© der Geschichte: Alessandra Mancinelli. Nicht unerlaubt
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Frau Helenes Papierkopf (oder ihr einziges Gedicht)

Helene steigt die Treppe hinunter, in ihrer Hand hält sie ein Stück Papier. Das Licht im Hausflur macht sie nicht an, sie kennt sich hier aus, wie auswendig gelernt. Vor Adolf Schwalfenbergs Tür bleibt sie stehen und lauscht und hört nichts. Ihr nackter Fuß tastet nach den Schuhen. Sie passen ihr nicht, aber sie hebt sie auf und riecht an ihnen, wie jede Nacht.
Die Tür geht auf, Schwalfenberg steht im Dunkeln vor ihr. Er atmet hörbar, sie sagt, rote Milch, und lässt die Schuhe vor seine Füße fallen. Gehen Sie schlafen, Frau Helene, sagt Schwalfenberg. Helene geht an ihm vorbei, sie zählt die Schritte bis zur Küche und setzt sich auf einen Stuhl. Schwalfenberg folgt ihr und knipst das Licht an. Sie schreien, sagt sie und wackelt mit dem Kopf. Sie sind tot, sagt Schwalfenberg müde, schon lange. Butterblumen sind rot, antwortet sie und steht auf. Ich weiß, sagt der Alte leise und schiebt Helene zur Tür hinaus.
Helene ist noch nicht fertig, sie setzt ihren Abgang fort. Das Licht im Hausflur lässt sie aus und bleibt vor einer anderen Türe stehen. Ihr Fuß tastet, findet die Schuhe. Mit dem Papier in der Hand beugt sie sich hinunter und steckt es in den rechten Schuh. Sie drückt es bis in die Spitzen. Beruhigt wackelt sie mit dem Kopf und lehnt sich an den Türrahmen. Hier schnalzt sie mit der Zunge. Sie schnalzt, bis ihr der Mund trocken wird. Dann sagt sie den Stimmen heiser, die Milch schreit, wie jede Nacht. Schließlich hält sie sich die Ohren zu und stößt sich vom Holzrahmen ab. Bevor sie weiter geht, geht sie in die Knie, fummelt den Zettel aus dem Schuh und riecht an ihm. Lange bleibt sie so stehen.
Dann steigt sie hinunter in das Erdgeschoss und lauscht vor Frau Meyers Tür. Nichts, wie jede Nacht. Ihr Fuß tastet, findet einen Karton, sie stutzt und ihr Kopf hört auf zu wackeln. Nichts. Ihr Fuß tastet wie irrsinnig umher. Keine Schuhe. Helene jammert, bis die Tür vor ihr aufgeht. Das Licht aus der Wohnung strahlt sie an und ist neu.
Frau Meyer steht nicht vor ihr. Nicht Frau Meyer. Jemand schreit sie an und sie schreit zurück.

Immer noch krampft sich Helenes Hand um das Papier. Der Arzt gibt nicht auf, er wendet Gewalt an.
Schwalfenberg steht neben ihm und schüttelt den Kopf. Vorsichtig nimmt er Helenes Hand, streichelt über die Pergamenthaut und nimmt den Zettel an sich. Er geht die Stufen hinauf.
In seiner Wohnung angekommen, setzt er sich in die Küche und faltet das Papier auseinander:

Schreie Milch
auf diesem Feld
rote Milch
färbt Butterblumen
Milch
wie Stahl
im Körper
Milch schreit
schieß endlich.

Die Kühe sind tot, schon lange, murmelt er vor sich hin.

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