie ist ein Gesamtkunstwerk. Ihr Körper ist ein Gemälde, ihre Bewegungen Musik und ihr Gesicht ein Gedicht. Ich dagegen bin in ihrer Gegenwart Strichmännchen, Geräusch und schlechter Scherz.

Ich zucke innerlich zusammen, als ihr Blick mich trifft und verstecke mich hinter meiner Nase. Ich erspare ihr den Spruch ´Was macht eine Frau wie du neben einem Tiefkühlgericht wie diesem?´ und entscheide mich dafür, ihr einfach die Wahrheit in ihr hübsches Gesicht zu sagen: "Ich hoffe, du denkst jetzt nicht von mir, daß ich jeden Tag im Supermarkt stehe und Frauen anspreche..." Und nach einer ebenso ungewollten wie dramaturgisch gut placierten Pause: "aber als ich dich gesehen habe, wußte ich, daß ich es mir wohl ziemlich lange nicht verzeihen könnte, wenn ich nicht wenigstens versucht hätte, dich näher kennenzulernen." Sie sieht mich an. Ich versuche erfolglos, in ihrem Blick zu lesen und bin noch mehr verlegen als meine Haare. Die ganze Welt hält mit mir zusammen die Luft an, bis ihr neutraler Gesichtsausdruck sich endlich in ein Lächeln verwandelt. Ein so warmes Lächeln, daß sich daran alle Eisbären des Nordpols einen ganzen Winter lang wärmen könnten.

Ein paar Minuten später sitze ich Angela in einem Cafe gegenüber. Sie erzählt mir, daß sie neu in der Stadt ist. Sie kommt aus Tschechien. Sie nicht aus wie eine Tschechin. Sie sieht überhaupt nicht aus, wie von dieser Welt. Eher wie ein Engel. Es macht Spaß, Angela zuzuhören, insbesondere, wenn sie den Buchstaben "n" spricht. Dann spitzt ihre Engelszunge verheißungsvoll aus dem leicht geöffneten Mund hervor. Von diesem Mund gesprochen, hätte selbst das vehementeste "Nein!" noch etwas reizvolles.
Sie erzählt, daß sie gerade ihre Diplomarbeit abgeschlossen hat.
"Um was ging´s denn?", frage ich.
"Bitte - ich mußte schon den ganzen gestrigen Tag davon erzählen."
"Okay, sag mir nur kurz das Thema und danach reden wir über was anderes."

Sie nickt.
"Sex".
"Oh, erzähl mehr davon!", bitte ich.
"Spermienübertragung bei Würmern."
"Aha...Und, gibt es Liebe zwischen den Würmern?", frage ich.
"Die Frage ist doch: Gibt es Liebe zwischen den Menschen."
"Wieso? Das ist doch längst bewiesen: Nein."
"Zwischen den Tieren auch nicht.", meint Angela.
Und ich: "Doch - zwischen Schwänen."
Sie schüttelt mitleidig den Kopf, als würde sie einem kleinen Kind erklären, daß es den Weihnachtsmann nicht gibt.
Blicke auszutauschen ist die sanfteste Art der Berührung - und wir machen reichlich Gebrauch von dieser Erkenntnis. Sie läßt mich an ihrer Zigarette ziehen- praktisch unser erster Kuß. Angela, dieser Fremdkörper in meiner Seele, scheint so seltsam vertraut.

Als ich ihr vorschlage, den nächsten Abend zusammen zu verbringen, wächst eine Traurigkeit in ihrem Gesicht. Nur ihre Augen strahlen noch dieselbe Fröhlichkeit aus, die zuvor meine Seele gekitzelt hat. Ihre bedingunslos blauen Augen - Oasen in der Wüste ihres plötzlich so bedrückten Gesichts.
"Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll...", beginnt sie und in meinem Kopf bastele ich ihren Satz schon mit Versatzstücken wie "aber mein Freund" und "Ich finde dich wirklich nett, aber..." weiter.
"Du wirst es nicht verstehen...Du kannst es nicht verstehen." Angela sucht nach Worten - ihrem Blick nach zu urteilen, im Kaffee. Plötzlich richtet sie den Oberkörper auf, streichelt mich mit einem Blick und meint: "Also gut: Wenn du versprichst, daß du nicht weiterfragen wirst, erkläre ich es dir."
Ich nicke und sie meint: "Wir haben nicht viel Zeit miteinander. Selbst wenn ich wollte - ich kann nur 2 Tage bei dir bleiben."
Ich begreife nicht, will nachfragen und bleibe stumm. Vielleicht, weil ich es versprochen habe. Vielleicht, weil ihre Augen alle Fragen dieser Welt unwichtig machen. In diesem Blau spiegelt sich ein Ja und ein Jetzt.

Den Rest des Tages verbringe ich damit, in der Bibliothek alles über Tschechien zu lesen und mich zu wundern. Zum Beispiel darüber, daß Angela mir so vertraut erscheint. Und darüber, warum ich trotzdem Angst habe.

