© der Geschichte: Carsten Rosenstolz. Nicht unerlaubt
vervielfältigen oder anderswo veröffentlichen. Alle Rechte
dieses Werkes liegen bei dem Autor. Diesen Disclaimer bitte
nicht entfernen


Ein Frühlingsmärchen

Im Zwiespalt dessen, was gesagt werden darf und unausgesprochen bleiben muß, liegen Augenblicke die unaussprechlich sind.
Soll Unausgesprochenes verhallen, wie ein kurzer, lauter Ruf, sodaß für den Moment das Echo noch erfreut?
Oder liegt die Wahrheit im Schweigen, da obhin Gefahr besteht eine zerstörerische Lawine auszulösen?

So steh ich nun in der mir eignen Schlucht und harrer meiner Entscheidung.
Die Augen gen Himmel erscheint der ach so unereichbare Gipfel. Unerreichbar nicht nur er, sondern gleich der Weg über und über umwuchert von gar wahrer Pflanzenmacht, blühend in den mannigfaltigsten Farben des Regenbogens.

"Was lassen", spricht die majestetische Eiche, wohlweislich ihrer uralten Weisheit.
"Was tun", spricht die Narzisse wissend ihrer Endlichkeit.

"Schon viele Lawinen habe ich erlebt und nicht eine konnte mich stürtzen. Ein Blatt mal hier, ein Ast mal dort, so weiß ich sicher, daß Ast wie Blatt alsbald wieder sein werden", intoniert die Eiche stolz.

"Doch wehe einem kleinen Steinchen der fallend meinen Kelch erdrückt, so habe ich doch nur den einen und diesen nur für kurze Zeit", erwiedert flüsternd die Narzisse.

Der mächtige Wind läßt das unzählbare Blattwerk wogen wie die grüne See: "Gräm dich nicht ob deiner unabwendbaren Vergänglichkeit. Das Schöne verweilt viel länger als ein Leben von unmeßlicher Dauer. So kenn die Zahl der mir erschienenen Sommer ich schon lang nicht mehr. Erlebte Sonnenuntergänge verblassen in der Häufigkeit des Sehens. Tief reichen meine Wurzeln, so daß ich der Erde gar nahe bin und hoch streben meine Äste, daß sie Himmelswolken teilen. Doch ach wie unscheinbar erscheint doch meine Macht und deren Unvergänglichkeit, betrachte ich dann dich.
So klein und so vergänglich. Und eben dies ist es, was dich wunderschön und unvergesslich macht. Ach wie häufig sehe ich vorüberziehend Menschen, die alsbald verharren, um die deinige Farbenpracht zu loben.
Was nützt mir all mein Wissen, wer zählt die vielen Jahre, wenn das was du hervorrufst doch erst verblaßt, wenn der Träger der Erinnerung vom Angesicht der Erde scheidet."

Im Nachhall dieser Worte wende ich mich ab.
Doch wo mein Blick auch weilt steht immerda der Gipfel stets.
Wem soll ich Glauben schenken, wem eifern nach? Was erfüllt die Seele:
Die Unsterblichkeit eines geruhsamen Lebens oder das Wunderbare der Vergänglichkeit?

Wie lange ich schon grüble kann ich nicht mehr sagen.
Die Worte der Eiche sind längst verhallt, die Farben der Narzisse längst verblaßt.

Keine Lawine hat mich mitgerissen und kein Echo kann mich noch mehr erfreuen.

Was tun, was lassen und wenn dann wie und wo?
So steh ich hier noch immer. Schaue auf den Gipfel der über den Wolken glänzt, wie seine eigene Sonne und hoffe, daß eine Lawine den unüberwindbaren Weg mir räumt oder gar ein Echo mir ein Gässchen bahnt.

zurück