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Ein Frühlingsmärchen
Im Zwiespalt dessen, was gesagt werden darf und unausgesprochen bleiben
muß, liegen Augenblicke die unaussprechlich sind.
Soll Unausgesprochenes verhallen, wie ein kurzer, lauter Ruf, sodaß für
den Moment das Echo noch erfreut?
Oder liegt die Wahrheit im Schweigen, da obhin Gefahr besteht eine
zerstörerische Lawine auszulösen?
So steh ich nun in der mir eignen Schlucht und harrer meiner
Entscheidung.
Die Augen gen Himmel erscheint der ach so unereichbare Gipfel.
Unerreichbar nicht nur er, sondern gleich der Weg über und über
umwuchert von gar wahrer Pflanzenmacht, blühend in den mannigfaltigsten
Farben des Regenbogens.
"Was lassen", spricht die majestetische Eiche, wohlweislich ihrer
uralten Weisheit.
"Was tun", spricht die Narzisse wissend ihrer Endlichkeit.
"Schon viele Lawinen habe ich erlebt und nicht eine konnte mich
stürtzen. Ein Blatt mal hier, ein Ast mal dort, so weiß ich sicher, daß
Ast wie Blatt alsbald wieder sein werden", intoniert die Eiche stolz.
"Doch wehe einem kleinen Steinchen der fallend meinen Kelch erdrückt, so
habe ich doch nur den einen und diesen nur für kurze Zeit", erwiedert
flüsternd die Narzisse.
Der mächtige Wind läßt das unzählbare Blattwerk wogen wie die grüne See:
"Gräm dich nicht ob deiner unabwendbaren Vergänglichkeit. Das Schöne
verweilt viel länger als ein Leben von unmeßlicher Dauer. So kenn die
Zahl der mir erschienenen Sommer ich schon lang nicht mehr. Erlebte
Sonnenuntergänge verblassen in der Häufigkeit des Sehens. Tief reichen
meine Wurzeln, so daß ich der Erde gar nahe bin und hoch streben meine
Äste, daß sie Himmelswolken teilen. Doch ach wie unscheinbar erscheint
doch meine Macht und deren Unvergänglichkeit, betrachte ich dann dich.
So klein und so vergänglich. Und eben dies ist es, was dich wunderschön
und unvergesslich macht. Ach wie häufig sehe ich vorüberziehend
Menschen, die alsbald verharren, um die deinige Farbenpracht zu loben.
Was nützt mir all mein Wissen, wer zählt die vielen Jahre, wenn das was
du hervorrufst doch erst verblaßt, wenn der Träger der Erinnerung vom
Angesicht der Erde scheidet."
Im Nachhall dieser Worte wende ich mich ab.
Doch wo mein Blick auch weilt steht immerda der Gipfel stets.
Wem soll ich Glauben schenken, wem eifern nach? Was erfüllt die Seele:
Die Unsterblichkeit eines geruhsamen Lebens oder das Wunderbare der
Vergänglichkeit?
Wie lange ich schon grüble kann ich nicht mehr sagen.
Die Worte der Eiche sind längst verhallt, die Farben der Narzisse längst
verblaßt.
Keine Lawine hat mich mitgerissen und kein Echo kann mich noch mehr
erfreuen.
Was tun, was lassen und wenn dann wie und wo?
So steh ich hier noch immer. Schaue auf den Gipfel der über den Wolken
glänzt, wie seine eigene Sonne und hoffe, daß eine Lawine den
unüberwindbaren Weg mir räumt oder gar ein Echo mir ein Gässchen bahnt.
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