Wir machen einen Spaziergang im Park. Der Himmel sieht aus wie gemalt. Die Stadt trägt ein Brautkleid in klassischem Weiß. Unsere Hände finden sich, als gehörten sie zusammen. Der Wind ist der dritte im Bunde, er streichelt unsere Wangen. Plötzlich beginnt Angela zu laufen. Obwohl wir nur einige Meter getrennt sind, spüre ich das erste Mal, wie es ohne sie sein wird und mir wird kalt. Ich erinnere mich an ihre mysteriöse Andeutung im Cafe und die Zeit mit ihr wird mir noch kostbarer.
Sie steht mit dem Rücken zu mir und lacht. "Warum lachst..." Bevor ich den Satz vollenden kann, bekomme ich einen Schneeball auf die rechte Schulter geworfen. Ich laufe ihr in gespieltem Ärger hinterher, packe sie zärtlichgrob und lasse mich mit ihr in den Schnee fallen. Die Kälte ist ein Kuppler, sie bringt uns näher. Angelas Küsse schmecken nach Himbeeren.
"Du bist bezaubernd.", flüstere ich ihr ins Ohr. Sie schweigt und blickt bedrückt in den Himmel. "Was?", frage ich.
"Ich habe Angst, daß ich nicht gut für dich bin."
"Machst du Witze? Du bist das beste, was mir passieren konnte."
Sie lächelt ein wenig gequält. Ihre Augen glitzern wie entfernte Sterne. "Ich habe das Gefühl, daß heutzutage bei den meisten Menschen Gähnen der einzige Grund dafür ist, daß sie Tränen in den Augen haben.", meint sie leise, als wäre es Selbstgespräch und dann, noch leiser: "Meine sind echt, vergiß das niemals."

Als wir bei mir sind, ist das Thema vergessen. "Ich hoffe, du denkst jetzt nicht, daß ich jeden Tag im Supermarkt stehe und mich von Männern abschleppen lasse...", meint Angela schelmisch. Und dann verändert sch ihr Tonfall, wird ernster: "Aber du glaubst mir sicher nicht, daß ich noch nie mit einem Mann geschlafen habe." Sie dreht mir den nackten Rücken zu und flüstert: "Es ist trotzdem wahr." Ich bemerke zwei lange Narben auf ihrem Rücken. Dieser einzige Makel am ansonsten perfekten Körper macht sie noch liebenswerter. Wir schlafen miteinander...Wobei "miteinander schlafen" ein ziemlich unzutreffender Ausdruck für so ein aufregendes Erlebnis ist - wir machen in dieser Nacht alles andere als "schlafen". Die gemeinsame Zeit ist zu kostbar, um zu schlafen. Kostbar wie das Glitzern in Angelas Augen und die Kette aus Schweißperlen, die uns verbindet. Umso näher ich ihr komme, umso mehr wünsche ich mir, ich könnte für immer ein Teil von ihr sein.

Meine Finger schlagen Salti in Angelas blonden Haaren. Meine Lippen formen den Satz "Ich liebe dich" als ich sie anschaue, so leise, daß es nur mein Verstand hören kann. Plötzlich wächst wieder die Traurigkeit in Angelas Gesicht: "Ich mag Großstädte nicht...Hier wachsen keine Blumen mehr und nicht einmal die Kinder lachen. Ich fühle mich gefangen." "Wir beide gehören nicht in diese Welt... Wir haben was besseres verdient." Angela dreht sich auf den Bauch, versteckt den Kopf unter den verschränk ten Armen und weint. "Du weißt ja gar nicht, wie recht du hast." , meint sie mit zitternder Stimme, mehr erahnbar als hörbar.
Ich versuche, sie mit einem Scherz auf andere Gedanken zu bringen. Doch je mehr Zeit vergeht, desto öfter denke ich an ihre Worte im Cafe. Ihre Prophezeiung hängt hartnäckig über uns im Raum und schnürt meinen aufmunternden Bemerkungen immer öfter die Kehle zu. Nach einer Weile gewinnt das Schweigen. Mein Kopf auf ihrer Brust - ein Schiff auf den Wellen ihres Atems. Wessen Herz morst lauter SOS? Wer von uns schaukelt den anderen in den Schlaf?

Als ich aufwache, ist sie weg. Nur der leise Duft ihres Parfums garantiert mir, daß sie nicht nur eine Traumfrau war. Als ich vor dem Supermarkt stehe, sehe ich plötzlich Angelas Geheimnis schwarz auf weiß vor meinen Augen: Vor dem Eingang stehen zwei Lastwagen und deshalb steht da statt "TENGELMANN" "ENGEL". Ich frage mich, warum ich nicht von Anfang an dahinter gekommen bin - habe ich nicht im Supermarkt, einen Atemzug lang, ihre Flügel gesehen? Oder war das nur in meinem Kopf?
Daher also die Narben auf ihrem Rücken. Daher also diese himmlische Nacht.

Am nächsten Abend stehe ich auf dem Balkon. Ich lehne mich über die Brüstung - ganz schön tief nach unten... Wenn man lange genug in den Himmel sieht, kann man sich einbilden, daß man selbst in Wirklichkeit in der Luft schwebt und die Sterne und die Dunkelheit unten sind. Ja, die Sterne sind die Lichter von kleinen Booten und der Himmel ist ein Ozean. Meine Zukunft steht in den Sternen.

zurück