© der Geschichte: Martin David Zimmermann. Nicht unerlaubt
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Heimkehr

Zehn Jahre waren seit der Tat vergangen, als ich in meine Heimatstadt zurückkehrte. Zehn Jahre in denen ich, wie ein Fuchs auf der Flucht, ohne Rast und Ruhe durch die halbe Welt geflohen war. Zehn Jahre gepeinigt von Gewissensbissen und Mißtrauen. Nirgendwo hatte ich mich sicher gefühlt, ständig witterte ich einen Verfolger hinter jeder Ecke, hinter jeder Türe, hinter jedem Baum. Blutverschmierte Leichen ließen mich fast jede Nacht aus dem Schlaf schrecken, sie verfolgten mich in meinen Träumen, sie riefen meinen Namen, meinen wirklichen Namen, nicht meine Pseudonyme, die ich ständig wechselte, aus Angst jemand könne mich erkennen.

Die Heimatlosigkeit, das Gefühl für immer verbannt zu sein, war schrecklich gewesen. Was war aus meiner Familie geworden, aus meiner Freundin, aus meinem Bekanntenkreis? Nun hatte mich das Heimweh gepackt. Das Heimweh nach jener Stadt in der ich aufgewachsen und zur Schule gegangen war. In der mich meine Eltern für eine Karriere als Herr Doktor vorgesehen hatten. Jener Stadt in der ich als zufriedener, ehrbarer Bürger gelebt hatte und wohl auch weiter gelebt hätte, wenn jene unglückliche Sommernacht nicht gewesen wäre. Jene unglückliche Sommernacht, die alle meine Pläne und die meiner Eltern jäh über den Haufen warf.

Ich konnte mich an die Vorgänge jener Nacht nicht mehr so genau erinnern. Ich wußte, daß ich mich besoffen hatte, wie es unter jungen Männern zuweilen vorkommt. Dann muß es zu einer Schlägerei gekommen sein, jedenfalls erwachte ich mit einem Messer in der Hand neben einer Leiche.

Ich kannte diesen Menschen nicht und ich konnte mich nicht erinnern, ihm jemals begegnet zu sein, doch meine Kleidung war blutverschmiert und es bestand für mich kein Zweifel, daß ich dieses Leben auf meinem Gewissen hatte. Panik war in mir ausgebrochen. Hastig war ich von dem staubigen Holzboden aufgestanden. Ich war kurz nach Hause gefahren, hatte, ohne meine schlafende Freundin zu wecken, hastig meine Sachen gepackt und war in Richtung Grenze gefahren.

Kurz nach der Grenze ging mir das Benzin aus und ich ließ den Wagen stehen. Als Schwarzfahrer, Tramper, und Wanderer schlug ich mich zur Küste durch. Wie durch ein Wunder blieb meine Flucht unbemerkt. Ich heuerte als Matrose auf einem Fischtrawler an und verließ ihn in einem mittelamerikanischen Hafen wieder. Ich schlug mich zehn Jahre lang in fast zwei Dutzend Ländern mit fast zwei Dutzend Jobs durch. Ich blieb nirgendwo lange, hatte nie Geld, keine Freunde, hungerte, bettelte, schlief unter Brücken.

Nun hatte ich das Weglaufen satt. Ich wollte die Heimat wiedersehen. Ich wollte wissen, was aus meinen Freunden geworden war. Hatten sie mich vergessen ? Wahrscheinlich, denn wer will einen Mörder gekannt haben oder mit ihm befreundet gewesen sein ? Würden sie mich erkennen, wenn sie mich auf der Strasse treffen würden ? Würden sie mich der Polizei verraten, wenn sie mich erkennen würden? Ich wollte nicht in das Gefängnis. Hatte ich nicht auf meiner Flucht durch die Angst, durch die Namenlosigkeit, durch die Gewissensbisse, durch die verlorenen Jahre die Strafe zehnfach abgebüßt ? Konnte ein Mensch zweimal für den gleichen Fehler bestraft werden ?

Es war eine paradoxe Situation, man durfte mich nicht erkennen, aber ich wollte trotzdem alles wiedersehen, was mir einmal etwas bedeutet hatte. Ich hatte mich verändert. Ich war ein Mann Ende zwanzig mit Bauchansatz gewesen, ständig gut gekleidet und rasiert und als magerer Bettler mit langen Haaren und Vollbart kehrte ich zurück. Dennoch hatte ich Angst, daß mich jemand erkennen könnte. Zur Sicherheit setzte ich eine Sonnenbrille auf.

Ich ging an meiner alten Schule vorbei zu meiner alten Wohnung an der jetzt natürlich ein anderer Name stand. Im Vorgarten wuchsen jetzt Stiefmütterchen und Geranienkästen standen auf den Fenstersimsen. Vom alten Kirschbaum, unter dem ich im Sommer gelegen hatte, war nur noch ein vermoderter Stumpf zu sehen.

Ich ging auf den Friedhof zum Grab meiner Mutter. Ich erschrak: auf dem Grabstein stand auch der Name meines Vaters. Er war zwei Monate nach meiner Flucht gestorben. Ich spürte einen seltsamen Geschmack in meinem Mund. Es war der Geschmack der Schuld, der in mir hochstieg, sich irgendwo in meinem Schädel festsetzte und mich nicht mehr losließ. Hatte ich ihm durch meine Tat das Leben genommen und war somit ein Doppelmörder? Ich verließ den Friedhof und ging zu der Kneipe in der jener verhängnisvolle Vorfall geschehen war. Sie gehörte jetzt einem Griechen. Ich verspürte einen Drang hineinzugehen. Allerdings war dies mit einem großen Risiko verbunden. Was, wenn ich jetzt erkannt würde ? Blieb mir nach der harten und entbehrungsreichen Flucht, nach der zehnjährigen Verbannung aus meiner Heimat, nach einem so plötzlich zerstörten Leben nun nicht einmal das Gefängnis erspart ? Während ich noch zögerte, geschah es. Die unvermeidliche Katastrophe. Ich war erkannt worden. Eine Stimme drang durch die Glastür aus der Kneipe.

Ich erschrak, als ich meinen Namen hörte. Das erste Mal seit zehn Jahren meinen richtigen Namen. Ich fröstelte, obwohl es schwül war. Ich wollte wegrennen, aber meine Beine verweigerten den Gehorsam. Die Situation, die mir in meinen Alpträumen erschienen war. Jetzt hatten sie mich. Sie würden mich abführen. Sie würden mich verhören. Sie würden mich einsperren. In einen dunklen Kerker. Hilflos ergab ich mich dem unvermeidlichen Schicksal. Ich bereute es, zurückgekehrt zu sein. Zu spät.

Aber es kam anders. "Lauf jetzt nicht weg", erkannte ich die Stimme eines alten Freundes, "zehn Jahre haben wir dich gesucht, um dir zu sagen, daß du unschuldig bist." Er erzählte mir, daß der Mann damals durch einen Schlag auf den Kopf getötet worden war. Ich konnte ihn also nicht mit dem Messer erstochen haben. Der Täter hatte tags darauf gestanden, während ich ebenso spektakulär wie kopflos geflüchtet war. Zehn Jahre meines Lebens war ich vor einem Phantom geflohen.

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